# taz.de -- Die egalitäre Kraft der Stadtnatur: Freiheit, Gleichheit, Löwenza… | |
> Ein neues EU-Gesetz könnte verbieten, dass mehr Flächen in Städten | |
> zubetoniert werden. Denn urbanes Grün ist kein Bullerbü-Projekt. Es | |
> rettet Leben. | |
Bild: Blüht für alle: der Löwenzahn im Asphalt | |
Die Welt wird besser! Oder wenigstens darf sie stückchenweise nicht | |
schlechter werden. Denn auf das „Erfordernis der Nichtverschlechterung“ hat | |
sich das EU-Parlament [1][mit dem Renaturierungsgesetz] geeinigt. | |
Mitgliedstaaten verpflichten sich, die Zerstörung der innereuropäischen | |
Meeres- und Landflächen aufzuhalten und stattdessen [2][hart an ihrer | |
Wiederherstellun]g zu arbeiten. [3][Flussläufe] sollen befreit, Vogel- und | |
Insektenbestände geschützt und [4][Torfmoore] wieder durchnässt werden. | |
Umweltverbände jubeln. | |
Weniger Aufmerksamkeit bekam der Umstand, dass sogar Städte ihre eigenen | |
Schutzvorgaben bekommen. Bis 2030 dürfen dort netto keine Grünflächen mehr | |
abgebaut werden – wird also an einer Stelle ein Grasstreifen bebaut, muss | |
an anderer Stelle ein Parkplatz zur Wiese werden. | |
Nach 2030 soll der Grünanteil dann nicht nur gleich bleiben, sondern sogar | |
wachsen. Wenn die EU-Gremien die Details festzurren und die Verordnung | |
damit in Kraft tritt, ist sie ein Durchbruch. Auch auf sozialer Ebene. Die | |
Entscheidung, wie viel Grün es in einer Stadt gibt, ist nämlich keine | |
ästhetische Frage für die Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Fraktion. | |
Stadtnatur hat eine egalitäre Kraft. Sie ist ein machtvoller | |
Nachteilsausgleich, von der besonders arme Bewohner*innen profitieren. | |
## Grün macht gesünder | |
Dass Städte auf Dauer mehr statt weniger Natur brauchen, ist bislang kein | |
Konsens in der deutschen Verkehrs- und Städteplanung. Dabei bestätigen | |
ganze Studienberge die Vorteile: Mehr mentale Gesundheit, dafür weniger | |
Asthma, Frühgeburten und Herzerkrankungen. Fast alles, was uns umbringt, | |
wird durch städtische Grünanlagen weniger. | |
Trotzdem sind die verbliebenen Grünflächen in deutschen Städten hart | |
umkämpft: Von Osnabrücks grünen Fingern bis zu Berlins einstigem Flughafen | |
Tempelhof – immer wieder kursieren Bebauungspläne für Parks. In München | |
wurde der Erhalt der letzten Grünflächen gerade mit einem Bürgerbegehren | |
erstritten. In der Stadt sind allein die Verkehrsflächen seit den 1990ern | |
um mehr als 20 Prozent gewachsen. | |
Wer versucht an diesen Zuständen etwas zu ändern, muss sich schnell | |
erklären lassen, dass Berlin nicht Bullerbü sei, wie es der neue Regierende | |
Bügermeister Berlins gleich [5][in seiner ersten Regierungserklärung] | |
klarmachte. | |
Als wäre schon der Wunsch nach Blumen und Bienen völlig fehl am Platz, wenn | |
man sich nun mal entschlossen hat, zwischen Asphalt und Autos zu leben, | |
wofür es ja auch durchaus andere Gründe gibt – Infrastruktur, Arbeitsplatz, | |
Kultur und andere kognitive Anregung. Überhaupt gilt die Forderung nach | |
Stadtnatur ziemlich oft als Hobbyprojekt reicher Bürgerkinder: zugezogene | |
Schwaben, die die Großstadt nicht verstünden! Idylle suchende | |
Akademiker-Eltern, die der hart arbeitenden Krankenschwester mit ihrem | |
Kräuterbeet den Parkplatz verwehren! | |
## Erholungsräume für Marginalisierte | |
Neueste Forschung legt jetzt ganz andere Schlüsse nahe. Eine [6][aktuelle | |
Studienübersicht] zeigt: Von urbanen Grünflächen profitieren vor allem | |
Menschen mit geringem Einkommen, zusammen mit anderen, die im Stadtleben | |
benachteiligt sind. Die Analyse kombiniert die Ergebnisse von 90 Studien | |
und stützt sich dabei auf sehr robuste Forschungsergebnisse. | |
Eine [7][niederländische Studie etwa], die 200.000 Fragebögen mit | |
Landschaftskarten abgleicht und die größten grünen Gesundheitseffekte bei | |
Kindern, Älteren und Geringverdienern findet. Laut den [8][Daten des | |
englischen Zensus] profitieren vom Grün sogar ausschließlich die urbanen | |
Nachbarschaften mit niedrigem Einkommen. | |
Der Blick auf die gesammelten britischen Sterberegister verrät, wie stark | |
Grünflächen die Gesundheitsunterschiede zwischen gesellschaftlichen | |
Schichten angleichen, geschätzt retten sie jährlich 1.328 Leben. Auch im | |
internationalen Vergleich zeigt die Studienübersicht: Je ärmer das Land, | |
desto wichtiger die Bedeutung naturbelassener Flächen. | |
Das Muster macht Sinn, wenn man sich die vermuteten Ursachen für die | |
Grüneffekte anguckt. Sie gelten als Puffer für Lärm, Luftverschmutzung, | |
