| # taz.de -- Schule während Coronakrise: Wenn nur noch WhatsApp weiterhilft | |
| > Eine Schule im sozialen Brennpunkt versucht, ihren Schülern mit | |
| > Fernunterricht weiter nah zu bleiben. Das ist gar nicht so leicht. | |
| Bild: Der Direktor der Berg Fidel Schule in Münster: Reinhard Staehling | |
| BERLIN taz | Diese Woche bekam die Grundschullehrerin Ilka Pelke aus | |
| Münster eine Nachricht von einem ihrer Schüler. „Der Junge hatte mich über | |
| WhatsApp angeschrieben, er wollte weitere Aufgaben von mir“, erzählt Pelke | |
| am Telefon. Kein Problem, die Schule benutzt schließlich schon seit einiger | |
| Zeit eine Lernplattform, alle Schüler und alle Lehrer haben ein schuleigene | |
| E-Mail-Adresse. Pelke schickte dem Zehnjährigen die Aufgaben. So richtig | |
| klappte das aber nicht. Der Schüler: Er erhalte immer die Fehlermeldung | |
| „Kein Drucker gefunden“. Die Lehrerin: Habt ihr einen neuen Drucker? Der | |
| Schüler: Ich glaube, wir haben gar keinen. | |
| „Bis wir an dem Punkt waren, haben wir garantiert schon 15 Minuten hin und | |
| her gechattet“, erzählt Pelke und lacht. „Dann haben wir ähnliche Aufgaben | |
| besprochen, die er mit dem Material bearbeiten konnte, das wir am letzten | |
| Schultag mitgegeben hatten.“ | |
| Die Schule heißt wie der Stadtteil: Berg Fidel. Berg Fidel, einst als | |
| Mustersiedlung am Reißbrett entworfen, gilt als sozialer Brennpunkt. In den | |
| Wohnblocks aus den 60ern und 70ern leben viele Familien, die arm sind, aber | |
| reich an Kindern, Romafamilien darunter und ehemalige Kriegsflüchtlinge aus | |
| dem ehemaligen Jugoslawien in zweiter Generation. | |
| Die Schule versucht soziale Nachteile seit vielen Jahren aufzufangen. Und | |
| das mit Erfolg: Als eine der erste Schulen in Münster begann sie, Kinder | |
| inklusiv und in jahrgangsgemischten Lerngruppen zu beschulen. Seit fünf | |
| Jahren können Kinder die ehemalige Grundschule auch bis zu Klasse 10 | |
| besuchen. Die einstige rot-grüne Landesregierung machte sie in einem | |
| Schulversuch zu einer von insgesamt fünf sogenannten Primus-Schulen. | |
| ## Große Sorgen bei Experten | |
| Schulleiter Reinhard Stähling leitet die Schule seit fast zwanzig Jahren. | |
| Die Schülerschaft beschreibt er als bunt gemischt, von sozial gut bis | |
| schlecht aufgestellt. 20 Prozent der Schüler an seiner Schule haben einen | |
| amtlich bescheinigten Förderbedarf, die meisten von ihnen in den Bereichen | |
| Lernen, Verhalten und Sprache. Das sei typisch für eine Schule im sozialen | |
| Brennpunkt. „Diese Schüler sind darauf angewiesen, sozial und emotional | |
| aufgefangen zu werden, viele brauchen den täglichen Kontakt zur Schule“, | |
| sagt Stähling. | |
| Doch seit fast zwei Wochen ist die Berg-Fidel-Schule wie alle Schulen | |
| bundesweit geschlossen. Um die Ausbreitung des [1][Coronavirus] zu stoppen, | |
| müssen die Kinder zu Hause bleiben, genauso wie ihre Eltern. Homeschooling | |
| ist angesagt. Für manche Kinder heißt das, dass sie sich mit Laptop und | |
| Kopfhörern in ihr Zimmer verkriechen, für andere, dass sie die enge Wohnung | |
| den ganzen Tag mit Eltern und Geschwistern teilen. Sozialarbeiter und | |
| Pädagogen haben davor gewarnt, dass Gewalt in Familien zunehmen und das | |
