# taz.de -- Rassismus und die EM 2024: Wir Meister des Selbstbetrugs | |
> Ein Sommermärchen 2.0 soll diese EM werden, wenn es nach dem DFB geht. Da | |
> muss man schon ausblenden, wie viel seit 2006 gesellschaftlich gekippt | |
> ist. | |
Bild: War nicht alles gut so, wie es 2006 war? | |
Sommermärchen. Seit 2006 [1][klebt dieses Wort am deutschen Fußball]. Es | |
steht für einen Sommer des Patriotismus, an dem sich eine ganze Nation | |
berauscht hat – Fußballfans ebenso wie Feuilletonisten. Die Deutschen | |
hatten sich damals selbst überrascht, als „Die Welt zu Gast bei Freunden“ | |
war. Vier Wochen lang waren sie gut drauf, und die Behauptung stand im | |
Raum, dass dieser schwarz-rot-goldene Fahnenvollrausch, der das Land | |
erfasst hatte, etwas vollkommen Unverkrampftes hatte. Auch so ein Wort aus | |
jenem WM-Sommer: unverkrampft. | |
18 Jahre später soll nun wieder alles so werden wie seinerzeit. Philipp | |
Lahm, der Turnierdirektor der anstehenden EM, spricht schon mal vom | |
Sommermärchen 2.0 oder von der „Zeitenwende“. Alles soll gut werden. | |
„Gemeinsam wollen wir die Kraft des Fußball nutzen, um unsere Gesellschaft | |
zu stärken und ein starkes und ein geeintes Europa zu feiern.“ | |
Das ist so ein typischer Lahm-Satz. Ob er an das glaubt, was er bei seinen | |
öffentlichen Auftritten oder seinen Postings bei LinkedIn absondert? Kann | |
schon sein. 2006 war er es, der als junger Nationalspieler im | |
Eröffnungsspiel der WM in München mit seinem Tor zum 1:0 gegen Costa Rica | |
losgetreten hat, was später als die Geburt des unverkrampften Deutschlands | |
besungen wurde. Er war dabei, als aus Fußballbegeisterung ein | |
Nationalrausch wurde. | |
So einen soll es nun wieder geben? Nach der Migrationskrise 2015, [2][nach | |
unzähligen Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte], nach den | |
rassistischen Morden von Hanau, nach dem Aufstieg einer Nazipartei zu einem | |
Mitbewerber um die Macht? Der Hass gegen alles, was nicht schon immer | |
deutsch war, durchdringt auch die Sphären des Fußballs. | |
Dabei gab es ihn auch 2006 schon. Als die NPD einen WM-Planer vorgestellt | |
hat, in dem über dem deutschen Trikot mit der Nummer 25 stand: „Weiß – | |
nicht nur eine Trikotfarbe – Für eine echte NATIONAL-Mannschaft“, war das | |
Entsetzen groß und [3][eine Solidarisierungswelle mit Patrick Owomoyela | |
setzte ein], den Schwarzen Nationalspieler mit der Trikotnummer 25. Der | |
Hass hatte einen Absender, den man adressieren konnte. Das Sommermärchen | |
war schon damals ein Selbstbetrug. | |
Es fiel in eine Zeit, als in der Bundesliga Affenlaute und Beschimpfungen | |
mit dem N-Wort zum Alltag gehörten. Eine Langzeitstudie zeigte eine Zunahme | |
„gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ während des „Sommermärchens“… | |
dass eine gehörige Portion Trotz im vermeintlich lockeren Tanz mit der | |
Deutschlandfahne mitschwang. Der Aufstieg der AfD, er könnte mit dem | |
Sommermärchen begonnen haben. | |
Und knapp zwei Dekaden später? Da schickte sich die deutsche | |
[4][Junioren-Auswahl im November 2023 gerade an, den Titel bei der U17-WM] | |
in Indonesien zu gewinnen, der DFB sendete Bilder von gut gelaunten | |
deutschen Nachwuchskickern via Social Media in die Welt. | |
Was sich nun in den Kommentarspalten abspielte, war ohne Beispiel. Von | |
Stolz auf die deutschen Jugendlichen, die in Zeiten einer der größten | |
Krisen im deutschen Fußball einen WM-Titel für den DFB geholt hatten, war | |
da nichts zu spüren. Unter einem Bild von Charles Herrmann, Almugera Kabar, | |
Paris Brunner und Fayssal Harchaoui, die bis auf Letzteren [5][bei Borussia | |
Dortmund] ausgebildet werden, standen Postings, die an Geschmacklosigkeit | |
nicht zu überbieten waren und deren gemeinsamer Tenor war, dass es sich ja | |
wohl bei den Abgebildeten schwerlich um Deutsche handeln könne. | |
War man da nicht schon einmal weiter? Gab es nicht die Erzählung von der | |
deutschen Internationalmannschaft, die sogar linke Kreuzberger Struppis | |
dazu gebracht hat, sich nichts anderes vorzunehmen, wenn die Deutschen | |
gespielt haben? | |
Ganz so einfach ist es nicht. Die große Erfolgsphase der | |
A-Nationalmannschaft vom Sommermärchen 2006 bis zum Triumph von Rio 2014, | |
als ein bis dato ungewohnt diverses Nationalteam das Land mit geradezu | |
undeutsch schönem Fußball verzückte, fiel zusammen mit der Hochphase der | |
