# taz.de -- Selbstbestimmt leben: Die Rechte von Frauen stärken | |
> Gewaltschutz, Familie und sexuelle und reproduktive Rechte: Die | |
> Ampelkoalition verspricht Fortschritt, es öffnet sich ein Raum für | |
> Utopie. | |
Bild: Demonstrantinnen auf der Frauentagsdemo in Berlin am 8. März 2021 | |
Progressive Ideen hatten in den vergangenen 16 Jahren keine Konjunktur. | |
Konservativ, wie die unionsgeführten Regierungen waren, ging es darum, | |
mitunter auch mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, was man für | |
bewahrenswert hielt. Wenn überhaupt, ging es träge voran. Zukunftsweisend, | |
utopisch gar? Daran war nicht zu denken. | |
Nun will die neue Bundesregierung in der Frauen- und Familienpolitik große | |
Schritte vorangehen. Zum Teil sind es Vorhaben, die überwältigend | |
naheliegend wirken, lange aber unerreichbar schienen: Das | |
Transsexuellengesetz soll abgeschafft werden, [1][Paragraf 219a] ebenso. | |
Zudem sollen die Istanbulkonvention gegen Gewalt gegen Frauen umgesetzt, | |
eine Kindergrundsicherung eingeführt, Geburten sicherer gemacht werden. | |
Huch – es ist ja möglich, Geschlechterpolitik zu machen! Es ist möglich, | |
aktiv zu werden, auch und gerade in der parlamentarischen Politik. | |
Der Impuls, in dieser Erleichterung innezuhalten, ist aber schon insofern | |
falsch, als in den Plänen der Ampel viel Spielraum besteht. Es ist nicht | |
gesagt, dass das, was im besten Fall zu hoffen ist, auch umgesetzt wird. | |
Aber aus der Zivilgesellschaft heraus auszubuchstabieren und einzufordern, | |
was im Koalitionsprogramm skizziert ist, ist mit neuem Elan machbar. | |
So öffnet sich der Raum des Utopischen: Nicht nur für den Mindeststandard | |
kämpfen zu müssen, sondern frei darüber nachdenken zu können, was wäre, | |
wenn – das ist nun neu möglich. Ausgehend von Ideen des Koalitionsvertrags | |
hier also einige Gedanken, wohin es in Zukunft gehen könnte, wenn wir über | |
Gewaltschutz, Familie und sexuelle und reproduktive Rechte sprechen. | |
## Gewaltschutz | |
Hierzulande gilt wie in den meisten europäischen Staaten die | |
Istanbulkonvention, ein Abkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt | |
gegen Frauen von 2011. Die Türkei ist wieder ausgetreten, auch Polen hat | |
das vor. Die Groko stellte sich auf den Standpunkt, die Konvention sei in | |
Deutschland bereits umgesetzt – auch wenn die Fakten eine andere Sprache | |
sprechen. | |
Öfter als jeden dritten Tag wird hierzulande eine Frau von ihrem Partner | |
oder Ex-Partner getötet. 80 Prozent der Opfer von Partnerschaftsgewalt sind | |
Frauen. Fast ein Viertel der Mädchen zwischen 16 und 18 Jahren haben einen | |
Vergewaltigungsversuch erlebt. Die Dunkelziffer bei alldem ist immens. | |
Fast 54 Milliarden Euro, so eine aktuelle Studie des Europäischen Instituts | |
für Gleichstellungsfragen, kostet Gewalt gegen Frauen die Bundesrepublik | |
jährlich. Unterstützungsleistungen wie Frauenhäuser betreffen davon nur | |
einen winzigen Bruchteil. Vielmehr geht es um den Ausfall von Arbeit, | |
Kosten im Justiz- und Gesundheitssystem, Sozialleistungen und psychosoziale | |
Folgen. Gewalt gegen Frauen ist eine Epidemie. | |
Nun kündigt die Ampel eine kleine Revolution an: Sie will die | |
Istanbulkonvention „vorbehaltlos und wirksam“ umsetzen. Was genau das | |
bedeutet, ist nicht definiert – ebenso wenig die Kosten. Wahrscheinlich | |