| Lernen schwieriger würde. | |
| 1,5 Millionen der über 8 Millionen SchülerInnen in Deutschland erhalten | |
| Leistungen des Staates. Der Verband Bildung und Erziehung sieht sogar jedes | |
| vierte Schulkind von Armut und Ausgrenzung bedroht. „Wir machen uns große | |
| Sorgen. Die Schulschließungen [2][verstärken bestehende Notlagen]“, so der | |
| Vorsitzende Udo Beckmann auf der Verbandswebseite. | |
| Die Berg-Fidel-Schule versucht den Kontakt zu ihren SchülerInnen auch in | |
| Zeiten geschlossener Schulen zu halten. Das ist nicht leicht. In der ersten | |
| Woche hatten die Lehrer noch zu 80 der 550 Schüler keinen Kontakt. Ende der | |
| zweiten Woche sind es nur noch 30 Kinder, die weder auf E-Mails geantwortet | |
| noch Arbeitsblätter von der Schulplattform abgerufen oder Ergebnisse | |
| eingesandt haben. | |
| ## „Manchmal rufen wir die Cousine an“ | |
| „Das ist immer noch eine riesengroße Zahl“, sagt Stähling. Warum es so | |
| schwer ist, diese Schüler zu erreichen? Die Eltern dieser Kinder sprächen | |
| oft kaum Deutsch, in den Wohnungen fehle es an WLAN und Computern, | |
| erläutert Stähling. Aber er ist zuversichtlich: Die Lehrer und | |
| Sozialpädagogen seien dran und wüssten genau, welche Familien auf der | |
| Kontaktliste noch nicht abgehakt seien. | |
| Christian Möwes ist Sonderpädagoge an der Schule und didaktischer Leiter. | |
| Seitdem die Schule zu ist, habe man über viele Kanäle Kontakt mit den | |
| Familien aufgenommen, in denen es vorher schon Spannungen gab. „Manchmal | |
| rufen wir auch die Cousine an und bitten sie, mal rüber in die Wohnung des | |
| Schülers zu gehen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist.“ Die | |
| Rückmeldungen nach über einer Woche seien erst mal positiv, es habe keinen | |
| Fall von [3][häuslicher Gewalt] gegeben. | |
| Da die Schüler der Berg-Fidel-Schule seit der ersten Klasse das | |
| selbstständige Lernen lernten, sei die Umstellung für die meisten nicht so | |
| groß, sagt Möwes. Sie wüssten, wie man sich Ziele setzt und an Wochenplänen | |
| arbeitet. Doch für die schwächsten Schüler gehe es derzeit eher nicht um | |
| Lernen und Unterricht: „Da betreuen wir die Familien.“ | |
| Möwes berichtet von Familien, die zu sechst, siebt oder acht in zwei | |
| kleinen Zimmern auf 40 Quadratmetern zusammenleben. „Das Lernen ist dort | |
| schon in normalen Zeiten nicht möglich. Deshalb sind wir ja eine gebundene | |
| Ganztagsschule, hier ist der Lernraum für alle Schüler von morgens bis | |
| nachmittags um vier.“ Dieser Lernraum bricht für einige SchülerInnen nun | |
| völlig weg, auch Bibliotheken und Jugendzentren sind als | |
| Ausweichmöglichkeiten versperrt. „Die Chancen zwischen denen, die von Haus | |
| aus gute und denen, die schlechte Chancen haben, gehen gerade auseinander“, | |
| sagt Möwes. | |
| ## Kommunikation über Gamer-Chat | |
| Auch der Schüler von Ilka Pelke lebt mit seiner Familie in einer kleinen | |
| Sozialwohnung, seine Geschwister sind lernbehindert, die Eltern wenig | |
| gebildet. „Aber E. ist clever“, sagt Pelke. Sie hat mit ihm vereinbart, | |
| dass er seine ausgefüllten Blätter abfotografiert und an sie schickt. Sie | |
| schickt ihm dann eine Rückmeldung aufs Handy, per WhatsApp. Dass Lehrer mit | |
