Introduction
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# taz.de -- Wohlstandsgesellschaft und das Virus: Aufwachen, Kinder!
> Wir sind eine Gesellschaft, die kein Bewusstsein für Krisen hat.
> Katastrophen fanden stets woanders statt. Bis jetzt.
Kaum geht die Krise los, sind wir ihrer schon wieder überdrüssig. Wie
Kinder, die auf dem Weg in den Italienurlaub nach einer Stunde zu quengeln
beginnen: Wie lange noch, Mama? Ich will ankommen, Papa!
Noch sind wir erst am Anfang, und schon haben wir über unsere Gesellschaft
mehr gelernt als in Jahrzehnten der Ruhe, des Gleichlaufs. Seit Ewigkeiten
kamen die kollektiven Härten immer nur aus den Medien. Waren es lange Zeit
die zahlreichen Kriege und Katastrophen aus aller Welt, so müssen wir
zuletzt beobachten, wie Menschen mangels einer ausreichenden Menge von
[1][Beatmungsgeräten in Italien] unbehandelt sterben. Doch wer waren die
Leidtragenden? Immer die anderen. Bis heute.
Darauf blicken wir wie Kinder, die sich das Märchen vom Wolf und den sieben
Geißlein anschauen. Und wir erkennen dabei nicht, zu welcher in weiten
Teilen hochgradig unreifen – man könnte schon fast sagen: infantilen –
Gesellschaft wir geworden sind.
Täglich linsen wir mit Schaudern auf die Pressekonferenzen von
Virolog:innen, die uns ansteigende Kurven zeigen, und von Politiker:innen,
die uns sanft erklären, wie wichtig jetzt Vernunft, Maß und Mitte seien.
Wir sollten uns einfach mal in unser Schneckenhaus zurückziehen. Und das
tun wir auch.
## Lasst uns endlich wieder raus!
Aber ist jetzt nicht langsam Schluss mit dem Theater? Es ist ja ganz nett,
dass wir einmal eine Zeit lang Geisterbahn fahren durften, aber wann
endlich können wir wieder aussteigen? Allmählich nerven die Gespenster.
Lasst uns endlich wieder raus!
Wir leben wie in einer Traumwelt, wie in einem prickelnden Horrorfilm, der
uns schaudern lässt. Wo aber ist der Ausschaltknopf? Wann endet dieser
schreckliche Hollywood-Apokalypse-Thriller endlich? Wann können wir uns
endlich wieder in den sanften Schlaf der Gerechten fallen lassen und uns
versichern, dass alles nur fiction war?
Dass es diesmal Ernstcharakter hat, ja, das können wir ja gerade noch
erfassen. Wir ahnen auch, dass Italien zu uns kommt. Aber glauben tun wir
es nicht wirklich. So schlimm kann es bei uns doch niemals werden. Das kann
gar nicht sein. Warum? Weil wir es nicht anders gewohnt sind. Bei uns ist
doch immer alles gut gegangen.
Seit Jahrzehnten sitzen wir vor unseren immer größer werdenden
Flachbildschirmen und lassen uns die Gruselgeschichten aus aller Welt
erzählen. Wir schauen auf Bürgerkriege, auf Flüchtlingscamps, auf
niederbrennende Textilfabriken und einstürzende Dämme, die Tausende im
Schlamm verrecken lassen. Aber sehen wir es wirklich? Manchmal reiben wir
uns die Augen und versuchen, die Welt da draußen, die schlimme,
wahrzunehmen. Aber es fällt uns schwer. So schwer. Weil das Draußen immer
draußen blieb. Es rückte uns in langen Jahrzehnten nie wirklich auf die
Pelle.