wäre nun Folgendes: Die neue Bundesregierung gibt die „Vorbehalte“ der | |
bisherigen gegen einzelne Artikel der Konvention auf, etwa hinsichtlich des | |
Gewaltschutzes für Migrantinnen. „Wirksam“ wiederum könnte bedeuten: der | |
Bund steigt wie versprochen in die Finanzierung von Frauenhäusern ein. | |
Beides ist nötig. | |
Doch um die Istanbulkonvention „vorbehaltlos und wirksam“ umzusetzen, | |
müssten rund 14.000 Plätze in Frauenhäusern geschaffen werden, so viele | |
fehlen laut Konvention in Deutschland. Alle Betroffenen müssten schnell und | |
diskriminierungsfrei Unterstützung finden. Ein flächendeckendes, gut | |
ausgebautes und sicher finanziertes Unterstützungssystem müsste vorhanden | |
sein. Es müsste Fortbildungen in Medizin, Justiz, Polizei und Sozialarbeit | |
geben. Stark gefährdete Frauen bekämen schnell und koordiniert Hilfe, um | |
Femizide zu verhindern. Geschlechtsspezifische Gewalt würde als | |
Verantwortung aller begriffen und nicht länger als individuelles Problem | |
betrachtet, sondern als Menschenrechtsverletzung. Das muss das Ziel sein. | |
## Familie | |
Familie, das war bis vor nicht allzu langer Zeit Vater, Mutter, Kind. | |
Dieses Ideal der heterosexuellen Kleinfamilie, das Mütter tendenziell der | |
häuslichen Sphäre zuweist, wirkt fort. Auf juristischer Ebene brach es in | |
den vergangenen Jahren langsam auf, vor allem durch die Ehe für alle. | |
Die Ampelkoalition plant nun, Familie juristisch auf den Stand zu bringen, | |
auf dem sie gesellschaftlich längst ist: Familie ist „überall dort, wo | |
Menschen Verantwortung füreinander übernehmen“, heißt es im | |
Koalitionsvertrag. Das Familien- und Abstammungsrecht soll modernisiert | |
werden, soziale Eltern sollen das kleine Sorgerecht bekommen können. Eine | |
zweiwöchige bezahlte Freistellung für Partner:innen rund um die Geburt | |
hat Familienministerin Anne Spiegel angekündigt, auch bei Fehlgeburten soll | |
diese möglich sein. Die Kindergrundsicherung soll Kinder aus der Armut | |
holen. | |
All das wäre ein enormer Fortschritt. Diskutiert werden muss aber die | |
Zielvorstellung. „Ziel der Gleichstellungs- und Familienpolitik“ nämlich | |
sei eine „höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen“, heißt es im Vertrag. | |
Allerdings ohne eine Idee zu formulieren, wie Sorgearbeit umverteilt werden | |
kann, obwohl Frauen vor allem in heterosexuellen Beziehungen und | |
Ein-Eltern-Familien unter chronischer Doppelbelastung leiden. | |
Vereinbarkeit heißt nicht, dass alle immer mehr arbeiten und gemeinsam | |
ausbrennen, sondern Erwerbs- und Sorgearbeit so zu gestalten, dass | |
befriedigende Teilhabe für alle möglich ist. Zunehmende Erwerbsarbeit von | |
Frauen könnte etwa mit einer vergleichbar abnehmenden von Männern | |
einhergehen, mit familienfreundlichen Arbeitszeiten, etwa durch allgemeine | |
Reduktion der 40-Stunden-Woche, einer guten Infrastruktur für | |
Kinderbetreuung und der Unterstützung alternativer Wohnformen. Und zentral: | |
mit der Entwicklung eines neuen, erweiterten Begriffs von Arbeit und Care. | |
Care-Arbeiten sind lebensnotwendige Tätigkeiten, ohne die Gesellschaften | |
nicht existenzfähig sind. Dennoch wird Care bislang abgewertet. Das | |
Gegenteil muss der Fall sein – auch, um nicht alle Tätigkeiten zu | |
monetarisieren, die Care betreffen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass | |
Partner:innen, vor allem männliche, mehr Hausarbeit, Kinderbetreuung und | |
