# taz.de -- Psychoanalytiker über Corona-Krise: „Jeder sieht, was er sehen m… | |
> Was bringt die Coronakrise in uns hervor: Solidarität oder Egoismus? Ein | |
> Gespräch mit dem Psychoanalytiker Peter Schneider. | |
Bild: Ein üppiger Spendenzaun in Berlin-Charlottenburg | |
taz am wochenende: Herr Schneider, viele wollen der Coronakrise etwas | |
Positives abgewinnen – im Hinblick auf die Selbstbeschränkung etwa und den | |
Umgang mit der Klimakrise. Aber warum sollte der Mensch ausgerechnet aus | |
Krisen lernen? | |
Peter Schneider: Ich kann nichts über den Menschen sagen. Manche lernen | |
etwas, manche nicht. Es ist außerdem sehr unterschiedlich, was man lernt, | |
sogar widersprüchlich. Krisen richten Gesellschaften nicht in eine Richtung | |
aus wie ein Magnetfeld. Es ist nicht hilfreich, die Zeiten „danach“ in der | |
Fantasie mit zu viel Optimismus oder Pessimismus aufzuladen. | |
Sie halten nichts von moralischen Lektionen? | |
Nicht in diesem Zusammenhang. Pandemien zu einer Erweckungsbewegung der | |
Natur umzufunktionieren und die Zeit danach utopisch aufzuladen führt | |
schnell in eine ökofaschistische Querfront: mehr Verzicht, weniger | |
Überbevölkerung … | |
Psychoanalytische Kulturkritik impliziert eher radikale Moralkritik. Ist | |
die Psychoanalyse so eine Art Widerspruch zur Moralphilosphie? | |
Eher eine um die Genealogie der Moral angereicherte Moralphilosophie, das | |
heißt, [1][die Psychoanalyse beschäftigt sich] mit der Entstehung und der | |
Veränderung und Struktur von Moral. Auch dabei geht es – wie in der | |
Wissenschaftsforschung – nicht um eine Umdeutung, sondern um eine | |
Anreicherung der Wirklichkeit. | |
Bringen Krisen wie die Coronakrise psychologische Grundmuster zum | |
Vorschein? | |
Man redet oft davon. Dann werden gerne Urängste bemüht oder das von der | |
Evolution übrig gebliebene Verhaltensprogramm. Das ist ahistorischer Quark. | |
Kommen wir zu etwas Konkretem, dem Hypochonder zum Beispiel. Der entspannt | |
sich doch erst mal, wenn die Bedrohung endlich real ist, er hat nun etwas | |
Konkretes zu bearbeiten, oder? | |
Ich kenne tatsächlich hypochondrische Menschen, die in dieser Krise zwar | |
nicht unvorsichtig, aber doch recht entspannt leben. Es gibt aber auch | |
solche, die nun unter noch mehr Druck stehen. | |
Die Vorstellung, dass es Kriege und Katastrophen braucht, damit die | |
Menschen sich eines Besseren besinnen, ist ja eine religiöse. Die Linke | |
spricht da gern von „Schulen der Solidarität“, letztlich folgt das aber | |
auch dem religiösen Denkmuster. Wie erklären Sie als Psychoanalytiker die | |
Wirkmacht solcher Vorstellungen? | |
Vielleicht ist es eine Art überspringende Kontingenzbewältigung. Zum einen | |
sind wir Zufällen ausgeliefert. Unser Schicksal ist von statistischen | |
Größen, nicht von Kausalität durchwirkt. Zum anderen machen wie die | |
Erfahrung, dass wir – mit Bruno Latour zu sprechen – „niemals modern | |
gewesen sind“, dass unsere Trennungen zwischen Natur und Kultur, Politik | |
und Virus nicht funktionieren, sondern wir in einer hybriden Welt leben, in | |
der ganz unterschiedliche Dinge Hybride und Netzwerke bilden. | |
Es ist nun schwierig, die Balance zwischen Kontingenz und Netzwerkdenken zu | |
halten. Puren Zufall könnten wir ohnehin nicht ertragen. Aber ein | |
Überschuss an Willen, ein System jenseits des puren Zufalls zu finden, | |
führt in Verschwörungs- oder Erweckungstheorien. | |
Wo Sie von Erweckung sprechen, Slavoj Žižek beobachtet einen ungeheuren | |
Auftrieb für neue Formen lokaler und globaler Solidarität. Aber sehen wir | |
gerade nicht mindestens ebenso viel Egoismus? Hamsterkäufe, Diebstahl von | |
