| # taz.de -- Kindern Corona erklären: Wenn Normalität weg ist | |
| > Kinder haben ein Recht auf Gegenwart. Wie kann man ihnen in den Zeiten | |
| > der Pandemie den Ernst der Lage vermitteln, ohne sie zu verängstigen? | |
| Bild: Eine Zweijährige zeichnet in ihrer Quarantäne in Norditalien ein Virus | |
| Sie habe ihren Kindern gesagt, dies sei wie Krieg ohne Bomben. Mütter und | |
| Väter stehen derzeit vor großen Herausforderungen: Eine davon ist es, ihren | |
| Kindern die derzeitige Lage plausibel zu machen. Diese drastische | |
| Charakterisierung der Situation, die eine Mutter gegenüber ihren drei | |
| Kindern wählt, gibt beispielhaft wieder, wie groß der Druck ist. Seitdem | |
| die Gesellschaft weiß, dass es nicht mehr allein auf regelmäßiges | |
| Händewaschen ankommt, hat sich das Leben in Familien grundlegend verändert. | |
| Von den Eltern wird nun erwartet, dass sie ohne musikalische | |
| Grundkenntnisse auch den Bassschlüssel erklären können, ihr Homeoffice | |
| managen und Kontakt zu älteren Verwandten halten. Aber Mütter und Väter | |
| müssen ihren Kindern auch erklären, warum das vertraute Leben derzeit | |
| abhandenkommt. Manche Kinder werden fragen und explizit um Erklärungen | |
| bitten, andere hingegen bleiben schweigsam. Kinder haben ein gutes Gespür, | |
| was sie gegenüber Eltern und anderen Erwachsenen thematisieren können und | |
| was sie besser nicht ansprechen. | |
| Wie so oft in der Erziehung geht es auch derzeit [1][im Alltag zwischen | |
| Kindern und Erwachsenen] um eine gute Balance. Doch wie stellt man in | |
| dieser auch für Eltern schwer zu überschauenden Situation eine | |
| ausgeglichene Kommunikation und Interaktion her? Wie lässt sich der Ernst | |
| der Lage vermitteln und erhoffte Einsicht in neue Zwänge erreichen, ohne | |
| ein Kind zu verängstigen? | |
| Wahrscheinlich würden wir alle derzeit von Müttern und Vätern lernen | |
| können, die mit ihren Kindern aus Krisenregionen geflüchtet sind und die | |
| Strapazen, ja oft auch Bedrohliches zu überstehen hatten. Auch sie mussten | |
| und müssen eine Sprache für ihre Kinder finden, eine Familienerzählung | |
| schaffen, durch die der Verlust des bisher Bekannten, die Trennung von | |
| vertrauten Menschen, der gewohnten Umgebung, dem geregelten Alltag | |
| verstehbar zu machen. Im Übrigen sind gerade Kinder und Erwachsene, die | |
| traumatische Erlebnisse hinter sich haben, im Moment besonders angespannt | |
| und verletzlich. | |
| ## Einschnitte in die tägliche Routine | |
| Kinder, nicht anders als Erwachsene, sind darauf angewiesen, dass sie | |
| Maßnahmen, Erwartungen, Einschnitte in die alltäglichen Routinen als | |
| sinnhaft erleben. Besonders für Kinder ist es dabei wichtig, dass sie ihr | |
| Vertrauen in ihre Bezugspersonen und Umgebung nicht verlieren. | |
| Die Maßnahmen gegen eine exponentielle Verbreitung des Virus werden in der | |
| öffentlichen Diskussion durchaus in der Sprache eines Krieges kommuniziert. | |
| Wir führen einen „Kampf gegen Corona“. Insofern ist die Beschreibung der | |
| Mutter, es sei wie Krieg ohne Bomben, durchaus naheliegend, zumal die | |
| wirtschaftlichen und politischen Folgen in den Medien ausführlich | |
| thematisiert werden. Das bleibt Kindern und Jugendlichen nicht verborgen. | |
| So stellt sich die Frage, wie Kinder und Jugendliche diese und andere | |
| Erklärungen hören, was sie empfinden, wenn sie die Großeltern nicht mehr | |
| sehen oder besuchen dürfen. Welche Gedanken gehen derzeit durch ihren Kopf, | |
| welche Gefühle entstehen, welche Bilder machen sie sich von ihrer Welt? | |
| ## Recht auf Gegenwart | |
| Einige Hinweise finden sich vielleicht in Erinnerungen älterer Menschen an | |
| ihre Kindheit in Zeiten radikaler Umbrüche und sozialer Notlagen. Solche | |
| Zeugnisse bieten einen Zugang zum kindlichen Erleben, sie ersetzen aber | |
