| # taz.de -- Frankfurter Buchmesse 2018: Der gelebte Stolz einer Kulturnation | |
| > Das Gastland Georgien ist reich an Kulturschätzen. Doch um die | |
| > Selbstpräsentation in Frankfurt herrscht bereits jetzt ein „leiser | |
| > Kulturkampf“. | |
| Bild: Ein Land, das Traditionen pflegt: Kinder beim Folkfestival in Tbilissi. | |
| Manche Angebote muss man annehmen. Es gab da also diese Einladung des | |
| Nationalen Buchzentrums von Georgien, in dieses schöne Land zwischen | |
| Schwarzem Meer und Kaukasus zu fahren; das wird zwar erst in drei Jahren, | |
| im Oktober 2018, Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, mit den | |
| Vorbereitungen hat man aber längst begonnen. Und es war eine gute Idee, | |
| diese Reise tatsächlich anzutreten. | |
| Schon mit der Frage, was Georgier denn meinen, wenn sie „Kultur“ sagen, war | |
| man mittendrin in den faszinierend komplexen Selbstverständnisfragen eines | |
| Landes von gerade einmal vier Millionen Einwohnern, das nach Westen strebt, | |
| aber weit im Osten liegt und im Norden prekär [1][an das übermächtige | |
| Russland grenzt], mit dem es eine 200-jährige Geschichte von Unterdrückung | |
| und Kollaboration teilt. | |
| Das Erste, was viele Georgier meinen, wenn sie von Kultur sprechen, sind | |
| alte Dinge. Was es da gibt, ist auch atemberaubend. 5.000 Jahre alte, | |
| sorgfältig künstlerisch bearbeitete Goldstücke kann man wunderbar | |
| präsentiert im Goldschatz des Nationalmuseums in Tbilissi sehen. Als selbst | |
| bei den alten Griechen die Erfindung des Abendlands noch in weiter Ferne | |
| lag, existierte in Georgien bereits eine Hochkultur. Und die kulturellen | |
| Leistungen dauerten an. Bei Mzcheta, der antiken Hauptstadt, steht eine | |
| großartige Kreuzkirche aus dem 6. Jahrhundert. | |
| Wer das Glück hat, von Buda Kudava, dem Direktor des [2][National Centre of | |
| Manuscripts], durch sein Reich geführt zu werden, kommt aus dem Staunen | |
| erst recht nicht mehr heraus. Tausend Jahre alte Handschriften verströmen, | |
| als eine Art Tor ins Erbe der Menschheit, eine eigene Gewichtigkeit und | |
| Aura. Vor allem aber sieht man, wie alt und tief der kulturelle Austausch | |
| in dieser Weltgegend von jeher war. Da gibt es Handschriften, die von | |
| georgischen Mönchen auf dem Berg Sinai verfertigt wurden, dazwischen finden | |
| sich persische Illustrationen. | |
| ## Kultur versus Wirtschaft | |
| Christliche, jüdische, kaukasische, orientalische, griechische, russische | |
| Einflüsse, das alles überlagert sich hier seit Jahrtausenden. Was sich auch | |
| in der Architektur und nicht zuletzt im Essen zeigt. Und mittendrin hat | |
| sich Georgien eine [3][eigene nichtindogermanische Sprache] und eine | |
| [4][ganz eigene Schrift] bewahrt. | |
| Solche alten Dinge zeigen einem die Georgier gerne. Hier offenbart sich der | |
| gelebte Stolz einer Kulturnation, die den zentralen Boulevard ihrer | |
| Hauptstadt, den Rustaweli-Boulevard, nach einem Dichter aus dem 12. | |
| Jahrhundert benannt hat. Allerdings zerschellt dieser kulturelle Stolz | |
| allzu oft an aktuellen wirtschaftlichen Interessen. So soll das Gebäude des | |
| Manuskript-Archivs einem modernen Wohnkomplex weichen, und Buda Kudava war | |
| eigentlich gerade entlassen, als unsere Besuchergruppe bei ihm eintraf, | |
| weil er sich gegen diese Pläne stellte; dass er die Besucher dennoch durch | |
| seine Schätze führt, ist Ehrensache. | |
| Bei dieser Präsentation alter Dinge gibt es einen Hintergedanken. Georgien | |
| wolle „zurückkehren in die große Familie der europäischen Staaten“, so | |
| lautet die Formel, die einem Politiker vorbeten, wenn man sie trifft. Der | |
| Kultur wird bei dieser Rückkehr nach Europa, die natürlich vor allem auch | |
