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# taz.de -- Gesundheitssystem am Limit: Das Virus der Unterfinanzierung
> Die Grippewelle bringt Berlins Kinderkliniken an ihre Grenzen. Die
> Politik tut nicht genug gegen die jahrelange Unterfinanzierung, sagen
> Kritiker.
Bild: Noch keine Behandlung für gefunden: Unterfinanzierung im Gesundheitssekt…
Berlin taz | Kaum ist die Coronapandemie aus dem Fokus der öffentlichen
Aufmerksamkeit verschwunden, deckt eine weitere Virenwelle die gravierenden
Missstände in den Berliner Krankenhäusern auf: Das sogenannte RS-Virus,
kurz für Respiratorisches Synzytial-Virus, bringt die Berliner
Kinderkliniken an ihre Limits. Beim RS-Virus handelt es sich um einen
Erreger von akuten Atemwegserkrankungen, die hauptsächlich für Säuglinge
und Kleinkinder gefährlich sein können.
Laut dem aktuellen Wochenbericht zur letzten Novemberwoche des
Robert-Koch-Instituts sind bundesweit derzeit über 8,2 Millionen Menschen
von Atemwegserkrankungen betroffen. Das Institut warnt: Das wäre „deutlich
über dem Bereich der Vorjahre“ und habe bereits das Niveau der schweren
Grippewelle 2017/18 erreicht. In Berlin haben demnach wegen
Atemwegserkrankungen etwa 2.000 Menschen pro 100.000 Einwohner:innen
ihren Arzt aufgesucht. Die Zahlen umfassen neben dem RS-Virus allerdings
auch weitere Erreger.
Bereits vergangene Woche hatten Berliner Kinderärzte in einem offenen Brief
an Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) auf die dramatische Situation
hingewiesen. „Wir sehen die Gesundheit und das Leben unserer Kinder massiv
bedroht“, heißt es in dem Schreiben, das etwa von der Berliner Gesellschaft
für Kinder- und Jugendmedizin und dem Berufsverband für Kinder- und
Jugendmedizin unterzeichnet wurde.
Heftig kritisiert wird dort die Berliner Gesundheitspolitik. An den
„unverantwortbaren Zuständen“ habe sich trotz jahrelanger Kritik nichts
geändert. Es gebe „Tage, an denen in keiner der Berliner Kinderkliniken
mehr ein Bett zu finden ist“. Kinder würden wegen diesen Missständen „zu
Schaden“ kommen.
## Noch mehr Unterbesetzung droht
Auf diesen Brandbrief – [1][es ist bereits der zweite Notruf aus den
Kinderkliniken allein in diesem Jahr] – reagierte die Verwaltung zunächst,
in dem sie die Vorwürfe von sich wies. „Was wir als Land machen können, das
tun wir bereits“, sagte Staatssekretärin Armaghan Naghipour (parteilos) am
Montag im Gesundheitsausschuss. Der Bund sei für die Finanzierung des
Gesundheitssystems verantwortlich.
Ganz untätig blieb die Verwaltung dann aber doch nicht. Ende November habe
man die Kinderkliniken angehalten, planbare Eingriffe nach Möglichkeit zu
verschieben, um die Versorgung kritisch erkrankter Kinder sicherzustellen,
sagte Naghipour am Montag. Geprüft werden soll außerdem, Personal aus
anderen Stationen abzuziehen. Hierfür sollen die Personaluntergrenzen außer
Kraft gesetzt werden.
„Das ist zynisch“, kommentierte das Kalle Kunkel, [2][langjähriger
Gewerkschaftssekretär] und Aktivist im Bündnis Gesundheit statt Profite,
gegenüber der taz. Personaluntergrenzen auszusetzen bedeute „nichts
anderes, als dass in den anderen Bereichen in Unterbesetzung gearbeitet
wird“, sagte er.
