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# taz.de -- Pazifismus und der Ukraine-Krieg: Mein Krieg mit der Waffe
> Unser Autor brach den Wehrdienst ab. Der Ukraine-Krieg stellt seinen
> Pazifismus jetzt infrage. Kann man als Verweigerer für Waffenlieferungen
> sein?
Bild: Jost Maurin (links) mit einem anderen Wehrpflichtigen bei einer Übung in…
Wir hatten uns im Wald eingebuddelt, die Gesichter mit oliver, schwarzer
und brauner Schminke getarnt, auf die Stahlhelme Grasbüschel gesteckt.
Unsere mit Platzpatronen geladenen Gewehre vom Typ G3 stützten wir auf
Erdwälle am Rand unserer Schützengräben. Wir warteten auf den „Feind“.
Soldaten einer anderen Gruppe meiner Bundeswehreinheit spielten ihn.
Plötzlich rannten sie auf unsere Stellungen zu. Meine Kameraden zielten auf
die Angreifer und drückten ab. Ich nicht.
Ich konnte nicht. Denn mich quälte die Frage: Was mache ich hier
eigentlich? Ich musste mir eingestehen: Töten spielen, Töten üben. Das war
äußerst unangenehm. Ich als fehlbarer Mensch darf nicht entscheiden, ob es
richtig ist, jemandem das Leben zu nehmen, außer in einer eindeutigen,
individuellen Notwehrsituation, grübelte ich. Wie konnte ich also eine
derart gravierende, absolut unwiderrufliche Entscheidung treffen?
Am Ende verschenkte ich meine Patronen. Denn für mich wurde spätestens bei
dieser Übung 1994 in einem Wald bei Koblenz klar, was es wirklich heißt,
Soldat zu sein: andere Menschen im Krieg zu töten. Diese Tatsache hatte ich
bis dahin konsequent heruntergespielt oder ausgeblendet. Weil sie meine
damaligen politischen Überzeugungen gestört hätte, weil der Wehrdienst für
mich beruflich attraktiv war. Und weil ich einfach nicht genug nachgedacht
hatte.
## Kein Heuchler sein
Kurz nach der Übung stellte ich einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung
nach Artikel 4 des Grundgesetzes: „Niemand darf [1][gegen sein Gewissen]
zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Und leistete daraufhin
Zivildienst – wie nach Angaben des Bundesfamilienministeriums rund [2][2,7
Millionen andere junge Männer] von 1961 bis 2011, bevor die Wehrpflicht
ausgesetzt wurde.
Doch der Krieg in der Ukraine stellt die pazifistische Grundhaltung vieler
ehemaliger, oftmals aus dem linken Milieu stammender Zivildienstleistender
infrage: Kann ich als Kriegsdienstverweigerer Waffenlieferungen an die
Ukraine unterstützen, ohne ein Heuchler oder Opportunist zu sein? Und die
Aufrüstung der Bundeswehr? War es am Ende sogar falsch, den Wehrdienst zu
verweigern?
Seit dem Ukrainekrieg wollen aber auch vermehrt SoldatInnen aus dem Dienst
entlassen werden. Von Januar bis Anfang Juni hat das Bundesamt für Familie
und zivilgesellschaftliche Aufgaben nach eigenen Angaben 533 Anträge auf
Kriegsdienstverweigerung erhalten. Das sind mehr als doppelt so viele wie
im Jahr zuvor. 528 sind demnach aktive SoldatInnen oder ReservistInnen,
5 ungediente AntragstellerInnen. Die VerweigerInnen begründeten ihre
Anträge häufig damit, „dass sie mit einer kriegerischen Auseinandersetzung
nicht gerechnet hätten“, sagt ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums.
Aktuell ist die Frage nach der Kriegsdienstverweigerung auch deshalb, weil
der Ukrainekonflikt eine neue Debatte darüber ausgelöst hat, ob Deutschland
wieder die Wehrpflicht einführen sollte. Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier hat kürzlich einen Pflichtdienst für Frauen und Männer bei der
Armee oder in sozialen Einrichtungen vorgeschlagen. Die Frage „Könnte ich
als SoldatIn töten?“ müssen sich also möglicherweise bald wieder viel mehr
Menschen stellen als bisher.
