# taz.de -- Kinderkliniken am Limit: Die herbeigesparte Krise | |
> Der Notstand in den Kinderkliniken wurde durch deren Ökonomisierung | |
> geschaffen. Nötig sind tiefe Reformen, kein akutes Krisenmanagement. | |
Bild: Auch diese Kinderklinik hat schon mal sauberere Schilder gesehen | |
Das hätte ja wirklich niemand ahnen können: Der Winter ist da und mit ihm | |
die Grippewelle, das bringt [1][die Kinderkliniken in Berlin wie in ganz | |
Deutschland an ihre Grenzen]. Unter Virolog:innen ist es zwar ein | |
Gemeinplatz, dass auf sanftere Grippesaisons eine härtere Welle folgt. Auch | |
war gemeinhin bekannt, dass die Coronamaßnahmen die Grippewellen in den | |
vergangenen zwei Jahren weitestgehend unterdrückten. | |
Trotzdem hat es Politik und Klinikleitungen vom Hocker gehauen, dass das | |
RS-Virus (kurz für Respiratorisches Synzytial-Virus), das besonders für | |
Säuglinge, Kleinkinder und Menschen mit Immunschwäche gefährlich werden | |
kann, in diesem Jahr besonders durchschlägt. Laut Robert-Koch-Institut | |
bewegen sich die Zahlen bereits jetzt auf dem Niveau der schweren | |
Grippewelle 2017/18. | |
Also macht Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) das, was | |
Politiker:innen am Besten können: [2][Sie spielt sich als große | |
Krisenmanagerin auf], als Retterin in der Not, die die Ärmel hochkrempelt | |
und zupackt, wo es eben nötig ist. Da werden die Kliniken angehalten, | |
Personal aus Erwachsenenstationen auf die Pädiatrie umzuverlegen. Da werden | |
planbare Operationen verschoben und Abkommen mit Brandenburg geschmiedet, | |
damit Berliner Kinder leichter dorthin geschafft werden können, wenn in | |
Berlin alle Betten voll sind. Und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach | |
(SPD) [3][kommt mit dem Vorschlag um die Ecke, die Personaluntergrenzen | |
außer Kraft zu setzen]. | |
## Auf dem Rücken der Beschäftigten | |
Im Klartext heißt das: Gelöst wird die Krise auf dem Rücken der | |
Beschäftigten. Business as usual im Gesundheitswesen also, das seit | |
Jahrzehnten durch falsche Profitanreize und Kürzungen so kaputtgespart | |
wird, dass sich die Pfleger:innen permanent im Krisenmodus befinden. So | |
berichtet etwa Mila-Malayn Saremski, Pflegerin auf einer | |
Neointensiv-Station für Früh- und Neugeborene der Charité, der taz: „Vor | |
zehn Jahren haben wir mit sechs Pfleger:innen zehn Betten versorgt. | |
Heute sind es doppelt so viele Betten mit demselben Personal.“ | |
Der Vorschlag, dass die Personaluntergrenzen ausgehebelt werden sollen, | |
zeugt von einer politischen Geisteshaltung, die Beschäftigte für beliebig | |
verbiegbare Knetmasse hält. Auch der Vorschlag aus Gotes Verwaltung, | |
Personal aus Erwachsenenstationen abzuziehen, ist Resultat davon. „Die | |
neuen Kolleg:innen sind nur wenig Hilfe, bis sie eingearbeitet sind“, | |
sagt Pflegerin Saremski dazu. | |
Auch geht das Arbeiten in einer Pädiatrie mit besonderen psychischen | |
Belastungen einher. Ulla Hedemann, Pflegerin auf einer | |
Kinderintensivstation am Virchow-Klinikum der Charité, sagt: „Für viele | |
Kolleg:innen ist die Pädiatrie eine rote Linie. Sie sagen: Ich sehe | |
jeden Tag viel Leid, das kann ich, aber nicht mit Kindern.“ Und dennoch | |
gebe es unter den Kolleg:innen eine große Bereitschaft zu unterstützen. | |
Ebenfalls ein zweischneidiges Schwert ist, dass es künftig einfacher sein | |
soll, Patient:innen nach Brandenburg zu verlegen. Einerseits hilft es | |
natürlich, wenn die Kliniksysteme so geupdated werden, dass Ärzt:innen in | |
