| # taz.de -- Kinderkrankenhäuser am Limit: Und dann geht es schief | |
| > In einem Brandbrief prangern fast alle Berliner Kinderkliniken | |
| > dramatische Personalengpässe in den Rettungsstellen und Kinderstationen | |
| > an. | |
| Bild: Kranke Kinder werden aus Berlin bis nach Cottbus gefahren | |
| Absolute Gewissheiten sind selten in der Medizin. Aber vielleicht hätte der | |
| Säugling keinen Hirnschaden, wenn er in der Notaufnahme nicht hätte Stunden | |
| warten und dann reanimiert werden müssen. „Das ist unerträglich“, sagt der | |
| Arzt einer Berliner Kinderklinik, der von dem Fall berichtet. | |
| Mit einem Brandbrief haben sich Ärzt:innen aus neun Kliniken am Mittwoch | |
| an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Berlins | |
| Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) und die Klinikleitungen gewandt. | |
| Nicht ohne Risiko: Wenn bekannt würde, dass er mit der Presse über die | |
| Missstände spricht, sagt der Arzt der taz, „dann bin ich meinen Job los“. | |
| Die Missstände, die der Brief auflistet, sind gewichtig – neu sind sie | |
| nicht: Bereits im Oktober [1][berichtete die taz] von Verlegungen nach | |
| Brandenburg, weil es gerade in Herbst und Winter zu wenige belegbare Betten | |
| in Berlin gebe. Im November richteten sich Ärzt:innen einer | |
| Kinderrettungsstelle der Charité [2][in einem internen Brief] an die | |
| Klinikleitung und prangerten stundenlange Wartezeiten der kleinen | |
| Patient:innen an. Geändert habe sich fast nichts, erzählen Ärzt:innen | |
| der Charité. | |
| Für den aktuellen Brandbrief haben sich Assistenz- und Fachärzt:innen, | |
| teils auch Oberärzt:innen der Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin der | |
| Charité, der Vivantes Kliniken Neukölln und Friedrichshain, des St. Joseph | |
| Krankenhauses, der DRK Kliniken Westend, des Evengelischen | |
| Waldkrankenhauses Spandau, der Helios Kliniken Emil von Behring und | |
| Berlin-Buch sowie des Immanuel Klinikums Bernau zusammengeschlossen. „Die | |
| Versorgungsengpässe in den Kinderkliniken Berlins, insbesondere in den | |
| Rettungsstellen, sind dramatisch“, heißt es darin. Das Personal arbeite am | |
| Limit. „Es besteht eine akute Gefährdung für Kinder und Jugendliche im | |
| Bundesland.“ | |
| ## Die IT stammt aus den 90ern | |
| Die Ärzt:innen fordern einen festen Personalschlüssel für die | |
| Kinderrettungsstellen und versorgenden Stationen, damit kritisch kranke | |
| Kinder nicht bis zu sechs Stunden warten und in weit entfernte Kliniken | |
| verlegt werden müssten. Bemängelt wird auch die zeitfressende IT, die oft | |
| noch aus den 1990ern stamme. | |
| Doch die Ärzt:innen wollen auch das ganz große Rad drehen: Die 2003 | |
| eingeführten Fallpauschalen bezögen sich auf Erwachsene. Den Bedürfnissen | |
| von Kindern würden sie nicht gerecht. „Stellen Sie sich die Blutabnahme bei | |
| einem Kind vor, das nicht kooperiert – das kann bis zu einer Stunde dauern, | |
| wenn ich die Rechte des Kindes wahre“, sagt ein Arzt. Außerdem orientiere | |
| sich das Vergütungssystem am Bedarf im Sommer – obwohl er im Winter in den | |
| Kinderkliniken deutlich höher sei. | |
| Alexander Rosen ist niedergelassener Kinderarzt in Frohnau, bis 2021 | |
| arbeitete er noch als Oberarzt und leitete die Kindernotaufnahme an der | |
| Charité. „Wir sind in einem tiefen Tal und doch noch nicht ganz unten“, | |
| beschreibt er den Personalmangel der Kinderkliniken. Das Vergütungssystem | |
| habe den Anreiz zu immer mehr Einsparungen gegeben. Und gerade mit der | |
| Kinderheilkunde lasse sich kaum Geld verdienen. „Dass die Kliniken | |
| überhaupt noch funktionieren, liegt an der großen Leidenschaft der | |
