# taz.de -- Pazifismus in Zeiten des Krieges: Hart, aber nötig | |
> Pazifismus konnte den Ukrainekrieg nicht verhindern. Das alte Ideal im | |
> Sinne der UN-Charta ist dennoch nötig, um den Krieg tatsächlich zu | |
> beenden. | |
Bild: Die Peace-Flagge weht im rauen Gegenwind | |
Pazifismus ist nichts für Weicheier. Wenn es dazu noch eines Beweises | |
bedurft hätte, haben die mittlerweile acht Monate Krieg gegen die Ukraine | |
ihn erbracht. Wer sich skeptisch gegenüber weiteren Waffenlieferungen | |
äußert, [1][die Ansicht verbreitet, dass an Verhandlungen kein Weg | |
vorbeiführe] oder gar die Utopie einer Welt nicht aufgeben will, die auch | |
gewaltsame Konflikte am Ende gewaltlos lösen kann, wird von allen Seiten | |
zusammengeschossen. Selbst von ehemals Gleichgesinnten. | |
Denn auch einst stolz Zivildienstleistende, die den Akt der | |
Kriegsdienstverweigerung wie einen Orden an der Brust tragen, eilen mit | |
fliegenden Fahnen an die Front. | |
Dort trifft man keineswegs nur solche Egotypen wie FDP-Chef Christian | |
Lindner, der heute ganz offen zugibt, dass er als junger Mann den | |
Wehrdienst nur deswegen vermieden hat, [2][weil der zivile Ersatzdienst | |
besser zu seinen Geschäften als upstartender Yuppie mit Lederkoffer | |
passte]. Das klingt rückblickend wie ein Beleg der vielfach vertretenen | |
These, dass die Kriegsdienstverweigerer in den 80ern vor allem Drückeberger | |
waren. Aber es ist kein Grund zur Häme. Im Gegenteil. Wenn ein 18-Jähriger | |
erkennt, dass der [3][Bundeswehrdienst] ökonomisch betrachtet verballerte | |
Zeit ist, zeugt das ja von einer gewissen Lebensweisheit. Peinlich ist | |
allenfalls, dass Lindner sich später quasi als Lebenslauf-Update doch noch | |
zum Reserveoffizier berufen ließ. | |
Das könnte man mittlerweile auch Typen wie Anton Hofreiter zutrauen. Seit | |
Beginn des Anti-Ukraine-Krieges kämpft der bei den Grünen an vorderster | |
Front für Waffenlieferungen nach Kiew. [4][2015 hatte er das noch klar | |
abgelehnt], weil es keine militärische Lösung des Konflikts geben könne. | |
Immerhin muss er sich nicht vorwerfen lassen, als ehemaliger | |
Kriegsdienstverweigerer zum Waffenfan geworden zu sein. Er war als junger | |
Mann ausgemustert worden. Glück gehabt. | |
Pazifismus in Zeiten schweigender Waffen ist ein modisches Accessoire, das | |
man sich wie den Button mit der Friedenstaube ans Revers heftet. Wenn es | |
wie jetzt zur Sache geht, verschwindet er bei den meisten schnell in der | |
Kiste mit den anderen Jugendidealen, die man sich abgeschminkt hat. | |
Schlaghose, Palituch, [5][BAP-Platte], Peace-Zeichen. Alles verdammt lang | |
her. | |
In Kriegszeiten praktizierende Pazifisten hingegen gelten schnell auch mal | |
als Verräter. Wer in der Ukraine selbst aus guten Gründen [6][nicht an die | |
Front] will, [7][muss sich verstecken oder fliehen]. Wer als Russe nicht | |
auf Ukrainer:innen schießen will, wird bei der Flucht [8][in | |
Nachbarstaaten gar als Sicherheitsrisiko eingestuft]. Deserteur gilt in | |
Zeiten des Kriegs oft als Schimpfwort. Anerkennung darf man, wenn | |
überhaupt, erst Jahrzehnte später erwarten. Wie gesagt: Pazifismus ist | |
nichts für Softies. | |
Hinzu kommt: Der Pazifismus leidet mal wieder extrem unter einer ganzen | |
Reihe seiner Fürsprecher:innen. Da sind zum einen die offensichtlichen | |
Putin-Versteher:innen, [9][mit denen man ums Verrecken nicht einer Meinung | |
sein möchte]. Die sind auch keineswegs gegen Gewalt, sondern allenfalls | |
gegen Gewalt gegen Russland. Zum anderen sind da die Friedensfürsten, die | |
mit einer unerträglichen Hybris mittlerweile [10][nahezu täglich im TV oder | |
in einer großen Zeitung darüber klagen dürfen], dass sie nicht zu Wort | |
kämen. Als wäre Pazifismus nur was für Labertaschen. | |
Es steht also wahrlich nicht gut um den Pazifismus. Gehört er deshalb auf | |
den Schrotthaufen gescheiterter Ideologien? Zeigt nicht gerade der | |
menschenverachtende Angriffskrieg Russlands, dass Anhänger:innen | |
gewaltloser Strategien jetzt einfach mal die Klappe halten sollten? Weil | |