| nicht das Gespräch und aufrichtige Interesse hier und heute. Kinder haben | |
| ein Recht auf Gegenwart und wir sollten uns dafür interessieren, wie sie | |
| darauf blicken und ihre Welt ordnen. Doch schon in normalen Zeiten, das | |
| zeigen Befragungen, haben Kinder und vor allem Jugendliche selten den | |
| Eindruck, Erwachsene würden ihnen zuhören und sich wirklich für sie | |
| interessieren. | |
| Viele Entscheidungen von Politik und Behörden zur Eindämmung des Virus | |
| betreffen tägliche Routinen von Kindern und Jugendlichen. Natürlich sollen | |
| dadurch auch sie und ihre Lieben geschützt werden. Zugleich aber zeigen | |
| sich strukturelle Ohnmacht und Abhängigkeit von Kindern und Jugendlichen | |
| selten so deutlich wie heute. Hinzu kommt, dass diese Maßnahmen zum Schutz | |
| vor dem Virus zugleich Kinder und Jugendliche besonders schutzlos machen | |
| können. Das ist der Fall, wenn ihr Zuhause kein sicherer Ort ist und sie | |
| keine Möglichkeiten haben, ihm zu entfliehen und Hilfe zu bekommen. | |
| In der medialen Darstellung werden junge Menschen in öffentlichen Räumen | |
| meist als uneinsichtig oder verantwortungslos dargestellt, aber wir dürfen | |
| nicht vergessen, dass ein Park für manche Kinder und Jugendliche die | |
| „Zuflucht“ vor Gewalt sein kann. Dies ist eine höchst prekäre Situation, | |
| die dringend „systemrelevante“ Entscheidungen und Handlungen erfordert. Die | |
| Pandemie darf nicht dazu führen, dass Hilfestrukturen für von Gewalt | |
| betroffene Kinder und Jugendliche wegbrechen. Sie können derzeit | |
| nirgendwohin. | |
| Kindergärten und Schulen in Deutschland sind erst einmal geschlossen. Die | |
| meisten Kinder und Jugendlichen werden schnell realisiert haben, dass ihnen | |
| nicht etwa ein heimlicher Wunsch erfüllt werden sollte, spätestens nachdem | |
| klar wurde, dass auch die Freizeitaktivitäten in Vereinen, Schwimmbädern, | |
| auf dem Spielplatz, beim Boxen oder der Freiwilligen Feuerwehr nicht mehr | |
| zugänglich sind. | |
| ## Normalität außer Kraft gesetzt | |
| Alle Kinder und Jugendlichen verbringen inzwischen ihre Zeit mehr oder | |
| weniger zu Hause, dürfen vielfach ihre Freundinnen und Freunde nicht sehen | |
| und manche teilen sich die Räume mit ihren Eltern, die im Homeoffice | |
| arbeiten. Normalität ist derzeit also außer Kraft gesetzt. Doch was | |
| charakterisiert eine normale Kindheit und Jugend? | |
| Nahezu alle Kinder verbringen in Deutschland sehr viel Zeit ohne ihre | |
| Eltern und außerhalb der Familie. Kinder und Jugendliche bewegen sich sehr | |
| früh zwischen pädagogischen Einrichtungen wie Kindergarten oder Schule und | |
| ihren Familien. Selbst die Ferien sind für viele keine Phasen der | |
| Häuslichkeit. | |
| Abwechslung gehört zu den Routinen moderner Kindheit und Jugend, auch wenn | |
| das Ausmaß sich erheblich entlang der ökonomischen Möglichkeiten | |
| unterscheidet. Was sie als besondere Einschränkung erleben, ist für Kinder | |
| und Jugendliche in Armutslagen anders als für Gleichaltrige mit | |
| durchschnittlichen, gar sehr guten Bedingungen. | |
| ## Die Folgen der Armut | |
| So gehört zu den tagtäglichen Folgen von Armut in Deutschland, dass Kinder | |
| und Jugendliche selten Freundinnen und Freunde nach Hause einladen können, | |
| die Wohnungen sind schlicht zu beengt, auch haben viele keine Möglichkeit, | |
| regelmäßig einer Freizeitbeschäftigung nachzugehen, für die gezahlt werden | |
| muss. | |
| In einer Befragung von Acht- bis Vierzehnjährigen, der „Children’s Worlds+ | |
| Studie“, haben diejenigen Kinder, die sich Sorgen um die finanziellen | |
| Ressourcen in ihren Familien machen, darüber informiert, dass sie selten | |
| etwas mit ihren Freunden unternehmen können, das Geld kostet wie etwa | |
| Ins-Kino-Gehen. Aus ganz anderen Gründen ist dies nun Normalität für alle | |