Merkel-Ära. Der populäre Vergleich von Löw und Merkel war meist Blödsinn, | |
und dennoch: Wie Löw und der Kosmopolit Klinsmann den deutschen Fußball | |
öffneten und wie nach 2006 das linksliberale Bürgertum die | |
Fußballkulturszene eroberte, das vertrug sich gut mit dieser Phase | |
relativer Stabilität und Liberalisierung. | |
Auf das neue DFB-Multikulti-Team konnten sich viele einigen. Ja, eine Weile | |
waren die Deutschen sogar bereit, Verlierer zu feiern. Bis noch eine | |
kuriose Gleichzeitigkeit geschah: Herbst 2015, das war der Herbst der | |
sogenannten Flüchtlingskrise, des großen gesellschaftlichen Bruchs. Im | |
Herbst 2015 war es auch, als verdächtige Zahlungen im Vorfeld der | |
WM-Vergabe nach Deutschland auffielen. Von wegen Sommermärchen! | |
Gesellschaft und DFB stolperten seitdem von Krise zu Krise. Steuerskandale, | |
Korruptionsskandale, interne Schlammschlachten waren es beim DFB, | |
sportlicher Misserfolg kam bald dazu. | |
Als 2018 Weltmeister Mesut Özil mit den türkischen Präsidenten Recep Tayyip | |
Erdoğan für ein Foto posierte, brach sich ein rassistischer | |
Ausbürgerungszorn Bahn. Spätestens da warb niemand mehr beim DFB mit | |
Multikulti. Wie in den Jahren danach, als Bierhoff und die „Mannschaft“ zu | |
einem eher halb tauglichen Ziel für Elitenhass wurden. | |
Und in Katar, bei der WM 2022, ging endgültig eine gemeinsame Idee | |
verloren. Die Mund-zu-Geste vor dem ersten Spiel der Auswahl, mit dem das | |
Team irgendwie ausdrücken wollte, dass man sich die Meinung nicht verbieten | |
lassen möchte, ohne wirklich deutlich zu werden beim Thema Menschenrechte, | |
mit der Diskussion über die One-Love-Binde – das war für die einen zu | |
halbgar, für die anderen ekelhaft liberal. In Katar hat Fußballdeutschland | |
jedes Narrativ zu seiner Elf verloren. | |
Und heute? Ja, der Fußball der Gegenwart ist in Teilen progressiver als | |
damals. Dass der [6][FC Bayern mit Vincent Kompany] einen Trainer hat, | |
dessen Vater aus dem Kongo nach Belgien emigriert ist, war bei der | |
Vorstellung des Coachs kein Thema. Und der Kapitän zur Heim-EM heißt İlkay | |
Gündoğan. Für die meisten ist das Normalität, auch wenn 17 Prozent der | |
Deutschen offenbar lieber einen weißen Kapitän hätten, wie [7][eine viel | |
zitierte WDR-Umfrage] kürzlich ergab. Die Anforderungen internationaler | |
Wettbewerbsfähigkeit haben gesiegt, einerseits. Der Traum der Rassisten von | |
„ausländerfreien“ Ligen und Nationalteams ist spektakulär gescheitert. | |
Rassismus ist, andererseits, neoliberaler geworden. Ein Spieler of Color, | |
der Deutschland nützt, wird akzeptiert, vielleicht sogar, wie Jamal | |
Musiala, geliebt. Aber verschießt er einen Elfmeter und hat zuvor bei der | |
Nationalhymne nicht mitgesungen, macht sich schnell Hass breit. Es ist | |
dieser Rassismus, der so laut daherkommt, jener Rassismus in rechten | |
Medienkanälen, bei denen ein gestreckter Zeigefinger von Antonio Rüdiger | |
zum IS-Gruß umgedeutet wird, der zeigt, dass da etwas ins Kippen gekommen | |
ist. | |
Der DFB verbreitet derweil über Turnierdirektor Philipp Lahm und seinen | |
Präsidenten Bernd Neuendorf haufenweise progressive Buzzwords: | |
Nachhaltigkeit, Vielfalt, Inklusion, europäische Werte, gesellschaftlicher | |
Zusammenhalt. Sportdirektor Rudi Völler lässt sich dagegen ein halbes Jahr | |
vor der EM in eine Talkshow der Faktenverdreher von Nius einladen, zürnt | |
gegen Gendern oder „Klimakleber“ und sorgt dafür, dass der Spielführer der | |
DFB-Auswahl mit schwarz-rot-goldener Binde aufläuft. „Jetzt geht es wieder | |
um Fußball“, heißt sein Mantra. Und der DFB muss irgendwie zurückrudern, | |
wenn es Beifall von der AfD gibt. Schwierige Zeiten. | |
Ach wie gut, dass es da Julian Nagelsmann gibt. Einen jungen Coach, der | |
glaubhaft für Aufbruch und gute Stimmung steht, der weder einer linken noch | |
einer rechten Geisteshaltung verdächtig ist. „Wir kicken“, ist sein Motto. | |
Ein paar sorglose Wochen, in denen man wieder so einig und unbeschwert das | |
DFB-Team feiert wie einst – was könnte man dagegen schon haben. Nagelsmann, | |
Kroos, Musiala als letztes gemeinsames Vielfaches. „Wir kicken“. Ob das | |
reicht für ein Sommermärchen 2.0? | |
Egal, wie es kommt. Das Wort Sommermärchen, puh, man kann es schon vor dem | |
ersten Anpfiff nicht mehr hören. | |
12 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
Andreas Rüttenauer | |
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