Schutzequipment aus Kinderkrebsstationen, um nur das Offensichtliche zu | |
erwähnen. | |
Jeder sieht, was er gerne sehen möchte. Dieses Spektrum zeigt auch den | |
hybriden Charakter einer Pandemie. Für die Pessimisten [2][hätten wir ja | |
noch Agamben]. Zum Trost kann man sagen: Corona war nur das Sahnekrönchen | |
auf dem Weg Ungarns in eine Diktatur. | |
Was denken Sie über die Aufforderungen zu mehr Empathie, die sehr en vogue | |
sind – es gibt zahlreiche Neuerscheinungen zu dem Thema, und seit geraumer | |
Zeit kommt kein Essay ohne das Wort aus. | |
Es braucht diese Aufforderung nicht. Menschen sind ohnehin empathisch. | |
Andererseits ist Empathie auch zu einem Kampfbegriff geworden. Wer nicht | |
die geforderte Empathie aufbringt – oft ist damit eine Art besonderer | |
Gefühlsüberschwang gemeint –, wird pathologisiert. Autist*innen sind ein | |
beliebtes Opfer solchen Empathiemangel-Bashings. | |
Warum bringt die Quarantäne regressives Verhalten hervor? | |
Weil die Anforderungen an soziale Anpassung gemindert sind? Wenn es Sie | |
beruhigt: Ich gehe auch ins Homeoffice mit Krawatte. | |
Das beruhigt mich in der Tat, Sie glauben nicht, wie sehr, denn man weiß | |
doch: Stil erhält die Schönheit von Gedanken. Versetzen das Ende des | |
Alltags, mit dem wir alle gerade umgehen müssen, und die Unsichtbarkeit der | |
Bedrohung vor allem Angstpatient*innen derzeit in eine besonders | |
bedrohliche Lage? | |
Bei manchen kann die „reale“ Gefahr auch für eine Strukturierung der | |
diffusen Ängstlichkeit sorgen. Menschen reagieren nicht diagnosekonform | |
gleichartig. | |
Keine Witze übers Klopapier, aber: Was denken Sie als Psychoanalytiker über | |
eine Gesellschaft, die Klopapier statt Champagner hortet? | |
Dass diese Dichotomie eine schlechte Gesellschaftsdiagnose abgibt. Aus | |
einem dreckigen Arsch entweicht eben auch kein fröhlicher Furz. Und warum | |
soll man auf einmal statt Bier Champagner saufen, bloß weil das besser in | |
das derzeit in gebüldeten Kreisen gern bemühte | |
Boccaccio-Landhaus-Seuchen-Story-Telling passt? | |
Ja, Sie haben völlig recht, aber apropos Bescheidenheit – werden wir nach | |
Corona anders über uns denken? | |
Es gibt ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte, wie ein Virus das Denken | |
und das Verhalten geändert hat: HIV. Die Aidspandemie hat einige | |
Veränderungen ausgelöst. | |
An welche denken Sie konkret? | |
Sie hat den „Safer Sex“ hervorgebracht, das „Sex ist Befreiung“-Narrativ | |
durchbrochen; und sie hat wider alle anfänglichen Erwartungen die | |
Schwulenbewegung vorangebracht. Letzteres war ein überraschender | |
Kollateralnutzen. | |
Der negative Fokus, der zunächst auf die Homosexuellen als Verbreiter der | |
neuen Seuche gerichtet war, verschob sich ins Positive in dem Maße, wie die | |
Schwulen schnell zur Avantgarde eines vernünftigen Präventionsbewusstseins | |
wurden. Damit wiederum ist eine Verbürgerlichung der Schwulenbewegung | |
befördert worden, die inzwischen die Forderung „Ehe für alle“ zu einer | |
Maxime des gesunden Menschenverstands gemacht hat. | |
Das ist aber nicht die kausale Folge dieser Pandemie, sondern ein überaus | |
erstaunlicher Effekt, den niemand hätte vorhersehen können. Es ist nicht | |
„das Gute“, das Aids hervorgebracht hat. | |
Wie wird das mit Corona sein? | |
Man weiß nicht, welche Fäden Corona in die Zukunft hineinziehen wird. | |
Daraus die Lehre zu ziehen, dass wir wirtschaftlichen Stillstand brauchen, | |
damit die Luft wieder sauber wird, halte ich für fatal. | |
5 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Philosoph-ueber-Wahnsinn-in-der-Vernunft/!5049577 | |