| Mitarbeitenden.“ | |
| ## Immer die Angst, dass man etwas übersieht | |
| Aber die Überlastung mache den Beruf immer unattraktiver – und | |
| gefährlicher. Auch Rosen kennt Fälle, in denen sich der Zustand von Kindern | |
| etwa aufgrund langer Wartezeiten verschlechterte. „Das ist nicht die | |
| Regel“, sagt er, noch immer sei die Versorgung meist qualitativ sehr gut. | |
| „Aber es ist vorprogrammiert, dass Dinge schiefgehen.“ | |
| Auch als niedergelassener Arzt sitzt Rosen jetzt oft Stunden am Telefon, um | |
| einen Krankenhausplatz zu finden. „Wo wir vor zehn Jahren mit einer Liste | |
| von Berliner Kinderstationen gearbeitet haben, vielleicht mal noch | |
| Eberswalde, da transportieren wir die Kinder heute bis nach Cottbus und | |
| Neuruppin.“ | |
| Oder die Patient:innen werden wieder nach Hause geschickt, die man | |
| sonst stationär aufgenommen hätte. „Immer mit der Angst, dass man etwas | |
| übersieht“, berichtet eine Krankenhausärztin. „Alle kennen diese | |
| Geschichten, jeder weiß davon“, sagt ein anderer Arzt. Die Pandemie habe | |
| die Situation zwar an manchen Stellen verschärft, aber das Problem ist viel | |
| älter. | |
| ## Strukturelle Unterfinanzierung | |
| Auf taz-Anfrage verweisen zwei der im Brandbrief angesprochenen Kliniken | |
| trotzdem vor allem auf Personalengpässe durch die Pandemie. Von einem | |
| Sprecher der Charité heißt es: Die Kinder-Notaufnahme sei in der | |
| Vergangenheit bereits personell verstärkt worden, zur Verbesserung der | |
| Situation würden aktuell in diesem Bereich elektive Eingriffe abgesagt. | |
| „Überlegungen zur zukünftigen Finanzierung der Notfall- und Kindermedizin | |
| werden von uns begrüßt.“ | |
| Die Gesundheitsverwaltung antwortet der taz, man teile die im Brief | |
| angesprochenen Punkte weitgehend – „insbesondere in Hinblick auf die | |
| strukturelle Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendmedizin“. Bereits im | |
| September und Oktober habe man Gespräche mit den Leitern der Kinderkliniken | |
| geführt, um sich einen Überblick über die akuten Probleme zu verschaffen. | |
| Man werde sich weiter „für eine Erweiterung der Ausbildungskapazitäten | |
| stark machen“. Ansonsten verweist die Senatsverwaltung darauf, dass die | |
| neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag den zeitnahen Entwurf eines | |
| Systems zur auskömmlichen Finanzierung der Pädiatrie ankündige und in den | |
| kommenden zwei Jahren in die digitale Vernetzung und Arbeitsweise der | |
| Krankenhäuser investiere. | |
| ## Jahrelange Überlastung | |
| Indes ist der Frust der Krankenhausärzt:innen enorm. Sie berichten von | |
| jahrelanger Überlastung und dem Gefühl, nichts bewegen zu können. Wer | |
| wiederholt Überlastungsanzeigen stelle oder sich öffentlich zu Missständen | |
| äußere, dem drohten Karrierenachteile und dienstrechtliche Konsequenzen. | |
| „Ich bin so weit, dass ich mich nach Möglichkeiten im niedergelassenen | |
| Bereich umschaue“, sagt eine der Ärzt:innen der taz. Der Brief, in dem | |
| sich fast alle Kinderkliniken Berlins zusammengeschlossen haben, sei so | |
| etwas wie die letzte Hoffnung. | |
| „Damit sich wirklich etwas ändert“, vermutet dagegen Kinderarzt Alexander | |
| Rosen, „muss das gesamte Personal der Kinderkliniken den Druck auf die | |
| Politik noch erhöhen.“ | |
| 28 Jan 2022 | |
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| [1] /Krise-im-Gesundheitswesen/!5803844 | |
| [2] https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2021/11/charite-Brandb… | |
| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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