nur Panzer Putin zeigen, wo der Hammer hängt? | |
Ohne Zweifel muss man eingestehen: Pazifismus hat den Krieg nicht | |
verhindern können. Und er wird ihn auch nicht stoppen, zumindest nicht, | |
wenn man ihn nur mit dem Klischeebild von tanzenden Hare-Krishnas | |
verbindet, die singend an die Front ziehen, um die Soldaten von ihrem Tun | |
abzuhalten. Als wäre Pazifismus nur was für Traumtänzer. | |
Die Frage an alle, die den Pazifismus nun als weltfremd geißeln, muss | |
trotzdem lauten: Was ist ihre Alternative? Denn auch alle anderen | |
Deeskalationstools, die die Weltgemeinschaft bereithält, haben diesen Krieg | |
nicht verhindern können. | |
Da ist zum einen der Kapitalismus, von dem seine Anhänger:innen | |
glauben, dass er alle Probleme der Welt von allein lösen kann. Im Falle | |
Russlands setzen die Marktapologeten auf das altbewährte Konzept Wandel | |
durch Handel. Oder wenigstens: Annäherung durch Handel. Das ist | |
grundsätzlich nicht falsch. Im Gegenteil. Nichts ist besser zur | |
Konfliktvermeidung als eine gegenseitige Öffnung. Das hat ja schon [11][in | |
den 1970ern unter Willy Brandt] zwischen BRD und DDR funktioniert. | |
## Geschäfte mit Oligarchen führen zu einem erhöhten Preis | |
Dummerweise hat der Kapitalismus einen systemimmanenten Fehler: Ihm gelingt | |
die eigentlich notwendige Internalisierung externer Kosten nicht. Kurz: In | |
den Preis für Güter am Markt fließen nur die Kosten ein, die | |
Anbieter:innen und Hersteller:innen nicht auf andere abwälzen | |
können. Bananen aus Ecuador sind billig in deutschen Supermärkten, | |
[12][weil das Leiden der Plantagenarbeiter:innen nicht eingepreist | |
ist]. Autofahren ist günstig, weil die Folgen fürs Klima nicht mitbezahlt | |
werden müssen. Und Gas aus Russland war preiswert, weil beim Import das | |
spätestens seit 2014 bekannte Sicherheitsrisiko für die Ukraine keine Rolle | |
spielte. Dass es dennoch bezahlt werden muss, sieht man [13][aktuell Tag | |
für Tag]. Kapitalismus ist nur was für Ausblender. | |
Hinzu kommt, dass beim Russland-Gasgeschäft ein Anfängerfehler begangen | |
wurde, den jeder nach einem Semester Betriebswirtschaftslehre auf dem | |
Schirm hat: Geschäfte mit Monopolisten, aber auch mit marktbeherrschenden | |
Oligarchen führen immer zu einem erhöhten Preis. Denn sie machen die | |
Abnehmer:innen erpressbar. Und dass der zu zahlende Preis sich, wie bei | |
den exorbitant gestiegenen Gasrechnungen, keineswegs nur in Euro oder Rubel | |
berechnen lässt, zeigen die Bilder [14][von den Raketeneinschlägen in der | |
gesamten Ukraine]. | |
Als Friedensgarant hat der Kapitalismus damit auf ganzer Linie versagt. | |
Gescheitert ist auch die Strategie der militärischen Abschreckung. Wie | |
das?, werden nun viele entgegnen. War die Armee der Ukraine nicht einfach | |
nur zu schwach, um Putin vom Angriff abzuhalten? Wenn man seinen Fokus | |
allein auf das Kräfteverhältnis zwischen Russland und Ukraine richtet, mag | |
das stimmen. Weitet man den Blick, erkennt man die Schieflage: [15][Der | |
Besitz von Atomwaffen hat den konventionellen Krieg nicht verhindert, | |
sondern ermöglicht]. | |
Eine Rückkehr zu den alten Geschäftsbeziehungen mit Russland verbietet sich | |
von selbst. Die westlichen Staaten tun gut daran, sich von russischen | |
Energielieferungen unabhängig zu machen. Schon um wenigstens auf dieser | |
Flanke nicht mehr erpressbar zu sein. | |
Und eine militärische Lösung? Selbstverständlich, das kann man gar nicht | |
oft genug betonen, hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen. Jeder | |
Schlag gegen das russische Militär ist ein Grund zur Freude. Doch selbst | |
wenn die Ukraine sich komplett befreien könnte, Putin besiegen wird sie | |
nicht. Dafür müsste sie den Despoten aus dem Kreml vertreiben. Das ist | |
nicht einmal denkbar. | |
Der Krieg könnte damit allenfalls zum Stillstand kommen, in etwa so wie | |
nach 2014, vielleicht mit einem etwas günstigeren Frontverlauf. Aber er | |
wird weiterschwelen. Befriedigend im Wortsinne ist das nicht. Zumal Putin | |