## Der Bildschirm als Brandmauer
Ja, Schrecken finden in der Welt statt, so dumm sind wir nicht, das nicht
zu erkennen, aber sie finden eben nicht in unserer Welt statt. Unsere Welt
ist eine prinzipiell andere. Unsere Welt ist die Welt der buchstäblich
abgeschirmten Zuschauer. Wir sind die „Tagesthemen“-Generation, der
Bildschirm ist unsere Brandmauer. Wir sind gewohnt, dass die Sintflut, so
hat es der Soziologe Stefan Lessenich brillant formuliert, immer neben uns
stattfindet. Wir sind die, die immer davon ausgehen konnten, dass die
wahren Katastrophen die Katastrophen der anderen sind. Ebola hier,
Fassbomben da, Genozide dort.
Wir sind gewohnt, dass die Dinge für uns niemals böse enden. Wir haben kein
Bewusstsein entwickelt für die Wirklichkeit von Katastrophen, weil wir uns
immer davor abgeschottet haben, uns davon haben abkapseln lassen. Ganz wie
die Kinder auf dem Spielplatz, deren Helikoptereltern jeden Sturz voraus
ahnen und präventiv verhindern. Wir sind es nicht anders gewohnt, als dass
uns die Härten vom Leib gehalten werden.
Und nun soll sich das ändern? Von wegen. So schnell lassen wir nicht ab von
dieser für uns immer schönen Welt. In Ordnung, für eine kurze Zeit wollen
wir den Spuk ertragen. Wir schicken einander ulkige Toilettenpapierfilmchen
zu und schauen weiter die „heute-show“ an. Ist ja alles halb so schlimm.
Wir sind eine Gesellschaft geworden, der das Bewusstsein für echte Krisen
verloren gegangen ist. Hat uns nicht Draghi mit den EZB-Milliarden nach
2008 und dem Whatever-it-takes-Ding schon einmal den Hintern gerettet? Na
klar. Denn anders konnte es ja gar nicht kommen. Wir werden immer gerettet.
Warum sollte es diesmal anders sein? Ein paar Wochen Quarantäne, dann
fahren wir wieder hoch. Das kriegen wir doch locker hin.
Dieses bei [2][Kindern und Jugendlichen] bekannte Unverletzlichkeitsgefühl
haben wir uns über Jahrzehnte angeeignet. Uns kann keiner was. Ganz als
wären wir Megahelden aus einem Comic. Ganz als wären wir Superwoman und
Spiderman in einer Person. Wir können fliegen, wenn wir nur wollen. Und
Bösewichter erledigen wir mit links. Ein kleines Virus: Was kann uns das
schon anhaben? Und kommt es uns doch zu nahe, legen wir es kurzerhand auf
die Matte.
Wir sind schließlich prädestinierte Sieger. Wir können mission impossible.
Wir schaffen das. Und wenn dann doch was schiefgeht, Vater Staat ist ja
immer da für uns: unser Überheld, unser Batman. Er hat uns immer
rausgehauen. Die Dinge haben sich immer wieder eingeschaukelt, und so
werden sie es auch diesmal tun. Wir sind in besten Händen!
## Seit Generationen nur Kontinuität
Diese halbwüchsige Präpotenz haben wir uns über Jahrzehnte einverleibt: Und
wie hätten wir auch anders werden können. Seit Generationen haben wir ja
nur Kontinuität kennengelernt. Wird schon gut gehen, tat es ja immer.
Dass es nie gut war und dass unsere Ego-Gesellschaft im Inneren eine nach
unten tretende, immer brutaler werdende ist und dass wir nach außen schon
immer die Welt ausgelutscht und den Kern achtlos ausgespuckt haben, sei’s
drum. Hat uns doch nicht getroffen. Nur die anderen. Und sind die an ihrem
Schicksal nicht bekanntermaßen selber schuld?
Der Glaube, dass wir, die kontinuitätsverwöhnte Mittelschicht, in einen
schlechten Traum geraten sind, eint uns. Der Albtraum möge doch bitte,
bitte aufhören. Und zwar bald. Wir haben doch nichts verbrochen. Wir waren
doch immer die Guten. Warum sucht er gerade uns heim? Wir haben doch nichts
getan.
