# taz.de -- Kinderärztin über Lage an Kliniken: „Muss erst ein Kind sterben… | |
> Kinderkliniken leiden unter Personalmangel und fürchten den kommenden | |
> Winter. Die Kinderärztin Songül Yürek hat einen Brandbrief an die Politik | |
> mitinitiiert. | |
Bild: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen – ihre Gesundheit braucht mehr Pe… | |
taz: Frau Yürek, Sie sind Assistenzärztin in einer Berliner Kinderklinik. | |
Warum betätigen Sie sich jetzt [1][auch politisch]? | |
Songül Yürek: Das Problem Personalmangel besteht schon seit Längeren, in | |
der Pandemie hat sich das verschärft. Im letzten Herbst und Winter gab es | |
in Berlin eine schlimme Infektwelle, die alle Kinderkliniken und | |
Rettungsstellen sehr stark belastet hat. So stark, dass wir uns als | |
[2][Initiative] zusammengetan und den ersten Brandbrief an die Politik | |
verfasst haben. Wir konnten den Zustand nicht mehr hinnehmen, ohne etwas zu | |
tun. | |
Und dann? | |
Bis zu dem zweiten Brandbrief, den wir jetzt veröffentlicht haben, ist | |
absolut nichts passiert. Wir fürchten uns einfach vor dem kommenden Winter. | |
Die Infektwelle hat schon wieder begonnen. | |
Aber [3][Corona] ist doch nicht so schlimm für Kinder, heißt es immer. | |
Wir reden hier nicht über Corona, zumindest nicht vordergründig. Bei | |
Kindern sind klassische Viren wie RSV viel bedeutsamer. Wir merken seit | |
Jahren, dass die ohnehin dünne Personalausstattung in den Infektzeiten | |
nicht ausreicht. Jetzt überschreiten wir die Grenze. | |
Personalmangel [4][herrscht in allen Bereichen des Gesundheitswesens], | |
inwiefern ist es im Bereich Kinderheilkunde noch mal schlimmer? | |
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Beispiel Blutabnehmen: Einem | |
Erwachsenen sage ich, halten Sie mal kurz den Arm still, und das dauert 10 | |
Minuten. Einem Kind muss ich gut zureden, brauche manchmal mehrere Versuche | |
oder eine zweite Person. Das dauert oft erheblich länger, manchmal das | |
Vier- bis Fünffache an Zeit. Dazu kommt, dass Therapien und Untersuchungen | |
auch den Eltern noch einmal extra erklärt werden müssen. Dieser erhöhte | |
Zeit- und Personalaufwand bei Kindern spiegelt sich aber in den aktuellen | |
Fallpauschalen überhaupt nicht wider. Es hieß jahrelang, dann müssten wir | |
uns besser strukturieren. Aber wir sind an einem Punkt angekommen, da ist | |
alles ausgereizt. | |
Die Fallpauschalen sind ein System, bei dem vor allem nach Diagnosen und | |
nicht nach tatsächlichem Zeitaufwand vergütet wird. Es wurde 2004 für | |
nahezu alle Krankenhausbehandlungen eingeführt und hat letztlich dazu | |
geführt, dass massiv am Personal gespart wird. | |
Ja, und dadurch sind die Arbeitsbedingungen so schlecht geworden, dass | |
immer mehr Fachärzte abwandern. Wir verlieren viele an andere Bereiche, an | |
niedergelassene Praxen oder an die Pharmaindustrie. Inzwischen ist auch das | |
Erfahrungslevel auf den Stationen stark gesunken. Aufgaben, die eigentlich | |
einen Facharzt verlangen, werden von jungen, kaum erfahrenen Kollegen | |
erledigt. | |
Mir haben Kolleg:innen von Ihnen berichtet, dass [5][Kinder zu Schaden | |
gekommen sind], weil sie nicht ausreichend versorgt worden konnten. Ist das | |
auch Ihre Erfahrung? | |
Offenbar wollen die Leute immer hören, da ist schon ein Kind gestorben. Mir | |
ist das noch nicht passiert, sonst würde ich den Job ganz bestimmt nicht | |