| [5][eine Abwendung von Russland] ist, ausdrücklich eine „führende Rolle“ | |
| zugesprochen. | |
| In der Tat bräuchte Georgien um seine historischen kulturellen Schätze nur | |
| ein Schleifchen zu binden und könnte sich so leicht als eine Art Museum | |
| europäischer Frühgeschichte präsentieren. Aber will man das wirklich? | |
| Schließlich ist Kultur auch gelebter gegenwärtiger Austausch, ist aktuelle | |
| individuelle Ausdrucksfülle und, auch das, Selbsthinterfragung. | |
| ## Innergesellschaftliche Reflexion | |
| Dass es jedenfalls für einen gelungenen Auftritt auf der Frankfurter | |
| Buchmesse nicht ausreichen wird, die Traditionen aufzupolieren, scheint im | |
| Umfeld der georgischen Organisatorinnen des Gastlandprojekts vielen | |
| Menschen klar zu sein (es sind hauptsächlich mittdreißigjährige, gut | |
| ausgebildete Frauen, die die Kärrnerarbeit der Organisation machen, auf | |
| Männer trifft man eher auf der Direktoren- oder der Fahrerebene). Aber ob | |
| sich tatsächlich ein offener Kulturbegriff durchsetzen wird, ist noch | |
| längst nicht klar. | |
| Das war das eigentlich Interessante an dieser Reise. Im Hinblick auf die | |
| literarische Präsentation 2018 in Frankfurt lag sie noch zu früh. Deutsche | |
| Verleger waren mitgereist, um Kontakte zu knüpfen und Übersetzungen | |
| einzutüten. Das alles läuft jetzt an. Aber auf die Gastland-Einladung | |
| müssen in dem Land selbst eben nicht nur literarische Auswahlverfahren in | |
| Gang gesetzt werden – welche Autorennamen will man in den Vordergrund | |
| rücken, welche Übersetzungen werden gefördert? –, sondern auch komplizierte | |
| innergesellschaftliche Reflexionsprozesse. | |
| Ein Gastland der Frankfurter Buchmesse kann sich präsentieren, wie es will. | |
| Damit ist eine interessante Frage verbunden: Wie will man sich denn | |
| präsentieren? Das eigene Selbstverständnis ist, jedenfalls in einer freien | |
| Gesellschaft, schließlich keineswegs vorgegeben, weder von den Traditionen, | |
| noch von der Kirche, und auch nicht von der Politik. Es ist das Ergebnis | |
| ständiger Diskussionen, und die werden in Georgien nun herausgefordert. | |
| Viel hört man dabei von einer Unterscheidung zwischen einer „alten“ und | |
| einer „jungen“ Generation. Zur alten Generation zählen neben den | |
| Traditionalisten auch die Vertreter einer russisch geprägten | |
| Intelligenzija. Nicht, dass sie Putin-Anhänger wären, aber von ihrem ganzen | |
| intellektuellen Zuschnitt könnten sie einem russischen Roman entspringen. | |
| Sie sind eindeutig E-Kultur-Anhänger, kommunizieren mit Tolstoi und auch | |
| mit Hölderlin auf Augenhöhe und können mit einer westlich geprägten | |
| Popkultur zum Beispiel gar nichts anfangen. | |
| ## Kontaktpflege nach Deutschland | |
| Kann gut sein, dass sie sich unter einem gelungenen Messeauftritt eher | |
| andächtige Klassikerlesungen vorstellen als die professionell aufgezogene | |
| PR-Schau unter der verschärften Aufmerksamkeitskonkurrenz der weltweit | |
| größten Buchmesse, die der Auftritt, um nicht unterzugehen, aber in | |
| Wirklichkeit nun einmal auch sein muss. | |
| Und so muss sich die „junge“ Generation, die den Gastland-Auftritt | |
| vorantreibt, nun nicht nur um eine verstärkte Übersetzerförderung, um | |
| Kontaktpflege nach Deutschland und um Interesse seitens der georgischen | |
| Autoren kümmern, sondern auch um Anerkennung innerhalb der kulturellen | |
| Szenen Georgiens, in der natürlich jeder jeden kennt. | |
| Alt, jung, das sind grobe Raster. Vielleicht sollte man eher von einem | |
| leisen Kulturkampf innerhalb der georgischen Szene sprechen. Auf der einen | |
| Seite stehen Autoren und Intellektuelle, die mit dem Gastlandauftritt die | |
| Hoffnung auf eine Würdigung ihrer Leistungen, ohne sich groß ändern zu | |