Care übernehmen. Dafür müssen wir Arbeit, ihre Formen und Bedingungen | |
diskutieren und die Unwucht auflösen, die zwischen den Geschlechtern | |
besteht. | |
## Sexuelle und reproduktive Rechte | |
Sexuelle und reproduktive Rechte ist ein etwas sperriger Begriff, der, | |
anders als etwa in den USA, hierzulande noch nicht im Mainstream angekommen | |
ist. Worum es geht, ist aber sehr konkret: um Menschenrechte im | |
Zusammenhang mit Sexualität, Verhütung, Schwangerschaft, Geburt und | |
Elternschaft. | |
Die Ampel kündigt an, die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen | |
und LGBTI stärken zu wollen – ein Meilenstein. Konkret bedeutet das: Der | |
Paragraf 219a wird gestrichen, das Informationsverbot für | |
Schwangerschaftsabbrüche. In Bezug auf den Paragrafen 218, der Abbrüche | |
illegalisiert, soll eine Kommission erörtern, wie Abbrüche außerhalb des | |
Strafgesetzbuchs geregelt werden können. Verhütung soll für arme Menschen | |
kostenfrei sein, Geburten sollen sicherer gemacht werden. Änderungen des | |
Geschlechtseintrags im Personenstand sollen per Selbstauskunft möglich | |
sein. | |
Das ist viel. Was jenseits dessen allerdings noch möglich ist, ist immens. | |
In Kanada etwa sind Schwangerschaftsabbrüche seit rund 30 Jahren keine | |
Straftat mehr, sondern werden als das anerkannt, was sie sind: eine | |
Gesundheitsleistung, die Frauenleben rettet. Würden reproduktive Rechte | |
ernst genommen, gäbe es zudem nicht nur eine 1:1-Betreuung durch Hebammen, | |
sondern auch eine Aufwertung ihrer Arbeit. Keine Hebamme müsste drei oder | |
mehr Frauen unter der Geburt gleichzeitig betreuen und um deren Gesundheit | |
und Leben fürchten. Es gäbe einen Kulturwandel in der Geburtshilfe, hin zu | |
würdevollen, gut ausgestatteten Geburten, die Frau und Kind in den | |
Mittelpunkt stellen. | |
Man könnte – gewagt, gewagt – noch weiter gehen: hin zu einem Konzept | |
namens reproduktive Gerechtigkeit. Das bringt reproduktive Rechte mit | |
sozialer Gerechtigkeit zusammen. Im Mittelpunkt stehen dabei: das Recht, | |
Kinder zu bekommen, das Recht, keine Kinder zu bekommen, und das Recht, | |
Kinder selbstbestimmt, unter guten sozialen, ökologischen und | |
gesundheitlichen Bedingungen aufziehen zu können. Dafür braucht es unter | |
anderem eine rassismuskritische Gesundheitsversorgung, die nicht nach | |
Effizienzkriterien arbeitet, bezahlbaren Wohnraum und eine Umverteilung von | |
Vermögen. | |
Reproduktive Gerechtigkeit würde Menschen im sexuellen und reproduktiven | |
Bereich stärken und zugleich enorme Auswirkungen in Bezug auf Lohnarbeit, | |
Gender Pay Gap, Gleichstellung und Care haben. Es wäre ein | |
Paradigmenwechsel hin zu einem selbstbestimmten Leben. | |
Gewaltfreiheit, Familie sowie sexuelle und reproduktive Rechte sind keine | |
voneinander getrennten Bereiche. Sie hängen zusammen, zum Teil bedingen sie | |
sich gegenseitig. Es lohnt sich, sie als großes Ganzes zu denken. Was die | |
Ampel ankündigt, sind überfällige Justierungen – aber es braucht mehr. Man | |
könnte sagen: All das, was in diesem Text angerissen wurde, fehlt im | |
Koalitionsvertrag. Als Utopie formuliert klingt es schöner: Die | |
Perspektive, dass all das möglich ist, erscheint am Horizont. | |
31 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Anne-Spiegel-ueber-Ampelplaene/!5821001 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