Zudem sei bislang noch nichts davon zu hören, dass die durch den
Personalabzug verringerten Kapazitäten der Krankenhäuser finanziell
ausgeglichen werden. „Das würde bedeuten, dass die Kliniken alles tun
werden, um in den anderen Bereichen das Maximalprogramm aufrechtzuerhalten
– nur mit weniger Personal“, so Kunkel. Während der Coronapandemie habe es
dagegen ein solches Ausgleichssystem gegeben.
## Zusammenarbeit mit Brandenburg
Auch aus Gewerkschaftskreisen heißt es, die Beschäftigten seien zwar
dankbar für die Entlastung – doch das zusätzliche Personal müsse zunächst
eingearbeitet werden. „Die neuen Kolleg:innen sind nur wenig Hilfe, bis
sie eingearbeitet sind“, bestätigt eine Pflegerin auf einer
Neointensivstation für Früh- und Neugeborene der taz.
Auch Kunkel sieht Probleme. „Die Arbeit der Pädiatrie erfordert eine
spezielle Ausbildung und geht mit einer starken Belastung einher“, sagt er.
Personal aus anderen Abteilungen könne eigentlich nur für einfachere
Aufgaben eingesetzt werden. Doch in Notfällen sei eine Trennung kaum
möglich. Die Folge: Pfleger:innen behandeln Patient:innen, für die sie
nicht voll ausgebildet sind.
Über diese Maßnahmen hinaus hat Gotes Verwaltung angekündigt, dass die
Kinderstationen von Berliner und Brandenburger Kliniken künftig enger
zusammenarbeiten sollen. Konkret sei eine Ergänzung im sogenannten
Ivena-System geplant, in dem sich Krankenhäuser in Echtzeit über freie
Kapazitäten in anderen Standorten informieren können.
„Bisher musste viel herumtelefoniert werden, das haben wir jetzt
verändert“, sagte Gote am Dienstag dem Inforadio. Das Konzept orientiere
sich an Erfahrungen aus der Coronapandemie. Damals wurden Berlins
Intensivstationen in drei „Levels“ für jeweils unterschiedliche
Dringlichkeiten eingeteilt.
## Es braucht eine echte Revolution
Klar ist aber: Um die Situation über ein akutes Krisenmanagement hinaus zu
verbessern, werden grundsätzliche Reformen nötig sein. Seit Jahren ächzt
der Gesundheitssektor unter der Ökonomisierung des Systems. Brandbrief
reiht sich an Brandbrief, die Arbeitskämpfe reißen nicht ab. In der Kritik
steht das sogenannte Fallpauschalsystem. Dieses ordnet der Behandlung einer
jeden Krankheit einen Preis zu, den die Krankenhäuser von den Krankenkassen
erhalten.
Praktisch heißt das: Krankenhäuser, die mehr Patient:innen in kürzerer
Zeit mit weniger Personal versorgen, machen Gewinne – die anderen Verluste.
Kinderkliniken sind davon besonders betroffen, da sich Kinder meist nicht
an die vorgegebenen Behandlungszeiten halten, sondern zum Beispiel vor dem
Blutabnehmen erst einmal beruhigt werden müssen. Zudem arbeiten auf
Kinderstationen viele Spezialist:innen, die meist Notfälle behandeln – die
aber für die Krankenhäuser schlecht planbar sind. In der Folge sind
Kinderstationen chronisch unterfinanziert.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will diesem System nun den
Kampf angesagt haben. Für die Pädiatrie sieht die von ihm angekündigte
„Revolution“ des Systems aber lediglich den Zuschuss von 300 Millionen Euro
vor. Das helfe zwar, sagt Kunkel, doch er kritisiert: „Das
Fallpauschalsystem wird nicht angetastet.“ Um wirklich nachhaltige
Verbesserungen durchzusetzen, müsse das System als Ganzes reformiert
werden.
7 Dec 2022
## LINKS
[1] /Kinderkrankenhaeuser-am-Limit/!5827453
[2] /Notstand-in-der-Pflege/!5794168
## AUTOREN
Timm Kühn
## TAGS
Pflegekräftemangel
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Pflege
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