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# taz.de -- Erkältungswelle und fehlende Medikamente: Der Kapitalismus hat Fie…
> Fiebermedikamente für Kinder fehlen genauso wie bezahlbare Mieten. Die
> viel gerühmten Märkte regeln das nicht. Die Diagnose heißt
> Kapitalismusversagen.
Bild: Wie gut, wenn man noch ein paar Medikamente auf Vorrat hat
Neulich nachts vor der Notfallapotheke. Draußen der Vater, der quer durch
die fremde Stadt geradelt ist, weil das Kind heiß ist und vor Schmerzen
wimmert. Mittelohrzündung oder so was, was die Kleinen eben haben, gerade
wenn man mal auswärts übernachtet. Drinnen die Apothekerin mit sorgenvoll
gefalteter Stirn. Fiebersaft?, fragt sie, als sei das der Wunsch nach einem
extrem schwer zu beschaffenden Wunderelexier und nicht nach einem
handelsüblichen Schmerzmittel für Kleinkinder.
Das war im Oktober. Und da gab es anders als jetzt im Dezember noch gar
keine [1][Megaerkältungswelle], die so viele Kinder trifft, dass die
[2][Kliniken kaum noch freie Betten] haben und [3][Apothekerverbände von
einer noch nie dagewesenen Situation] sprechen.
Das Problem wird durch die akuten Erkrankungen verschärft, bestanden hat es
schon seit Monaten. Die Diagnose lautet: Das Gesundheitssystem leidet an
Kapitalismus. Genauer gesagt: Auch die Medikamentenversorgung hat jetzt mit
den Nebenwirkungen dieser Marktideologie zu kämpfen. So wie seit langem
schon die Wohnraumversorgung in Großstädten. Oder wie seit Jahrzehnten die
Umwelt. Alle leiden an akutem Kapitalismusversagen.
## Der missionarische Eifer der Marktgläubigen
Das ist ein Problem. Vor allem, weil die Wirtschaftsliberalen, die in ihrer
ideologischen Verblendung an die Vollkommenheit des Marktes glauben, mit
missionarischem Eifer den Kapitalismus als allein selig machenden Weg zum
Glück in der ganzen Welt verbreiten – Stichwort: Globalisierung. Was dann
zu so seltsamen Mutationen wie der hybriden Mischung aus
Traditionskommunismus und Hyperkapitalismus in China führt.
Aber auch ohne solche Pervertierungen hat der Kapitalismus Probleme genug.
Dabei ist er eigentlich eine schöne Idee. Weil die Besitzenden ihr Kapital
möglichst gewinnbringend einsetzen wollen und dürfen, investieren sie nur
in die Produktion von Dingen, die wirklich gebraucht oder gekauft werden.
Am Markt regeln dann Angebot und Nachfrage den Preis und alle sind
glücklich.
Schade nur, dass die dafür vorausgesetzten vollkommenen Märkte, bei denen
alle Teilnehmer:innen stets über sämtliche Informationen verfügen und
unendlich schnell reagieren können, eine schöne Theorie für
Ökonomiestudierende im ersten Semester sind. Mehr aber eben auch nicht. In
der Realität kommen sie genauso selten vor wie die Unfehlbarkeit des
Papstes, an die die Katholiken glauben, oder die immerwährende
internationale Solidarität der arbeitenden Klasse, die eine
Grundvoraussetzung für einen real funktionierenden Kommunismus wäre.
Tatsächlich sind die Märkte alles andere als vollkommen. Sie sind verzerrt
durch Wissensvorsprünge, durch legale wie rechtswidrige Absprachen oder
durch die Marktmacht großer Player. Vor allem aber das Ausklammern aller
möglichen Kostenfaktoren verzerrt die Preise – und führt damit zu falschen
Ergebnissen am Markt. Das ist systembedingt. Investoren müssen so billig
wie möglich produzieren. Um erfolgreich gegenüber der Konkurrenz zu
bleiben, wälzen sie alle Kostenfaktoren auf andere ab.
