# taz.de -- Proteste in Georgien: Jung, kreativ und im Widerstand | |
> Erst wurden in Georgien die Kulturinstitutionen auf Linie gebracht. Jetzt | |
> soll mit der Zivilgesellschaft das Gleiche geschehen. Doch die wehrt | |
> sich. | |
Bild: Die EU-Flagge als Symbol: Tbilissi am 13. Mai 2024 | |
Am 26. März hat sich die georgische Fußballnationalmannschaft in einem | |
nervenaufreibenden Spiel gegen Griechenland durchgesetzt und sich damit | |
erstmals in der Geschichte Georgiens für die Europameisterschaft | |
qualifiziert. Dieser Sieg hatte eine symbolische Bedeutung, die weit über | |
seinen sportlichen Wert hinausging. | |
Für tausende Menschen, die in dieser Nacht in den Straßen von Tbilissi | |
feierten, war dies ein Vorgeschmack auf die georgische EU-Mitgliedschaft. | |
Im vergangenen Jahr erhielt Georgien den Status eines EU-Kandidaten mit | |
Aussicht auf Beitrittsverhandlungen. Die Fußballmannschaft war dem Rest des | |
Landes nur einen Schritt voraus. | |
Diese Feierstimmung, die es in Georgien lange nicht gegeben hatte, hielt | |
nur wenige Tage an und wich bald einer fast verzweifelten Empörung. Mit dem | |
von der regierenden Partei „Georgischer Traum“ im April 2024 eingebrachten | |
Gesetzentwurf zur „Transparenz des ausländischen Einflusses“ steht nun die | |
Zukunft der Demokratie, aber auch die [1][europäische Zukunft Georgiens] | |
auf dem Spiel. | |
Der Gesetzentwurf ist nicht nur innenpolitisch und außenpolitisch brisant: | |
Er bringt die Vielschichtigkeit der politischen, gesellschaftlichen und | |
kulturellen Probleme wie ein Krankheitssymptom an die Oberfläche. | |
## Rammbock gegen die Zivilgesellschaft | |
Innenpolitisch ist er wie sein russisches Vorbild ein Rammbock gegen die | |
Zivilgesellschaft. Die Regierungspartei wird vom reichsten Mann Georgiens, | |
Bidsina Iwanischwili, kontrolliert, der sein Vermögen, das etwa einem | |
Drittel des georgischen Bruttoinlandsprodukts entspricht, in Russland | |
erworben hat. In den vergangenen 12 Jahren hat Iwanischwili seine Macht | |
immer autoritärer ausgebaut. | |
Er kontrolliert das Parlament, die Regierung, die Justiz und die größten | |
Medien des Landes. Da er befürchtet, die Parlamentswahlen im Herbst 2024 zu | |
verlieren, sucht er nach Wegen, an der Macht zu bleiben. Mit dem | |
umbenannten „Transparenzgesetz“, das früher als „Agentengesetz“ bekannt | |
war, möchte er nun auch die Zivilgesellschaft als verbliebenen unabhängigen | |
Akteur ausschalten. | |
Iwanischwili trat in Georgien ursprünglich als Mäzen auf, insbesondere als | |
Förderer der Kultur. Er unterstützte die Renovierung von | |
Kultureinrichtungen, finanzierte großzügig Kunst-, Kultur- und | |
Sportpersönlichkeiten. Doch bereits damals zeigte sich Iwanischwilis | |
kulturelles Bild. | |
Die Spenden betrachtete er als Investition, die zu einem späteren Zeitpunkt | |
Rendite bringen sollte. Diese Rechnung ging 2012 und in den folgenden | |
Jahren auf, insbesondere bei der älteren Generation der Kulturschaffenden, | |
von denen viele ihm bis heute treu ergeben sind, wie etwa der einst | |
legendäre Theaterregisseur Robert Sturua. | |
## Wichtige Kulturinstitutionen gleichgeschaltet | |
Doch Iwanischwili ging es nie um die Freiheit von Kunst, Kultur und | |
Wissenschaft, sondern um Kontrolle. Die Kulturinstitutionen, die zwar vom | |
Staat finanziert, aber administrativ unabhängig und von der jüngeren | |