Doch. Haben wir. In Wirklichkeit ist uns der Rest der Welt andauernd egal
gewesen. Drinnen wie draußen. Zuweilen haben wir ihn wie einen Haufen Mist
behandelt. Unsere herablassend-anmaßende Gewissheit, wir wären zu Recht auf
der globalen sunny side of life gelandet, fliegt uns nun um die Ohren.
Unser Glaube, diese Privilegien entsprächen gleichsam einer natürlichen
Ordnung, detoniert nun vor unseren Augen.
## Unterwegs mit dem Superplastiktrecker
Dass die Chinesen solch einen Erreger abbekommen, war uns Bestätigung genug
für unseren Glauben, einer zivilisatorisch höher entwickelten Spezies
anzugehören. Selbst als Italien getroffen war, erhielten wir den Glauben
aufrecht, uns könne so etwas nie passieren: Was, das Virus sitzt uns nun
selbst im Nacken? Das ist doch gar nicht möglich. Eine Art von
Betriebsunfall. Ein einmaliger Ausrutscher.
Es ist, als wären wir mit unserem Superplastiktrecker auf dem Spielplatz
unterwegs. Wir sitzen darauf, vermeintlich unumkippbar. Dass die Ramazans
dieser Welt solchen Luxus nicht ihr Eigen nennen, kann nicht an uns liegen.
Was, wir Maximilians zeigen einen elitären Dünkel oder rassistische
Arroganz auch noch in der Krise?
Welche Verleumdung. Wir sind privilegiert, weil das normal ist. Wer könnte
was dagegen haben? Wie? Der Trecker ist umgekippt?
Dass wir nun [3][durch ein Virus zum Gleichen] (zumindest was die Gefahr
der Ansteckung angeht) gemacht werden, verstößt gegen diese „natürliche
Ordnung“ der Welt. Wir lassen uns diese Privilegien nicht wegnehmen. Sie
gehören uns. Nicht den anderen. Noch im Kippen bleiben wir oben.
## Herrenreitertum und Rassismus
In solchen Zeiten schwant es uns nur, dass der globale Süden einen
wesentlich höheren Preis bezahlen wird als wir, und erahnen bestenfalls die
Besorgnis einer Supermarktkassiererin, der wir jetzt noch einen
steuerfreien Bonus gönnen, im Zweifelsfall das Beatmungsgerät nicht zu
bekommen. Doch kommt uns das nicht wirklich als nach innen elitär und nach
außen kolonialistisch in den Sinn, sondern als normal. Herrenreitertum und
Rassismus verschwinden in einer Krise nicht. Ganz im Gegenteil.
Diese selbst verschuldete Unmündigkeit und von wenig Reife geprägte, allzu
kindliche Überheblichkeit fällt uns nun auf die Füße. Der eine oder die
andere von uns wird nun sein Fett abbekommen. Auch die VIP-Lounge bleibt
nicht unversehrt. Dass das einen Großteil der Welt gegen uns freut,
verstehen wir nicht. Das Ihr-habt-das-nicht-anders-verdient-Gelächter, das
uns überlaut von innen und außen entgegenschallt, wenn wir nur hören
wollen, irritiert uns. Haben wir – unschuldig wie Kinder – das wirklich
verdient?
„Chickens have come home to roost“,sagt ein amerikanisches Sprichwort dazu.
Es meint, dass unsere hemmungslose Weltausbeutung nun gnadenlos auf uns
zurückfällt. Als hätten wir es nicht anders verdient, geht es uns nun an
den Kragen. Wir werden nicht ungeschoren davonkommen.
Gibt es also doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals?
Nein, selbstverständlich nicht. Viren kennen keine Moral.
Kinder, aufwachen. Wir sind in Italien angekommen!
5 Apr 2020
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## AUTOREN
Helmut Däuble
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