| müssen, verbinden. Und auf der anderen Seite stehen Menschen, die den | |
| Gastlandauftritt gerade auch als Chance begreifen, das eigene Land zu | |
| modernisieren und international durchzulüften. | |
| Vielleicht war dieser Kulturkampf nun einfach fällig. In der Kunstszene von | |
| Tbilissi, etwa beim CCA, dem (von der deutschen Volkshochschulstiftung | |
| geförderten) [6][Centre of Contemporary Art], trifft man auf junge | |
| Künstler, die selbstverständlich nach London und New York schauen und als | |
| Videokünstler natürlich zur Videonale nach Bonn fliegen. Das Erste, was man | |
| einem georgischen Kunststudenten beibringen müsse, sei Eigeninitiative, | |
| hört man dort, was man durchaus als Beitrag zur Bildung einer | |
| Zivilgesellschaft verstehen kann. Georgien ist eben auch ein | |
| Transformationsland. Eigeninitiative wurde in Sowjetzeiten nicht gerade | |
| gefördert. | |
| ## „Das achte Leben“ | |
| Und im Feld der Kunst gibt es so eine großartige Figur wie den Maler Karlo | |
| Katscharawa, der, bevor er 1994 gerade einmal 30-jährig starb, sich viel | |
| von der deutschen Neuen Wilden Malerei hat inspirieren lassen und zu Zeiten | |
| des Mauerfalls nach Deutschland reiste. Seine expressiven Bilder haben auch | |
| einem deutschen Publikum etwas über die Wildheit gesellschaftlicher | |
| Umbrüche zu sagen. | |
| So eine Internationalität, Offenheit und Selbstreflexion wünscht man auch | |
| für die georgische Literaturszene. Immerhin, Nino Haratischwili, die ihren | |
| 1.000-seitigen Georgien-Roman „Das achte Leben“ in Deutschland und auf | |
| Deutsch schrieb (eine Übersetzung ins Georgische soll 2016 erscheinen), ist | |
| in die Buchmessen-Vorbereitungen eingebunden. | |
| Und die Politik? Als Finnland im vergangenen Jahr Gastland war, gab der | |
| Staat Geld und ließ ansonsten die stolze Bürgergesellschaft, die sich da | |
| präsentierte, selbstverständlich gewähren. Das ist in Georgien anders. Der | |
| Staat ist irgendwie immer mit dabei (die orthodoxe Kirche im Hintergrund | |
| auch, „Harry Potter“ wurde etwa faktisch mit einer Art Bann belegt). | |
| ## Ein Modernisierer | |
| Dabei ist die Rolle des Staates bei den Gastlandvorbereitungen derzeit | |
| nicht leicht zu fassen. Das liegt an Mikheil Giorgadze, der erst seit acht | |
| Monaten Kulturminister Georgiens ist und mit einem großen Pfund wuchern | |
| kann: Er hat sich nicht in dieses Amt gedrängt. Der 54-Jährige gehört | |
| keiner Partei an und organisierte als privater Musikmanager Jazzfestivals, | |
| als er gebeten wurde, das Amt zu übernehmen. | |
| Im Hintergrundgespräch in seinem Dienstzimmer vertritt auch Mikheil | |
| Giorgadze das Mantra von der Rückkehr nach Europa durch Kultur, zugleich | |
| vermittelt er einem aber auch glaubhaft den Eindruck eines Modernisierers. | |
| Unter den Kulturfunktionären des Landes hat er gerade einen | |
| Diskussionsprozess initiiert, nach welchen Kriterien Kultur bewertet und | |
| gefördert werden soll. | |
| Was auch immer 2018 beim Gastlandauftritt herauskommen mag, immerhin | |
| scheint er jetzt schon solche offenen Diskussionen anzuregen – die in | |
| diesem Land voller Widersprüche wohl aber stets ein heikler Prozess bleiben | |
| werden. Auch die Gastlandeinladung nach Frankfurt ist ein Angebot, das man | |
| erst einmal annehmen muss. | |
| 30 May 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Demonstrationen-in-Georgien/!149584/ | |
| [2] http://www.manuscript.ge/?ln=eng | |
| [3] http://de.wikipedia.org/wiki/Georgische_Sprache | |
| [4] http://de.wikipedia.org/wiki/Georgisches_Alphabet | |
| [5] /!141152/ | |
| [6] http://www.cca.ge/ | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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