[2] /Corona-und-der-Alltag/!5669280 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Psychoanalyse | |
Krise | |
Politisches Buch | |
Technik | |
Psychoanalyse | |
Psychoanalyse | |
Gentrifizierung | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Kinder | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Mode | |
Populismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Bruno Latour: Das Recht der Dinge | |
„Wir sind Erdlinge, nicht Menschen“ – sagte der Philosoph und | |
Wissenssoziologe Bruno Latour. Nun ist er mit 75 Jahren gestorben. | |
Französischer Philosoph und Soziologe wurde 75: Bruno Latour gestorben | |
Latour galt als einer der größten zeitgenössischen Intellektuellen | |
Frankreichs. Er starb in der Nacht zu Sonntag. | |
Zweite Staffel „In Therapie“: Retter im Analytikersessel | |
In der neuen Staffel „In Therapie“ muss sich Therapeut Dayan Fragen über | |
Grenzen seiner Arbeit stellen. Wie weit darf er für seine Patienten | |
gehen? | |
Lehrstuhl vor dem Aus: Verdrängung der Psychoanalyse | |
In Frankfurt ist einer der letzten psychoanalytischen Lehrstühle in Gefahr. | |
Dabei könnte er helfen, die Corona-Protestbewegung zu verstehen. | |
Einsamkeit als Phänomen: Bloß ein Gefühl | |
Braucht man wirklich ein Einsamkeitsministerium? Jakob Simmank hat einen | |
wunderbaren Essay über die Fallstricke eines Gegenwartsdiskurses | |
geschrieben. | |
Philosoph über den Sinn der Berührung: „Der Körper als Seele“ | |
Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy spricht über den Sinn der | |
Berührung und Kontaktbeschränkungen zu Coronazeiten. | |
Die Samstags-Mahnwachen in Berlin: In der Welt der Verschwörer | |
Die Hygienedemos am Rosa-Luxemburg-Platz verändern ihre Strategie: Jetzt | |
soll dezentral, an belebten Orten der Stadt verstreut demonstriert werden. | |
Erziehungsbuch in bestem Sinne: Sie tun, was wir tun | |
Eltern sind nicht dazu verdammt, weiterzugeben, was sie selbst erfahren | |
haben: Philippa Perrys weiser Ratgeber für eine gute Eltern-Kind-Beziehung | |
Historiker Malte Thießen: „Seuchen verschärfen Ungleichheit“ | |
Ein Blick in die Geschichte der Epidemien zeigt, wie wichtig internationale | |
Koordination ist, doch anlässlich von Corona erleben wir Isolationismus. | |
Drogensüchtige in Coronakrise: Die Hotels wären frei | |
Für Drogenabhängige ist das Coronavirus lebensbedrohlich. | |
Hilfseinrichtungen versuchen zu verhindern, dass sich die Lage | |
verschlechtert. | |
Telefonieren wiederentdeckt: Hallo, wer spricht da? | |
Telefonieren erlebt in der Coronazeit eine Renaissance. Fernintimität kann | |
aber auch nach der Krise wertvoll sein. | |
Wohlstandsgesellschaft und das Virus: Aufwachen, Kinder! | |
Wir sind eine Gesellschaft, die kein Bewusstsein für Krisen hat. | |
Katastrophen fanden stets woanders statt. Bis jetzt. | |
Ex-Refugee über Geben und Nehmen: „Geflüchtete wollen gerne helfen“ | |
Als Hussam Al Zaher 2015 nach Hamburg kam, halfen ihm Freiwillige. Viele | |
der Geflüchteten von damals wollen jetzt etwas zurückgeben, meint er. | |
Medienkritik von Christian Drosten: „Die Medien“? Ja, leider „die“ | |
Virologe Drosten hat scharfe Kritik geübt, sprach von einer Öffentlichkeit | |
„jenseits der Vernunft“. Das ist zu hart – doch muss man es ernst nehmen. | |
Buch über Mode und Zeit: Eigenartig veraltet | |
Was macht den berühmten Chanel-Mythos aus? Und was bedeutet die Beschwörung | |
des Klassischen? Ein Buch dokumentiert eine Reise hinter die Kulissen. | |
Chantal Mouffe über Demokratie: „Populismus kann progressiv sein“ | |
Kann es einen guten linken Populismus geben? Der populären | |
Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe zufolge schon. Den Konsens der | |
Mitte lehnt sie ab. |