Generation geleitet wurden, gerieten zunehmend ins Visier seines Regimes. | |
Das Georgische Buchzentrum, das mit dem [2][Gastlandauftritt] auf der | |
Frankfurter Buchmesse 2018 [3][das erfolgreichste Kulturereignis Georgiens] | |
seit Jahrzehnten durchführte, das Schriftstellerhaus, das sich zu einer | |
wichtigen Kulturinstitution des Landes entwickelt hat, und das georgische | |
nationale Filmzentrum, das für den Aufbruch des georgischen Films, | |
insbesondere des Dokumentarfilms stand, wurden in den vergangenen Jahren | |
gleichgeschaltet. | |
Die erfolgreichen Teams und ihre Leiter wie etwa Gaga Chkheidze, der | |
ehemalige Leiter des Filmzentrums, der letztes Jahr mit der Goethe-Medaille | |
ausgezeichnet wurde, wurden entlassen. Die Positionen wurden an Parteikader | |
vergeben – wie Keti Dumbadze, eine ehemalige Abgeordnete des Georgischen | |
Traums, die letztes Jahr für das Agentengesetz gestimmt hat und nun mit dem | |
Direktorenposten des Schriftstellerhauses belohnt wurde. | |
Viele Künstler und Wissenschaftler gründen nun unabhängige Gewerkschaften | |
und Organisationen und boykottieren die staatlichen Einrichtungen, die vom | |
Iwanischwili-Regime gekapert wurden. | |
## Talent mit Regimetreue ersetzt | |
So wurde während der Berlinale 2024 das „Georgische Filminstitut“ | |
gegründet, das den georgischen Filmemachern unter anderem Koproduktionen | |
ermöglichen soll. Es handelt sich jedoch nicht nur um einen reinen | |
generationalen Unterschied. Die prominenteste Filmregisseurin Georgiens, | |
die 95-jährige Lana Gogoberidse, ist eine aktive Gegnerin des | |
„Agentengesetzes“. | |
Das, was in der Kulturszene des Landes passiert, zeigt im Kleinen das Bild | |
des ganzen Landes. Die Kulturinstitutionen haben gezeigt, wie ein freies, | |
demokratisches Georgien hätte aussehen können: Professionalität, fairer | |
Wettbewerb und offene Diskussionen haben zum Aufbruch und zu Erfolgen in | |
der Kultur geführt. | |
Im Gegensatz dazu dienen die nun politisch kontrollierten | |
Kulturinstitutionen nur als Propagandainstrumente des Regimes und | |
verkommen zu Entlohnungseinrichtungen für Regimetreue, die jedoch | |
künstlerisch wenig zu bieten haben. Aber auch aus anderen Bereichen wird | |
Talent und Professionalität verbannt und mit der Regimetreue ersetzt. | |
Die Ausschaltung der Zivilgesellschaft, der Freiheit des Ausdrucks und der | |
Kunst braucht Iwanischwili, um sein bizarres Weltbild kritiklos gelten zu | |
lassen. | |
## Nationalistische und antikoloniale Parolen | |
Vor seinen Anhängern sprach der Oligarch von der „globalen Kriegspartei“ �… | |
so bezeichnet er den Westen –, die mit Hilfe der georgischen | |
Zivilgesellschaft eine Revolution in Georgien anzetteln wolle, um dem Land | |
seine Souveränität zu nehmen. Wie in Russland bedient sich Iwanischwili | |
einer paradoxen Mischung aus nationalistischen, konservativen und | |
antikolonialen Parolen. | |
Er spricht von Souveränität und Würde, die angeblich vom Westen | |
eingeschränkt werden, von konservativen Familienwerten, die scheinbar | |
ebenfalls vom westlichen, den Georgiern aufgezwungenen Geschlechterbild | |
bedroht seien, und von den kolonialen Eliten – damit meint er georgische | |
Nichtregierungsorganisationen, die seiner Meinung nach im Interesse | |
ausländischer Mächte gegen das eigene Land agieren würden. | |
