# taz.de -- Medizinerin über Folgen des RS-Virus: „Es fehlt an allem“ | |
> Kinderarztpraxen werden von einer Infektwelle überrollt. Das System ist | |
> kaputtgespart worden, sagt Charlotte Schulz vom Hamburger | |
> Kinderärzteverband. | |
Bild: Ungewöhnlich frühe Infektsaison: Kinderarztpraxen können den Ansturm d… | |
taz: Frau Schulz, Sie sind Kinderärztin. Ist viel zu tun? | |
Charlotte Schulz: Das kann man sagen. Wir haben aktuell eine extrem volle | |
Infektsprechstunde – [1][wie alle anderen kinderärztlichen KollegInnen | |
auch.] | |
Wie kommt das? | |
Wir haben eine ungewöhnlich frühe Infektsaison. Sonst gibt es meistens erst | |
im Januar, Februar einen großen Ansturm von Kindern und Jugendlichen mit | |
Atemwegserkrankungen in den Praxen. Aber das ist in diesem Jahr anders. Und | |
es sind unglaublich viele Kinder. Man nimmt an, dass vor allem die ganz | |
kleinen Kinder aufgrund der Coronamaßnahmen mit Masken im öffentlichen Raum | |
und häufig geschlossenen Kitas in den letzten beiden Wintern deutlich | |
weniger Infekte hatten. Das holen sie jetzt doppelt und dreifach nach. Dazu | |
kommt eine sehr starke Influenzawelle, die gerade über uns hinwegrollt. | |
Es gibt eine Unwucht? | |
Ja. Und unser System kann mit so einer Infektwelle nicht mehr umgehen, weil | |
es an allem fehlt. Es wurden sehenden Auges durch gestrichene finanzielle | |
Mittel die ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen kleingespart. | |
Es gibt vor allem im ländlichen Raum deutlich weniger Kinderarztpraxen, | |
aber auch in einer Stadt wie Hamburg wird es immer schwieriger, unter | |
diesen Arbeitsbedingungen Nachfolger für die Praxen zu finden. Dazu kommen | |
die drastisch gekürzte Bettenzahl und der Fachkräftemangel in den | |
Kinderkliniken | |
Ihr Verband warnte in einem Brandbrief, die Lage sei „wirklich krass“. Was | |
bedeutet das konkret? | |
[2][Wir haben viel mehr zu tun als vor einigen Jahren.] Es gibt mehr | |
Vorsorgen, mehr Impfungen. Es gibt mehr chronisch kranke Kinder zu | |
betreuen, weil die Ambulanzen der Kliniken immer kleiner werden. Dazu | |
kommen geflüchtete Kinder, die wir mitversorgen. Und wir spüren die | |
Pandemie. Es gibt mehr sozialmedizinische Fälle. Viele Jugendliche haben in | |
dieser Zeit Depressionen, Angst- und Essstörungen entwickelt. | |
Die gehen zum Kinderarzt? | |
Wir sind in der Regel die erste Anlaufstelle. Aber da wir auch viel zu | |
wenig Kinderpsychologen und Kinderpsychiater haben, müssen wir das häufig | |
erst einmal kompensieren, bis die Kinder und Jugendlichen einen | |
Therapieplatz gefunden haben. | |
Wäre es sinnvoll, Kitas und Schulen schon vor den Weihnachtsferien zu | |
schließen? | |
Nein. Wir sind zwar mitten in einer heftigen Infektwelle und schauen mit | |
Sorge auf die nächsten Monate, aber auf gar keinen Fall dürfen Kitas und | |
Schulen schließen. Es hat sich ja in den Lockdown-Phasen gezeigt, wie groß | |
die Belastungen und Schäden für die Kinder und Jugendlichen sind, die aus | |
den geschlossenen Schulen, Kitas und Freizeitangeboten entstanden. | |
Und Masken in der Schule? | |
Sind auch nicht sinnvoll. Sie verschieben den Zeitpunkt der Infekte nur, | |
sie können die Infektionen, wie man aktuell sieht, nicht verhindern. | |
Außerdem erzeugen Masken eine soziale Hemmung. Dabei ist es so wichtig, | |
dass die Kinder und Jugendlichen ganz normale soziale Kontakte haben. | |
Besonders Grundschüler, die zum Teil ja erst mal die deutsche Sprache | |
lernen müssen, lesen und lautgetreu schreiben lernen sollen, können mit | |
Masken gar nicht sehen, wie sich die Lippen beim Sprechen bewegen. | |
Es heißt auch, die Gesundheitskompetenz der Familien hat abgenommen? | |
Das ist ein Punkt. Wir brauchen mehr Aufklärung für Eltern zum Umgang mit | |
gewöhnlichen Erkältungs- oder Magen-Darm-Infekten, die ohne zwingenden | |
Arztbesuch zu Hause bewältigt werden können. | |
Ging das früher besser? | |
Ich denke schon. In den Großstädten gibt es kaum noch Großfamilien. Da | |