mehr machen. Aber mein Gott, muss es denn echt erst so weit kommen? In der | |
letzten RSV-Welle haben Kinder fünf Stunden in der Notaufnahme auf eine | |
Behandlung gewartet. Die Sorge, dass sich in dieser Zeit ein zunächst gut | |
behandelbarer Befund massiv verschlechtert, ist die ganze Zeit da. Viele | |
Eltern gehen, ohne dass das Kind einen Arzt gesehen hat, weil sie nach | |
Stunden Wartezeit nicht mehr konnten. Was mit denen passiert, weiß ich gar | |
nicht. Ich kann nur hoffen, dass sie zurückkommen, wenn es noch schlimmer | |
wird. | |
Wie sieht so ein typischer Dienst in der Kinderrettungsstelle aus? | |
Im Nachtdienst ist zum Beispiel oft nur ein Arzt oder eine Ärztin da. Dann | |
kommen Eltern und sagen, mein Kind erbricht die ganze Zeit, machen Sie was! | |
Es sind aber schon mehrere Kinder da, die noch dringender behandelt werden | |
müssen. Jeden Tag diese Entscheidungen zu treffen, ist eine unheimliche | |
moralische Belastung. Man ist die ganze Zeit am Limit und dann kommen | |
Eltern und diskutieren, zum Teil aggressiv, warum sie immer noch warten. | |
Manche fangen auch an zu filmen und drohen. Da mussten wir schon die | |
Polizei rufen. Im Hintergrund weinen dann die Kinder. Solche Situationen | |
machen auch etwas mit einem. Ich möchte meine Empathie behalten. Aber | |
irgendwann kann man einfach nicht mehr. Ich gehe öfter mit einem schlechten | |
als mit einem guten Gefühl aus dem Dienst. | |
Sie brauchen mehr Entlastung, so wie es zuletzt [6][die Berliner | |
Pflegekräfte] mühsam [7][ausgehandelt haben]? | |
Es geht uns ja nicht um mehr Freizeit, es geht uns um die | |
Versorgungssicherheit, darum, dass kranke Kinder nicht mehr stundenlang | |
warten oder quer durch die Stadt ins Umland gefahren werden müssen, weil es | |
in Berlin keine Klinik mehr gibt, die dieses Kind aufnimmt. Darum kümmere | |
ich mich nachts um drei auch noch: Ich telefoniere Stationen ab, | |
Krankenhäuser in Berlin und dann in Brandenburg. | |
Da gibt es kein System, bei dem Sie sofort sehen, dort und dort sind noch | |
zwei Plätze frei? | |
Kein funktionierendes. Wir schicken auch noch Faxe zur Anmeldung in die | |
Radiologie. So viel zur Digitalisierung. | |
Eigentlich gibt es Vorgaben, wie lange ein Patient mit bestimmten Symptomen | |
auf eine ärztliche Behandlung maximal warten darf, oder? | |
Das Manchester-Triage-System, ja. Ein Säugling mit 40 Grad Fieber, | |
Trinkschwäche und Schlappheit muss ganz schnell angeschaut werden, da gibt | |
es eine klare Vorgabe und die wird regelmäßig überschritten. Oder ein Kind | |
mit unspezifischen Bauchschmerzen, die sich dann als durchgebrochener | |
Blinddarm herausstellen. Da fragt man sich auch, ob der Blinddarm erst in | |
der zu langen Wartezeit durchgebrochen ist. | |
Gibt es einen Personalschlüssel, wie viele Patient:innen ein:e | |
Mediziner:in maximal betreuen darf? | |
Für die Pflege wurde das jetzt in Berlin durchgesetzt. Für die Ärzt:innen | |
ist das eine unserer Forderungen. Wir haben ausgerechnet, dass ein Arzt | |
maximal sechs Patienten versorgen kann. Auf manchen Stationen ist aber | |
inzwischen schon ohne Krankheitsfälle nur noch ein Arzt eingeplant – für | |
rund doppelt so viele Patienten. In der Medizin und vor allem in der | |
Kinderheilkunde arbeiten ja Leute, die helfen wollen. Wir arbeiten dann | |
länger, springen zusätzlich ein, wenn die Arbeit nicht geschafft ist oder | |