[16][durch die Annexionen] die Grenzen für einen Einsatz von Atombomben so | |
verschoben hat, dass es für die Ukraine unakzeptabel sein muss. | |
Was also bleibt? Verhandlungen! Und zwar im Sinne des vom pazifistischen | |
Weltgeist nach 1945 beschlossenen Artikel 33 der UN-Charta. Streitigkeit, | |
deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der | |
internationalen Sicherheit zu gefährden, heißt es dort, sollen durch | |
Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch beigelegt werden. Die UN-Charta | |
bleibt eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Sie sollte | |
dringend wieder ernst genommen werden. | |
Aber, wird an dieser Stelle gern eingewandt, mit Hitler wurde zum Glück | |
auch nicht verhandelt. Stimmt. Aber das Deutsche Reich verfügte auch nicht | |
über Atomwaffen und konnte in einem konventionellen Krieg besiegt werden. | |
Aber, sagen andere, Putin will doch gar nicht verhandeln. Stimmt, wenn auch | |
nicht ganz. Es gab schon erfolgreiche Gespräche über einen | |
Gefangenenaustausch. Das ist nicht mehr als ein Anfang, aber immerhin. | |
Aber, werfen Dritte ein, muss man Putin nicht etwas anbieten und kann die | |
Ukraine dazu gezwungen werden? Ohne Zustimmung der Ukraine geht | |
selbstverständlich gar nichts. Ohne Kompromiss aber auch nicht. | |
Deshalb muss zum Beispiel auch über den Donbass, Luhansk und die Krim | |
geredet werden können. Natürlich nicht, um sie Putin zu schenken. Sondern | |
um herauszufinden, welchen eigentlich vielleicht unerträglichen Kompromiss | |
es geben könnte, um eine atomare Eskalation zu vermeiden. Wie weit die | |
Ukraine kompromissbereit sein will, muss sie letztlich selbst entscheiden. | |
Dass sie es derzeit nicht ist, ist genauso klar wie die Tatsache, dass | |
Putin derzeit nicht verhandeln will. Aber so ein kategorisches, | |
beidseitiges Nein war historisch betrachtet eigentlich immer der | |
Istzustand, bevor es dann doch zu Friedensverhandlungen kam, bei denen | |
beide Seiten über ihren Schatten springen mussten. | |
Könnte man Putin, sollte es zu Verhandlungen, zu einem Kompromiss kommen, | |
vertrauen? [17][Das fällt schwer]. Sehr schwer. Aber Pazifismus im Sinne | |
der UN-Charta lebt vom Vertrauen darin, sich vertrauen zu können. Weil man | |
es muss. | |
Und schließlich gilt: Keine der reinen Lehren führt zum Frieden, sondern | |
nur der für alle schmerzhafte Kompromiss. Bei den großen | |
Antikriegsdemonstrationen im Frühjahr in Berlin wurden Plakate getragen, | |
die die Friedenstaube auf ukrainischen Nationalflaggen zeigten und eine | |
Flugverbotszone forderten. Also eine Art bewaffneter Pazifismus. Einer, der | |
den Einsatz von Militär nicht ausschließt, dabei aber nie vergisst, dass | |
der nur das Mittel zum Zweck sein darf: dem Erreichen einer | |
Verhandlungslösung. | |
Für Idealist:innen mag das absurd, ja hart klingen. Aber Pazifismus ist | |
eben nichts für Weicheier. | |
16 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Offene-Briefe-zum-Krieg-in-der-Ukraine/!5851981 | |
[2] https://www.politik-kommunikation.de/politik/das-unterschreibe-ich-mit-blut/ | |
[3] /Pazifismus-und-der-Ukraine-Krieg/!5858603 | |
[4] https://rp-online.de/politik/deutschland/anton-hofreiter-mehr-verantwortung… | |
[5] https://www.bap.de/songtext/zehnter-juni/ | |
[6] /Deserteure-in-der-Ukraine/!5839358 | |
[7] /Kriegsdienstverweigerer-in-der-Ukraine/!5881494 | |
[8] /Aufnahme-russischer-Deserteure/!5880272 | |
[9] https://werkzeug.heinzrudolfkunze.de/texte/texte/ichbingegendenfrieden.html | |
[10] /Ampel-redet-Schulden-schoen/!5884281 | |
[11] /Willy-Brandts-100-Geburtstag/!5052503 | |
[12] /Protest-gegen-Edeka-Bananen/!5882413 | |
[13] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[14] /Angriffskrieg-gegen-die-Ukraine/!5883722 | |
[15] /Krieg-in-der-Ukraine/!5835123 | |
[16] /Russland-annektiert-ukrainische-Gebiete/!5882841 | |
[17] /Christian-Stroebele-zum-Ukrainekrieg/!5846913 | |
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Gereon Asmuth | |
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