fehlt oft die Erfahrung und Unterstützung durch Großeltern. Junge Eltern | |
sind oft unsicher und kommen auch mit einem Schnupfen zu uns. | |
Wurde früher auch mehr mit Hausmitteln kuriert? | |
Ja, mit Wadenwickeln oder Tees. Bei einer fieberhaften Erkältung können | |
Eltern heute zusätzlich Fiebermedikamente oder Nasentropfen geben, ohne | |
dass es vorher jedes Mal den ärztlichen Rat bedarf. Aber wenn Kinder jünger | |
als ein Jahr alt sind und hoch fiebern oder auch ältere Kinder über mehrere | |
Tage hohes Fieber haben, sollten sie von einem Arzt gesehen werden. Vor | |
allem, wenn sie nicht mehr ausreichend trinken, apathisch wirken oder | |
Atemnot haben. | |
Haben Eltern weniger Zeit, ein krankes Kind zu pflegen? | |
Ja. Gerade jetzt bringen die häufigen Infekte viele berufstätige Eltern in | |
Not, die immer wieder beim Arbeitgeber ihre Kind-krank-Tage einreichen | |
müssen. | |
Und fehlt wirklich Fiebersaft? | |
Das ist ein ganz, ganz großes Problem! Für Säuglinge und Kleinkinder bis | |
sechs Jahre gibt es zurzeit keine Fiebersäfte oder Fieberzäpfchen in den | |
Apotheken, die diese aktuell auch nicht nachbestellen können. Das gilt | |
sogar für einige Basis-Antibiotika. | |
Wie kann das sein? | |
Da gibt es mehrere Erklärungsansätze. Es wird von Lieferketten-Problemen | |
durch den Ukrainekrieg berichtet. Es fehlen offenbar auch die Wirkstoffe. | |
Eine weitere Erklärung macht die deutsche Preispolitik verantwortlich, | |
sodass ausländische Firmen die Medikamente lieber in andere Länder liefern. | |
Aber da legt sich niemand fest. Es gibt meines Wissens auch keine | |
Bestrebungen von Politik oder Kassen, diese Zustände zu verbessern. Dabei | |
ist dies eine Notlage, in der wir uns mit vereinten Kräften um eine Lösung | |
bemühen müssten. | |
Die Politik tut nichts? | |
Gesundheitsminister Karl Lauterbach machte zuletzt einen Vorschlag: Zur | |
Entschärfung der schlechten Versorgungssituation sollen Pflegekräfte aus | |
dem Erwachsenenbereich in die Kinderkliniken wechseln, Vorsorgen und | |
Impftermine sollen in die Praxen verschoben werden. Aber Kinder sind keine | |
kleinen Erwachsenen und brauchen eine kompetente, kinderspezifische Pflege | |
von ausgebildeten Kinderpflegekräften. Und Vorsorgen und Impfungen | |
verschieben ist auch eine völlig realitätsferne Idee. Wir wüssten gar | |
nicht, wann wir diese Termine nachholen sollten. Hinzu sind gerade die | |
Vorsorgen und Impfungen in der Kinderheilkunde wichtig, um Erkrankungen | |
früh zu erkennen oder zu verhindern. | |
Ihr Brief richtete sich doch auch an die Hamburger Politik? | |
Ja. Er ging an die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg, die das Budget | |
verwaltet, und an die Gesundheitsbehörde. Von der Behörde gab es bisher | |
leider keine Reaktion. | |
Was könnte die tun? | |
Es braucht [3][einfach mehr Geld im System.] Wir brauchen mehr Ärzte, | |
Pflegende und medizinische Fachangestellte im ambulanten Bereich und in den | |
Kliniken, um die Kinder vernünftig zu versorgen. Unsere Arbeit in den | |
Kinderarztpraxen muss endlich zu 100 Prozent honoriert werden. | |
Das passiert nicht? | |
Nein. Bei 100 Prozent Leistungserbringung werden in Hamburg nur etwa 80 | |
Prozent der Leistungen bezahlt. Wenn das Budget zum Ende des Quartals | |
aufgebraucht ist, arbeiten wir den Rest quasi umsonst. Außerdem brauchen | |
wir für die Praxen eine Gegenfinanzierung der gestiegenen Lohn- und | |
Energiekosten sowie der Inflation. Dazu wünschen wir uns gemeinsame | |
Anstrengungen von Gesundheitsbehörde und Kassenärztlicher Vereinigung. | |
Es heißt, Hamburg sei statistisch überversorgt. | |
Diese Bedarfsplanung ist nicht mehr korrekt. Wir brauchen dringend mehr | |
niedergelassene Kinderärzte. Wir erwarten, dass in den kommenden fünf | |
Jahren ein Drittel der KollegInnen in Rente geht. Das wird die Situation | |
verschärfen. | |
12 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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