jemand krank wird. Einige von uns haben so viele Überstunden, dass sie | |
einen ganzen Monat freinehmen könnten. Aber wann wollen Sie die nehmen, | |
wenn zu wenig Personal da ist, um einen vernünftigen Dienstplan zu | |
schreiben?! | |
Hat sich die stationäre Versorgung von Kindern in den vergangenen Jahren | |
nur verschlechtert? | |
Nein. Dank Fortschritten in der Behandlung überleben Kinder komplizierte | |
Erkrankungen, bei denen sie früher kaum eine Chance hatten. Aber auch diese | |
innovativen Behandlungen sind komplex, erfordern zusätzlich Zeit und | |
Personal. | |
Kinder sind ein emotionales Thema, keiner will doch verantwortlich dafür | |
sein, dass sie zu Schaden kommen. Gab es nach dem ersten Brandbrief gar | |
keine Reaktionen? | |
Klar, Betroffenheit zeigen alle. Es gab Gespräche, aber es ist eben nichts | |
Konkretes passiert. Bei unserem zweiten Brandbrief gab es bisher vonseiten | |
der Politik nur die Rückmeldung, dass der Brief zur Kenntnis genommen | |
wurde. | |
Aber Gesundheitsminister Lauterbach hat doch schon angekündigt, die | |
Kinderkliniken aus dem System der Fallpauschalen rauszunehmen, sie nach | |
Bedarf zu finanzieren. Damit wird doch alles besser oder nicht? | |
Das soll 2023 kommen, bis dahin müssen wir noch diese Infektwelle | |
überstehen. | |
Das sind nur noch drei Monate. | |
Für uns ist das richtig viel. Wir erwarten eine Welle, die mindestens | |
genauso schlimm ist wie im letzten Herbst/Winter. Mit einer | |
Personalsituation, die sich eher noch zugespitzt hat. Das ist, als würde | |
man aus dem Hochhaus springen, im freien Fall und sagen, bis jetzt ist doch | |
noch nichts passiert. | |
Aber der Ausstieg aus den Fallpauschalen ist der richtige Weg? | |
Wir hoffen das sehr. Aber noch wissen wir nicht, was stattdessen kommt. | |
Was brauchen Sie, um wieder mit einem guten Gefühl den Dienst beenden zu | |
können? | |
Man fühlt sich schon wie eine kaputte Schallplatte: Wir brauchen mehr | |
Personal in allen Bereichen. | |
Aber das wird es doch sowieso nicht geben? | |
Wir sind vernetzt mit Kinderkliniken in anderen Städten und Regionen. Der | |
Personalmangel ist überall ein Problem, aber die Gründe sind | |
unterschiedlich. Gerade in ländlichen Regionen ist es auf jeden Fall so, | |
dass die Bewerber:innen fehlen. Aber in der Berliner Kinderheilkunde, | |
das kann ich ganz klar sagen, fehlen einfach die Stellen. Da könnte man | |
sofort mehr Personal einstellen. Es mag meine simple Sicht sein, aber wenn | |
von jetzt auf gleich Milliarden für die Rüstungsindustrie bereitgestellt | |
werden, dann muss doch auch die Gesundheitsversorgung von Kindern so | |
finanziert werden, dass sie über den Winter kommt. | |
Schon letzten Winter gab es einen dringenden Hilferuf der Berliner | |
Kinderkliniken. Irgendwie hat es dann aber doch funktioniert, oder? | |
Ja und dann sagen die Verantwortlichen, dass es diesen Winter doch auch | |
noch mal irgendwie gehen wird. Aber der Preis dieser Augenwischerei kann | |
eben zu hoch sein. | |
Wenn Gesundheitsminister Lauterbach hier neben uns auf dem dritten Stuhl | |
sitzen würde, was würden Sie ihm sagen? | |
Dass unser aktuelles Gesundheitssystem von Menschen gemacht wurde. Und | |
Menschen können es auch ändern. | |
19 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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