| Kinder und Jugendlichen in Deutschland. | |
| Doch für von Armut betroffene Kinder und Jugendliche und ihre Familien | |
| stellt der Alltag in Zeiten der Pandemie vor weitere Mangelerfahrungen, | |
| denn wenn das beitragsfreie Mittagessen in Kita und Schule wegfällt, die | |
| Familie aber keine zusätzlichen Mittel erhält, wird die Versorgung mit | |
| elementarsten Dingen noch prekärer. | |
| ## Unbürokratische Unterstützung nötig | |
| Neben Betreuung, Unterricht, sozialem Miteinander, Anregung und | |
| Lerngelegenheiten fällt für anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche | |
| eine Mahlzeit in Kita oder Schule weg. Darum brauchen Familien eine | |
| unbürokratische Unterstützung, solange Kindergärten und Schulen geschlossen | |
| bleiben. Hier darf kein zusätzlicher Druck entstehen. | |
| Insgesamt werden sich die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder und | |
| Jugendliche diese Wochen erleben, also erheblich unterscheiden. Alle werden | |
| zuweilen Stress empfinden, traurig darüber sein, etwas nicht unternehmen zu | |
| können, ihre Freundinnen und Freunde vermissen, manche werden schlecht | |
| träumen, Angstgefühle entwickeln, vielleicht auch eine geliebte Person | |
| verlieren und trauern. Und es gibt plötzlich so wenige Möglichkeiten, sich | |
| abzulenken. | |
| Doch viele Kinder und Jugendliche werden auch schöne Erlebnisse haben, sich | |
| geborgen und gut aufgehoben fühlen. Sie werden mehr Zeit in ihrer Familie | |
| verbringen, und das wünscht sich ein großer Anteil bei den Befragungen. Den | |
| Eltern gilt es Mut zu machen und zu danken, was sie an positiver Energie | |
| für ihre Kinder aufbringen. | |
| Alle Kinder und Jugendlichen sind mehr denn je auf verlässliche Kontakte, | |
| also auf vertrauenswürdige Erwachsene, angewiesen. Sie müssen darauf | |
| vertrauen können, dass das, was Erwachsene ihnen zeigen, sagen, vermitteln | |
| und für sie entscheiden, richtig und wahr ist. | |
| 31 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Henning-Harnisch-ueber-Albas-Sportstunde/!5674339 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Andresen | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Pädagogik | |
| Bildung | |
| Kinder | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Homeoffice | |
| Kinder | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Jugendliche und Corona: Sprachlos im Stimmengewirr | |
| Für die Studie JuCo 2 wurden junge Menschen zu ihren Erfahrungen in der | |
| Coronazeit befragt. Viele blicken sorgenvoll in die Zukunft. | |
| Schulstart in der Coronakrise: Die große Rückkehr | |
| Die Sommerferien gehen zu Ende – und der Ruf nach Digitalisierung ist so | |
| laut wie nie. Doch das Wichtigste bleiben pädagogische Kompetenzen. | |
| Unterricht in der Coronakrise: Endlich wieder Schule! | |
| Masken sind blöd, Abstand Gewöhnungssache, aber der Unterricht besser als | |
| zu Hause: Drei Grundschulkinder aus Berlin über die Rückkehr in die Schule | |
| Erziehungsbuch in bestem Sinne: Sie tun, was wir tun | |
| Eltern sind nicht dazu verdammt, weiterzugeben, was sie selbst erfahren | |
| haben: Philippa Perrys weiser Ratgeber für eine gute Eltern-Kind-Beziehung | |
| Schule während Coronakrise: Wenn nur noch WhatsApp weiterhilft | |
| Eine Schule im sozialen Brennpunkt versucht, ihren Schülern mit | |
| Fernunterricht weiter nah zu bleiben. Das ist gar nicht so leicht. | |
| Neue Kinder- und Jugendbücher: Da macht sogar Handy-Henri mit | |
| Erzählungen von Anete Melece, Philip Waechter, Anke Kuhl und Jason Reynolds | |
| führen ans Meer, zu Verwandten oder in die Vergangenheit | |
| Soziale Folgen von Corona: Kinder in der Krise | |
| Die Maßnahmen gegen Corona treffen arme Kinder besonders. Und je länger | |
| Schulen zu sind, desto mehr verfestigt sich die soziale Ungleichheit. |