Hitze und Vitamin-D-Mangel – alles Gefahren, die in benachteiligten | |
Stadtvierteln und Bevölkerungsgruppen besonders präsent sind, und gerade | |
bei denjenigen, die am Wochenende nicht einfach rausfahren können. | |
Denn Zeit im Grünen senkt Blutdruck, Entzündungsmarker und | |
Stresshormonlevel und dämpft so einen Teil der schädlichen Auswirkungen | |
von chronischem Stress – einer der aggressivste Wege, auf dem Armut krank | |
macht. Das Stadtleben mit seinem permanenten Input setzt diesem Stress noch | |
weiteren Druck auf: nonstop Begegnungen und Geräusche einordnen, sich | |
umgucken, damit einen die anderen Verkehrsteilnehmern nicht überfahren, und | |
vieles mehr. | |
Im Endeffekt braucht es natürliche Erholungsräume also nicht obwohl, | |
sondern weil Menschen dicht gedrängt auf Asphalt leben. Umso besser, wenn | |
die EU mit der Vorstellung der Stadt als selbstgewähltes Grau endlich | |
aufräumt. Stadtnatur ist kein Privilegienprojekt, sondern ein | |
Ungerechtigkeitsausgleich. | |
Equigenesis nennt sich die Art von Städteplanung, die versucht | |
Umweltfaktoren zu identifizieren, die Ungleichheit – mitunter wortwörtlich | |
– zementieren, sie umzustrukturieren und auf diesem Weg die | |
gesundheitlichen Spielbedingungen anzugleichen. Grünflächen sind eines | |
ihrer wirksamsten Mittel. | |
Bleibt nur die Frage, was die unterschiedlichen Gesundheitseffekte wirklich | |
begründet. Könnte es sein, dass es an anderen Faktoren liegt, die mit | |
grünen Nachbarschaften zusammenfallen? Dass sie einfach allgemein | |
ordentlicher sind? Oder lebendiger? | |
Um das herauszufinden, haben sich Forschende europaweit [9][eine ganze | |
Menge an Einflussfaktoren angeschaut] – Müllabfuhr, ÖPNV, Post- und | |
Bankservice, Kinos und Kultur. Aber kein Faktor konnte den | |
Stressunterschied zwischen Arm und Reich so stark angleichen wie urbanes | |
Grün, nämlich um 40 Prozent. Dabei ging es nicht um passives Grün wie | |
Blumenkästen und Fassadenbegrünungen, sondern um Fläche, die auch wirklich | |
genutzt wird, Parks vor allem. Ärmere Stadtbewohner*innen profitieren | |
im Gegensatz zu Reicheren gesundheitlich selbst noch von Parks, die in zwei | |
Kilometer Entfernung liegen. Weil sie hingehen. | |
[10][Daten von 400.000 Niederländer*innen] zeigen, dass Parkanlagen | |
als Treffpunkte soziale Unterstützung verstärken, also einen Schutz vor | |
Einsamkeit bieten. Auch hier fand sich der stärkste Effekt bei | |
Geringverdienenden, Älteren und Kindern. In den USA sind es vor allem | |
Schwarze Communitys, die Parks zum sozialen Austausch nutzen. | |
## Es geht um Bewegungsfreiräume | |
Damit das funktioniert, muss Geld investiert werden, um Parks sauber, grün | |
und spannend zu halten. Denn auch das findet sich zwischen den positiven | |
Ergebnissen: Grünflächen, die in ärmeren Vierteln weitaus schlechter | |
gepflegt und im Gegenzug weniger genutzt werden. Oder solche, die von | |
vorneherein nur in wohlhabenden Gegenden geplant werden. Die Vorgabe, dass | |
es keinen Nettoverlust von Grünflächen geben darf, kann nicht heißen, dass | |
in Villenvierteln Beton aufgebrochen wird, während man diejenigen, die | |
Natur am dringendsten brauchen, zubetoniert. | |
Aus der Forschung können Stadtplaner*innen auch ableiten, wie | |
Stadtnatur gestaltet werden muss, um ihr egalitäres Potenzial zu entfalten. | |
Es reicht nicht, Straßenzüge zu begrünen für Kühlung und Luftqualität. Es | |
geht um Bewegungsfreiräume. | |
Parks, die niedrigschwellig und umsonst von Leuten genutzt werden können, | |
die andere Kulturangebote offenbar schwerer erreichen. Dafür braucht es | |
Wege, die auch mit Rollator funktionieren, Spielräume für Kinder. Und die | |
Sitzgelegenheiten für Zusammenkünfte sollten idealerweise solche sein, für | |
die man keinen Cappuccino konsumieren muss. | |
22 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Schutz-der-Natur-in-Europa/!5943645 | |
[2] /Streit-um-Renaturierung/!5944684 | |
[3] /Wasserkraft-in-Bosnien/!5942738 | |
[4] /Moore-gegen-den-Klimawandel/!5934141 | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=wJgLy19KlIo | |
[6] https://www.mdpi.com/1660-4601/18/5/2563 | |
[7] https://jech.bmj.com/content/60/7/587 | |
[8] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17630365/ | |
[9] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0749379715000410 | |
[10] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1353829208001172 | |
## AUTOREN | |
Franca Parianen | |
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