| ihren Schülern per WhatsApp chatten, war vor Corona verboten. Jetzt ist es | |
| eine Möglichkeit, den Kontakt zu halten und Kindern weiterhin einen | |
| virtuellen Klassenraum zu bieten. | |
| Pelke erzählt, sie sei jeden Tag von 8 Uhr morgens bis 9 Uhr abends für die | |
| Schüler erreichbar. Die Zeiten hätten sich verschoben. Selbst am Wochenende | |
| beantworte sie die eine oder andere Frage. Sie erzählt, dass viele ihrer | |
| Schüler auch unter erschwerten Bedingungen fleißig arbeiteten, etwa zu | |
| dritt in einem Zimmer. Aber natürlich gebe es auch SchülerInnen, gerade in | |
| der Grundschule, die kein Handy besäßen, wo zu Hause kein Computer stehe. | |
| „Die fallen dann raus, wenn man keine Alternative bietet.“ | |
| Alternative Wege betritt auch gerade Angela Nagel. Sie ist die | |
| Klassenlehrerin des zehnten Jahrgangs, unterrichtet die ersten | |
| Jugendlichen, die an der Berg-Fidel-Schule den 10.-Klasse-Abschluss machen | |
| werden. Die Prüfungen sind verschoben. Doch ist es überhaupt möglich, | |
| SchülerInnen per Fernunterricht darauf vorzubereiten? Nagel ist | |
| optimistisch. „Es ist bemerkenswert, wie motiviert und konzentriert die | |
| Schüler antreten.“ | |
| Bis auf eine Handvoll hätten alle ihre SchülerInnen ein Handy. Als sich | |
| andeutete, dass die Schulen schließen würden, haben sie selbst | |
| vorgeschlagen, einen Chatraum einzurichten. Und zwar über Discord, einen | |
| Onlinedienst, der bisher vor allem von Gamern genutzt wurde, um sich | |
| während des Computerspielens auszutauschen. | |
| ## Auch die LehrerInnen lernen | |
| Und nun eben auch von Lehrern. Zusammen haben Nagel und die SchülerInnen | |
| einen Stundenplan entwickelt, zwei- bis dreimal pro Woche gibt Nagel | |
| Unterricht und teilt in Videokonferenzen ihren Laptopbildschirm. Die | |
| SchülerInnen haben Lerngruppen gebildet und eigene Chaträume eingerichtet, | |
| die Nagel betreten kann. „Nicht nur meine Schüler lernen, auch ich lerne | |
| gerade dazu“, sagt Nagel. „Wir entwickeln das gemeinsam weiter und werden | |
| immer besser.“ Die meisten Schüler hätten sie sogar gebeten, in den Ferien | |
| weiterzumachen: Sie freuten sich auf jede Stunde und auf die sozialen | |
| Kontakte. | |
| An der Berg-Fidel-Schule ist die enge Beziehung zwischen LehrerInnen, | |
| SchülerInnen und Eltern anders als an vielen anderen Schulen eingeübt. | |
| Trotzdem rechnet Schulleiter Stähling damit, dass SchülerInnen rausfallen | |
| werden. „Sie haben es dann, wenn die Schulen irgendwann wieder öffnen, | |
| doppelt schwer.“ Er appelliert daher an die Politik, jetzt auch darüber | |
| nachzudenken, wie SchülerInnen, die in armen Verhältnissen leben, durch die | |
| Digitalisierung des Unterrichts nicht noch stärker abgehängt werden. | |
| Laptops, die den Schulen schnell zum Ausleihen an Kinder zur Verfügung | |
| gestellt würden, seien eine Möglichkeit. | |
| Bund und Länder wollen dagegen erst mal 100 Millionen Euro aus dem | |
| Digitalpakt für Lernsoftware zur Verfügungen stellen. Doch die hilft dann | |
| vor allem jenen Kindern, die zu Hause alles haben: Laptop, WLAN und eine | |
| Raum zum Lernen. | |
| 2 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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