## TAGS | |
Frauen | |
Feminismus | |
Familienpolitik | |
GNS | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Gewalt gegen Frauen | |
Feminismus | |
Schwerpunkt Femizide | |
Frauenhäuser | |
Gender | |
Schwerpunkt Femizide | |
Schwerpunkt Femizide | |
Paragraf 218 | |
Kristina Hänel | |
Türkei | |
IG | |
Familienpolitik | |
Ampel-Koalition | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Abschaffung des Paragraf 219a: Das Patriarchat muss einstecken | |
Der Bundestag berät den Gesetzentwurf zur Aufhebung des Paragrafen 219a. | |
Von der Linken kommt Zustimmung, die Opposition zeigt sich empört. | |
Zum Frauentag am 8. März in Berlin: Frauen kommen zu kurz | |
Gute Nachrichten zum Frauentag bezüglich Geld für Frauenzentren und | |
-projekte und zum 8. Frauenhaus. Oder sind die gar nicht so gut? | |
Geschlechterrollen in der Pandemie: Care-Arbeit bleibt Frauensache | |
Eine neue Studie zeigt, dass Corona nur kurz an traditionellen | |
Geschlechterrollen rüttelte. Männer sind schnell wieder „in alte Muster | |
verfallen“. | |
Geplante Studie: Ein Frauenmord ist ein Femizid | |
Eine groß angelegte Studie zu Femiziden ist überfällig. Es ist nötig, die | |
Hintergründe von männlicher Macht und Lebensumständen zu erforschen. | |
Aus- und Umbau von Frauenhäusern: Auf dem Trockenen | |
Das Bundesfamilienministerium stellt für Frauenhäuser 150 Millionen Euro | |
bereit. Doch Verbände und Vereine kritisieren: Das Geld kommt nicht an. | |
Care-Arbeit in Coronazeiten: Auffällig unauffällig | |
Die Familienministerin hat hohe Erwartungen in Sachen familienpolitischer | |
Modernisierung geweckt. Doch ein grünes Genderparadies ist nicht in Sicht. | |
Tötungen von Mädchen und Frauen: Studie zu Femiziden startet | |
Bislang gibt es in Deutschland keine Daten zu Femiziden. Forscher:innen | |
wollen nun Taten, Motive und Rechtsprechung untersuchen. | |
Schutz für Frauen in Schleswig-Holstein: Mit Vernetzung gegen Femizide | |
Der Informationsaustausch zwischen Polizei und Beratungsstellen wird | |
vereinfacht. Durch Gewalt gefährdete Frauen sollen besser geschützt werden. | |
Streichung des Paragrafen 219a: … und jetzt weg mit 218! | |
Die Regierung hat das Informationsverbot für Abtreibung gekippt. Gut so! | |
Nur am umstrittenen Paragrafen 218 hält sie weiter fest. | |
Streichung des Paragrafen 219a: Der lange Weg zur Abschaffung | |
Justizminister Marco Buschmann präsentiert den Gesetzentwurf zur Streichung | |
des Paragrafen 219a. Die Union zweifelt an der Rechtmäßigkeit. | |
Türkischer Autor in Griechenland: Sevan Nişanyan droht Abschiebung | |
Der türkisch-armenische Publizist Sevan Nişanyan könnte aus Griechenland | |
ausgewiesen werden. Ein Grund wird offiziell nicht genannt. | |
Anne Spiegel über Ampelpläne: „Eine Frage der Haltung“ | |
Die neue Familienministerin will zuerst Paragraf 219a und das | |
Transsexuellengesetz abschaffen. Sie trete nicht an, um einen | |
Beliebtheitspreis zu gewinnen. | |
Familie und Koalitionsvertrag: Vier Eltern und ein Knirps | |
Die Ampel definiert in ihrem Koalitionsvertrag Geschlecht und Familie neu. | |
Frauen und Queers soll der Respekt gezollt werden, der allen zusteht. | |
Programm der Ampel-Koalition: Das haben sie davon | |
178 Seiten dick ist der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Wer | |
profitiert, wer weniger? Von der Rentnerin bis zum Nazi – zehn fiktive | |
Beispiele. |