| # taz.de -- Erziehungsbuch in bestem Sinne: Sie tun, was wir tun | |
| > Eltern sind nicht dazu verdammt, weiterzugeben, was sie selbst erfahren | |
| > haben: Philippa Perrys weiser Ratgeber für eine gute | |
| > Eltern-Kind-Beziehung | |
| Bild: Zwischen Wutanfall und Heulkrampf liegt eine ganze Menge Schönheit | |
| Eigentlich ist man bei einem Buch mit dem vollmundigen Titel „Das Buch, von | |
| dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen“ (dem zur Absicherung | |
| der Kaufempfehlung dann noch der Untertitel „und deine Kinder werden froh | |
| sein, wenn du es gelesen hast“ hinzugefügt wurde) erst einmal skeptisch. | |
| Aber dann will man es – als Rezensent, aber natürlich auch als oft genug | |
| ratloser Elternteil – eben doch wissen. | |
| Die britische Psychotherapeutin Philippa Perry hat unter diesem Titel kein | |
| „Erziehungsbuch im engeren Sinn“ mit Töpfchentraining und Abstilltipps | |
| geschrieben, sondern einen Ratgeber für eine gute Eltern-Kind-Beziehung. | |
| Wenn man nicht so häufig Ratgeber liest – und seien wir ehrlich, als Eltern | |
| hat man für so was nun wirklich keine Zeit (als Rezensent, wenn man Glück | |
| hat, gerade so) –, muss man sich womöglich erst ein wenig an den Ton | |
| gewöhnen. Schon sehr bald entdeckt man aber, kurz nach dem ersten guten | |
| Witz, einen ersten wesentlichen Satz: „Kinder tun nicht, was wir sagen; sie | |
| tun, was wir tun.“ | |
| Dieser Satz bleibt aber keine hohle Phrase, sondern Perry nimmt ihn beim | |
| Wort. Deswegen fällt der erste Blick in der Eltern-Kind-Beziehung auch auf | |
| die eigene Seite, die der Eltern, und da auch die Eltern einmal Kinder | |
| waren, die taten, was deren Eltern taten, fällt der Blick zunächst auf die | |
| eigene Kindheit der Eltern. Und hier sind auch Menschen, die es eigentlich | |
| besser wissen müssten, nicht davor gefeit, unbewusst das an ihre Kinder | |
| weiterzugeben, worunter sie selbst als Kinder ihrer Eltern gelitten haben. | |
| ## Zahlreiche Fallstudien | |
| Sie sind dazu aber zum Glück auch nicht verdammt. So berichtet Perry etwa | |
| neben zahlreichen Fallstudien aus ihrer Praxis gelegentlich auch von ihrer | |
| eigenen Kindheit, die sie nicht überwiegend als glücklich empfand. Das lag | |
| auch daran, dass ihre Eltern es nie zugaben oder sich entschuldigten, wenn | |
| sie Fehler gemacht hatten. Und so sehr Perry das auch gehasst hatte und es | |
| selbst später anders machen wollte, gelang ihr das gegenüber ihrer eigenen | |
| Tochter natürlich nicht immer. | |
| Doch die frohe Botschaft, die Perry bereithält, ist die, dass es weniger | |
| auf die Fehler ankommt, die wir unseren Kindern gegenüber begehen, oder auf | |
| die Brüche, die daraus entstehen, sondern auf die Reparatur dieser Brüche, | |
| die meist auch lange Zeit später noch möglich ist. Perry erzählt von ihrer | |
| anfangs ungläubigen Begeisterung darüber, dass ihre vierjährige Tochter Flo | |
| irgendwann von selbst anfing, über ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, | |
| sich für Fehler zu entschuldigen und sogar ihre Wutanfälle verbal zu | |
| kontrollieren – einfach weil sie selbst meist ganz genauso behandelt worden | |
| war. | |
| Überhaupt die Wutanfälle: Dieses Schrecknis der meisten Eltern, deren | |
| Kinder sich in den sogenannten „Trotzphasen“ im Alter zwischen etwa zwei | |
| und vier Jahren befinden, taucht an mehreren Stellen im Buch prominent auf. | |
| Etwa im Abschnitt „Gefühle“, der für Perry „wahrscheinlich der wichtigs… | |
| im ganzen Buch“ ist. Denn bevor Kinder lernen, sich mit Worten | |
| auszudrücken, müssen sie das vor allem über ihre Gefühle tun, ein Baby gar | |
| „ist pures Gefühl“. Daher sei ein Wutanfall meist keineswegs etwas, mit dem | |
| Kinder uns ärgern wollen oder das sie gar genießen, sondern oftmals ein | |
| Weg, etwas zu kommunizieren, was wir auf anderem Wege nicht wahrgenommen | |
| haben. | |
| ## Ein schrecklicher Wutanfall | |
| Und in einer der schönsten Passagen gegen Ende des Buchs versetzt sich | |
| Perry in die Perspektive eines kleinen Mädchens, das einen schrecklichen | |
| Wutanfall aus seiner Sicht schildert – das heißt schildern würde, wenn es | |
| nur die richtigen Worte dafür finden könnte. | |
| Das müsse dann eben die Aufgabe der Eltern sein, die kindlicher Wut oft am | |
| besten den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie das Gefühl und dessen | |
| Gründe zu benennen versuchen, anstatt davon abzulenken, dem Kind dadurch | |
| Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen, ohne notwendigerweise in der | |
| Sache nachzugeben. | |
| Philippa Perry hat ein sehr kluges, geradezu weises Buch geschrieben, das | |
| Bücher über Töpchentraining und Abstillen vielleicht nicht vollständig | |
| ersetzen kann, das aber letztlich doch auch mehr „Tipps und Tricks“ | |
| enthält, als die Autorin beansprucht. | |
| Das aber vor allem auf das eingeht, was wirklich zählt: wie wir eine | |
| dauerhaft gute Beziehung zu unseren Kindern – vom ungeborenen Baby bis zum | |
| Teenager – aufbauen, die ein Leben lang hält, anstatt Erziehung als | |
| ständigen Machtkampf zu konzipieren, in dem man immer mal wieder auch zu | |
| manipulativen Mitteln greifen muss. Darin hat dieses Buch letztlich auch | |
| eine eminent politische Bedeutung, nämlich als Modell für den Umgang | |
| zwischen Menschen überhaupt. | |
| 20 Apr 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Wohlfarth | |
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