Die Kosten aber bleiben natürlich. Auch wenn sie sich nicht so leicht in
Euro und Cent bemessen lassen. Aber weil die – wie Fachleute das nennen –
Internalisierung externer Kosten nicht gelingt, leidet weltweit die Umwelt
unter der industriellen Produktion – und schreien nachts die Babys ohne
fiebersenkende Medikamente.
## Die Folgen des Preisdrucks
Denn gerade Teilmärkte – zum Beispiel der für den Fiebersaft – sind
anfällig für die Bildung von Oligarchen oder gar [4][Monopolen]. Mit
fatalen Folgen. Hier hat der Motor des Kapitalismus, der Preisdruck, dazu
geführt, dass es seit dem Sommer nur noch einen einzigen Anbieter gibt, der
in Billiglohnländern Asiens herstellen lässt. Für alle anderen war der
Wettbewerb schlicht nicht mehr rentabel.
Nun sind jedoch die für einen funktionierenden globalen Handel notwendigen
[5][Lieferketten aufgrund diverser Krisen gestört]. Weil sich hierzulande
aber eben nicht von heute auf morgen eine konkurrenzfähige Produktion
wieder hochfahren lässt, fehlt der Nachschub. Weil Expert:innen das seit
Monaten kommen sahen, haben viele die Vorratshaltung ausgebaut, so sehr,
dass viele andere nun ganz ohne dastehen. Eine Kettenreaktion wie beim
Klopapier zu Beginn der Coronapandemie. Wenn wie aktuell noch eine
Erkrankungswelle anläuft, kommt der Kapitalismus damit nicht mehr klar. Er
hat Fieber.
Marktradikale mögen nun schreien, dass wir nicht weniger, sondern mehr
Kapitalismus brauchen. Angebot und Nachfrage regeln das dann schon, bei
Knappheit steigen die Preise, bis alles wieder im Gleichgewicht ist. Schon
klar. Heißt dann aber mit anderen Worten auch nur: Fiebersäfte bekommen nur
die, die das nötige Geld haben.
Wohin so etwas führt, zeigt ein Blick auf den Wohnungsmarkt. Auch der ist
alles andere als vollkommen oder frei. Weil das Angebot so knapp ist, gibt
es kaum noch Bewegung. Wer nicht muss, zieht nicht mehr um, wodurch sich
die Zahl frei werdender Wohnungen weiter verknappt. Wer aber dringend eine
Wohnung braucht, muss nehmen, was da ist. Die Anbieter sind temporäre
Monopolisten und können die Preise diktieren. Erst diese Woche wurde
gemeldet, [6][dass die Mieten rasant steigen wie nie].
Nein, Kapitalismus ist nicht Teil der Lösung, er ist Teil des Problems. Wer
anderes behauptet, hat wenig Ahnung oder lügt. Kein Kapitalismus dürfte
allerdings auch keine Lösung sein. Nur ohne Strukturen, die die Interessen
der Konsument:innen stärken, ohne Genossenschaften von Mieter- oder
Verbraucher:innen wird er kaum zu bändigen sein.
Die Nachtapothekerin kam übrigens nach einigen Minuten aus dem Lager zurück
– mit einer Flasche Fiebersaft. Glück gehabt, weil gerade an dem Tag nach
Wochen mal wieder eine Lieferung eingetroffen war. Aber Glück allein kann
keine Lösung sein. Sonst müsste man allen empfehlen, Lotto zu spielen, als
einzigen Weg, um mit dem Kapitalismus klarzukommen.
18 Dec 2022
## LINKS
[1] /Medizinerin-ueber-Folgen-des-RS-Virus/!5902304
[2] /Erkrankungsrate-in-Deutschland/!5895627
[3] /Engpaesse-bei-wichtigen-Medikamenten/!5899340
[4] /Arzneimittelmangel-bei-Kindern/!5899285
[5] /Internationale-Lieferketten/!5863819
[6] /Angebotsmieten-in-Berlin/!5902497
## AUTOREN
Gereon Asmuth
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