# taz.de -- Infektionswelle überlastet Kinderkliniken: Selbstverschuldeter Ska… | |
> Seit Einführung der Fallpauschalen ist es mit den Kinderkliniken bergab | |
> gegangen. Ärzt:innen haben die Politik vergeblich vor dem gewarnt, was | |
> jetzt dort herrscht: akuter Notstand. | |
Bild: Kein Bett mehr frei? Kind in einem Krankenhaus in München | |
Bundesweite Verlegungen Schwerkranker nach dem Kleeblattprinzip, Aussetzen | |
der Personaluntergrenze, Verschiebung planbarer Behandlungen – all das, so | |
die Hoffnung, ist Schnee von gestern. Mit Wucht kommt es zurück und | |
[1][trifft diesmal die Kleinsten]. Den Kinderkliniken macht aktuell die | |
[2][RSV-Infektionswelle] zu schaffen. Jetzt, wo von Pandemie kaum noch die | |
Rede ist. „Schon wieder eine Krise?“, stöhnen manche. „Wundert ihr euch | |
wirklich?“, möchte man zurückrufen. | |
Es schnürt einem die Kehle zu, wenn man Geschichten aus den | |
Kinderkrankenhäusern hört. Berliner Ärzt:innen berichten von einer Masse | |
an kleinen Patient*innen und einer Krankheitsschwere, die den | |
vergangenen schlimmen Winter schon jetzt deutlich übersteige. Sie berichten | |
von zu wenig Sauerstoffgeräten, von Patient*innen, die auf dem Flur | |
untergebracht und behandelt werden müssen, von Verlegungen bis nach | |
Hannover und von Familien, die sie nach Hause schicken mit dem Hinweis, | |
erst wiederzukommen, wenn es noch schlimmer wird. Und das, obwohl ihr Kind | |
schon jetzt in stationäre Behandlung gehört. | |
Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Seit 2004 werden fast alle | |
Krankenhausleistungen mit sogenannten Fallpauschalen vergütet. Sie richten | |
sich vor allem nach der gestellten Diagnose, nicht nach dem tatsächlichen | |
Zeit- und Personalaufwand. Besonders bittere Folgen hatte diese Reform für | |
die Kinder- und Jugendmedizin, wo fürs Blutabnehmen schon mal eine halbe | |
Stunde draufgeht, und wo nicht nur kleine Patient*innen, sondern auch | |
besorgte Eltern versorgt werden wollen. | |
Wirtschaftlich wurde die Kinderheilkunde ein [3][Desaster für die | |
Kliniken]. Es wurden Betten abgebaut und ganze Stationen geschlossen. Diese | |
Entwicklung verschärft sich deutlich sichtbar seit Jahren, und das ist nur | |
einer der fatalen Systemfehler. Laut Kinder- und Jugendärzteverband mangelt | |
es seit Mitte der 1990er Jahre an Studienplätzen. | |
## Der Traumberuf wurde unattraktiv | |
Mit der Einführung der [4][generalistischen Pflegeausbildung] im Jahr 2020 | |
wurde die Ausbildung zur Kinderkrankenpfleger*in ersetzt und damit | |
eine Beschäftigung auf den Kinderstationen erklärtermaßen unattraktiver. Es | |
gibt Stationen, die kleine Kinder nicht mehr ohne ihre Eltern aufnehmen, | |
weil sie deren Versorgung nicht gewährleisten können. | |
Die Arbeitsbedingungen auf den unter Pflegekräftemangel ächzenden Stationen | |
sind so belastend geworden, dass sich Beschäftigte in lange Krankheit oder | |
andere Jobs verabschieden. Und wenn in saisonalen Krankheitswellen zu den | |
hohen Patient*innenzahlen auch noch Infektionen bei den ohnehin zu | |
wenigen Beschäftigten dazukommen, dann schafft das ausgezehrte System das | |
einfach nicht. | |
In Berlin haben Kinderärzt*innen schon im vergangenen Winter einen | |
Brandbrief an Landes- und Bundespolitik geschrieben, weil die Zustände so | |
nicht mehr haltbar sind. Im September folgte ein zweiter Brandbrief mit der | |
Befürchtung, dass es diesen Herbst und Winter noch schlimmer kommen werde. | |
„[5][Muss echt erst ein Kind sterben]?“, fragte damals die Kinderärztin | |
Songül Yürek, Mitinitiatorin des Brandbriefes, im taz-Interview. | |
Und nun ist er da, der Katastrophenherbst. Ein Berliner Kinderarzt | |
berichtet von einem Säugling, der nach Brandenburg verlegt werden sollte, | |
weil in Berlin kein Bett mehr frei war. Er sei in so schlechtem Zustand | |
dort angekommen, dass man ihn zur Intensivbehandlung wieder nach Berlin | |
zurückfuhr. Dort sei er gestorben. Es ist eine der Geschichten, bei denen | |
man nicht weiß, ob das Kind ohne den langen Transport, ohne die Überlastung | |
des Systems überlebt hätte. | |
## Arbeitsverhältnisse wie im Krisengebiet | |
Es ist eine der Geschichten, die den einstigen Traumberuf in der Kinder- | |
und Jugendmedizin zeitweise zur Hölle machen. Im Moment sind in | |
Deutschlands Rettungsstellen und Kinderstationen junge | |
Assistenzärzt*innen zum Teil ganz allein für Dutzende schwerkranke | |
Kinder zuständig und müssen Entscheidungen treffen, die ihr Erfahrungslevel | |
weit überschreiten. Ärzt*innen klagen über Arbeitsverhältnisse wie im | |
Krisengebiet, über traumatische Erfahrungen. | |
Welche langfristigen Folgen das haben wird, ist kaum absehbar. Schon im | |
vergangenen Winter konnten einzelne Kinder nicht mehr angemessen versorgt | |
werden, inzwischen sei es der Großteil. Immer wieder haben die Ärzt:innen | |
gemahnt. Niemand der Verantwortlichen in der Politik kann sagen, er oder | |
sie habe es nicht gehört. Am Freitag wurde im Bundestag endlich [6][ein | |
Gesetz beschlossen], dass die Leistungen der Kinder- und Jugendmedizin | |
auskömmlicher finanzieren soll. | |
Ab 1. Januar 2023 und vorerst für zwei Jahre. Das ist immerhin eine | |
Perspektive, nur: Selbst wenn man sofort investiert, wird es dauern, bis | |
sich die Arbeitsbedingungen und Ausbildungsmöglichkeiten spürbar | |
verbessern. Drei bis fünf Jahre schätzen die Expert*innen aus den | |
Kliniken und fordern mehr sofortige Anstrengungen. Die Herbst-Winterwelle | |
hat gerade erst angefangen, im vergangenen Winter zog sie sich bis Februar. | |
Wer jetzt noch länger wegschaut, muss sich der Frage, ob Kinder ohne die | |
Überlastung des Systems noch leben würden, ganz persönlich stellen. Muss | |
erst ein Kind sterben? Über diesen Punkt sind wir schon hinaus. | |
3 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Kinderkrankenhaeuser-am-Limit/!5827453 | |
[2] /Erkaeltungswelle-in-Deutschland/!5895546 | |
[3] /Krankenhausgipfel/!5072932 | |
[4] /Pflege-Ausbildung-in-Bremen/!5625606 | |
[5] /Kinderaerztin-ueber-Lage-an-Kliniken/!5889471 | |
[6] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/pflegegesetz-bundestag-lauterbach-kl… | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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