Echtzeit sehen, wo noch Kapazitäten verfügbar sind. | |
## Transporte sind eine große Belastung | |
Anderseits sind solche Transporte für die jungen Patient:innen eine | |
große körperliche wie psychische Belastung. „Wir haben schon Kinder nach | |
Frankfurt/Oder geschickt, das sind über 100 Kilometer“, berichtet Pflegerin | |
Hedemann. Auch für die Eltern sei die Entfernung eine Belastung – auch | |
finanziell. „Ärmere Eltern können sich vielleicht gar nicht leisten, ihr | |
Kind zu besuchen“, so Hedemann. | |
Nun ließe sich sagen: Viele der Maßnahmen, die Gote diese Woche | |
verabschiedet hat, mögen schlecht für die Beschäftigten sein, doch sie sind | |
in der aktuellen Situation unumgänglich. Aber welche Farce ist es, sich auf | |
die mangelnden Alternativen in einem Systems zu berufen, das seit | |
Jahrzehnten gegen die Wand gefahren wird? | |
## Personalnotstand war erwartbar | |
Nicht nur die Infektwelle war erwartbar, sondern auch der Personalnotstand. | |
Der heftige Arbeitskampf der Berliner Krankenhausbewegung im vergangenen | |
Jahr hat wirklich für jede:n offensichtlich gemacht, dass die | |
Beschäftigten die Schnauze voll haben, dass sie hinschmeißen, weil auf die | |
Klatscherei in der Pandemie keine Taten gefolgt sind. „Jeden Tag unter | |
Stress zu arbeiten, jeden Tag ans Limit gehen zu müssen und immer das | |
Gefühl zu haben, weder sich sich selbst noch den Patient:innen gerecht | |
zu werden. Das macht einfach unglücklich“, sagt Hedemann. | |
Angegangen werden müssen deshalb dringend die systemischen Missstände. | |
Verantwortlich ist da in erster Linie der Bund, der mit dem | |
Fallpauschalsystem das Joch des Kapitalismus ins Gesundheitswesen | |
eingeführt hat. Seit es erlaubt wurde, mit dem Heilen von Menschen Kapital | |
zu akkumulieren, sind Personalkosten zum profithemmenden Kostenfaktor | |
geworden – auch daher rührt der Personalnotstand. | |
Kinderkliniken trifft das System besonders, weil sich Kinder nicht an die | |
die eng getakteten Behandlungszeiten halten, die das System vorschreibt. | |
Jede Minute, die es braucht, um ein Kind zum Beispiel vor dem Blutabnehmen | |
zu beruhigen, kostet einem Krankenhaus Geld. | |
Dass die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach angepriesene „Revolution“ | |
des Gesundheitswesens in ihrer jetzigen Form ernsthaft Abhilfe schafft, | |
wird von Kritiker:innen bezweifelt. Aber auch Gesundheitssenatorin Gote | |
macht es sich zu einfach, wenn sie einfach auf den Bund verweist. Seit | |
Jahren investiert Berlin zu wenig Geld in die Infrastruktur der | |
Krankenhäuser. Die Berliner Krankenhausgesellschaft beklagt, inzwischen sei | |
ein Investitionsstau von mehr als 2 Milliarden Euro angelaufen. Dieses Geld | |
holen sich die Krankenhäuser zurück, indem sie am Personal sparen. | |
Auch wenn es stimmt, dass die Investitionen in Berlin langsam, aber stetig | |
ansteigen sollte der rot-grün-rote Senat, bevor er auf den Bund verweist, | |
deshalb erst einmal vor der eigenen Haustür kehren. Letztlich führt aber | |
kein Weg daran vorbei, das ganze Profitprinzip im Gesundheitswesen auf den | |
Müll befördern – denn genau da gehört es hin. Dass Lauterbach das System | |
verändern will, könnte dafür ein guter Anlass sein. Vielleicht ist es ja | |
noch nicht zu spät, aus den Reförmchen einen tatsächlichen Neuanfang zu | |
schustern. | |
10 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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