Diese ideologische Giftmischung hat jedoch keinen gesellschaftlichen | |
Rückhalt, sondern dient nur dazu, die Macht zu sichern. Noch bevor das | |
Gesetz am 14. Mai endgültig verabschiedet wurde, griff das Regime Personen | |
aus der Zivilgesellschaft an: Telefonterror, Angriffe durch | |
Schlägertruppen, Verhaftung von Aktivisten und Rufmordkampagnen – das | |
Repertoire der Einschüchterung ist breit. | |
Iwanischwili glaubte, den richtigen Zeitpunkt für den Griff nach der | |
endgültigen Festigung seiner Macht gewählt zu haben. Doch in diesem Punkt | |
ging sein Kalkül nicht auf. Bereits die Ankündigung des Gesetzentwurfs | |
brachte zehntausende Menschen auf die Straßen von Tbilissi und anderen | |
georgischen Großstädten. Weder die Verwandlung Georgiens in ein | |
oligarchisches Regime noch seine Rückkehr hinter den neuen russischen | |
Eisernen Vorhang sind für die absolute Mehrheit der Georgierinnen und | |
Georgier akzeptabel. | |
## Proteste von der Jugend initiiert | |
Die Massenproteste wurden nicht von der Opposition und den NGOs initiiert, | |
sondern von der georgischen Jugend, die bisher als völlig unpolitisch galt. | |
Studentinnen und Studenten sowie Schülerinnen und Schüler gingen auf die | |
Straße, um ihre Zukunft zu verteidigen. Ihr Protest ist friedlich und | |
kreativ. Jede Demo verwandelt sich in eine Performance auf der riesigen | |
Bühne der georgischen Städte. | |
Seit einem Monat demonstrieren sie – unterschiedliche Zahlen werden | |
genannt, fest steht jedoch, dass es seit der Unabhängigkeit Georgiens noch | |
nie so viele Demonstrationen gab. Studierende vieler Universitäten streiken | |
bereits. Es sind jedoch nicht nur politische, intellektuelle oder | |
künstlerische Eliten, die heute auf die Straße gehen. Die Rufe nach einem | |
Generalstreik werden lauter. Das, was in diesen Tagen auf den Straßen der | |
georgischen Großstädte passiert, wird von vielen als Geburt einer | |
Willensnation bezeichnet. | |
Vor wenigen Tagen, als die Berliner Philharmoniker mit der weltberühmten | |
georgischen Geigerin Lisa Batiashvili zu einem – für Georgien historischen | |
– Gastspiel in Georgien waren, wehten in der Oper von Tbilissi die | |
EU-Fahnen. Die EU steht vor allem für ein Versprechen einer anderen | |
politischen Kultur, die sich radikal von den 70 Jahren der Sowjetunion und | |
den 30 Jahren der postsowjetischen Zeit unterscheidet. | |
Der georgische Philosoph Merab Mamardaschwili hat zwischen der | |
chronologischen und der historischen Zeit unterschieden. Auch wenn der | |
Zerfall der Sowjetunion chronologisch bereits 30 Jahre zurückliegt, kämpft | |
die Gesellschaft in Georgien, so wie die in der Ukraine, in Moldau und | |
Belarus, gerade heute für die Neugründung: für den Rechtsstaat, die soziale | |
Gerechtigkeit und die Rückgewinnung politischer Macht durch die | |
Bevölkerung. Dieser Kampf wird unter den Voraussetzungen geführt, für die | |
symbolisch die EU-Fahne steht. | |
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Leibniz-Zentrum für | |
Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Er lebt in Berlin und Tbilissi. | |
19 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Agenten-Gesetz-in-Georgien/!6007703 | |
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[3] /Buchmesse-Gastland-Georgien/!5538402 | |
## AUTOREN | |
Zaal Andronikashvili | |
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