Ich traf die Entscheidung, zum Bund zu gehen, Mitte der 1990er Jahre. Ich
war damals 20 Jahre alt, machte gerade Abitur an einem Gymnasium
nordwestlich von Hamburg und träumte davon, Journalist bei einer großen
Zeitung zu werden, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten und um mich
politisch zu engagieren. Denn ich war schon mit 14 Jahren in die
Jugendorganisation der CDU, die Junge Union (JU), eingetreten. Damals
interessierte mich vor allem Schulpolitik, und da vertraten meine Eltern
eine konservative Linie.
Um die 1990er Jahre herum ging es in Schleswig-Holstein oft darum, ob das
dreigliedrige Schulsystem mit dem Gymnasium an der Spitze besser sei oder
die Gesamtschule. Als Gymnasiast war ich wie die JU für Ersteres, das
sollte sich erst später ändern. Aber in der JU ging es natürlich nicht nur
um Schulpolitik. Sie vertrat eine militärfreundliche Haltung. Kaum jemand
dort leistete Zivildienst. Unser Kreisvorsitzender war sogar Offizier bei
der Luftwaffe. Als JU-Mitglied hätte ich mich für unglaubwürdig gehalten,
wenn ich bei der Einberufung zur Bundeswehr gekniffen hätte.
Der Wehrdienst versprach dann auch noch beruflich interessant zu werden.
Denn mir wurde in Aussicht gestellt, nach den drei Monaten Grundausbildung
in einer Pressestelle oder Redaktion der Bundeswehr zu arbeiten. Das hätte
mir geholfen, meinen Berufswunsch „Journalist“ zu verwirklichen. Damals
wollte ich ja nicht zur taz, sondern eher zur FAZ.
Freunde, die den Kriegsdienst verweigerten, argumentierten fast immer mit
praktischen Überlegungen. Viele hatten einfach keine Lust auf den Bund. Für
mich waren das aber keine zulässigen Argumente, denn das waren ja keine
Gewissensgründe, die laut Gesetz für die Verweigerung nötig waren.
Leichte Zweifel kamen mir erst, als ich den Einberufungsbescheid erhalten
hatte. Ich organisierte eine Abifete mit mehreren Schulen. Da lernte ich
auch Leute von der Gesamtschule bei uns im Ort kennen, die tatsächlich aus
Gewissensgründen den Kriegsdienst ablehnten. Der Frage nach dem Töten wich
ich in der Diskussion mit den Gesamtschülern aus. Ich verdrängte das, es
hätte mein Weltbild zu stark durcheinandergebracht, ich glaubte eh nicht an
den Ernstfall, und die Jobaussichten beim Bund waren verlockend.
Ich ließ mich also einziehen und fuhr im Juli 1994 mit der Bahn nach
Rheinland-Pfalz, in eine Kaserne in Lahnstein. Sie bestand aus mehreren
massiven Gebäuden aus der Nazizeit. Hier war das Pionierbataillon
stationiert, das nun auch meines sein sollte. Die erste Woche war harmlos.
Wir bekamen unsere Uniformen, wir lernten „Achtung!“ rufen und
strammstehen, wenn ein Vorgesetzter unsere Stube betrat.
Ich wurde nicht schikaniert, weder von Unteroffizieren noch von Rekruten.
Eine der ersten Regeln, die uns beigebracht wurde, war: Wenn ein Befehl
gegen die Menschenwürde verstößt (das Töten im Krieg fiel nicht darunter),
dürfen wir ihn nicht befolgen. In meinem Zug waren fast nur Abiturienten,
die Unteroffiziere waren oft Studenten. Der Umgang war gut, das Essen
lecker, der tägliche Sport machte Spaß. Aber schon ab der zweiten Woche
konnte ich die Frage, ob ich im Krieg töten könnte, nicht mehr verdrängen.
Wir begannen zu lernen, wie man einen Menschen tötet. Wir neuen Rekruten
saßen auf harten, blauen Stühlen in einem engen Schulungsraum mit stickiger
Luft. Unser Zugführer erklärte uns, wie Weichkerngeschosse wirken: Sie
hätten den „Vorteil“, sagte der Oberleutnant, dass sie den menschlichen
Körper, in den sie eindringen, nicht nur durchlöchern, sondern weit
aufreißen und so oft tödlich verletzten.
Entsetzt fragte ich: „Wozu ist das gut? Geht es uns nicht bloß darum, den
Angreifer kampfunfähig zu machen?“ Ja, das sei im Prinzip richtig,
antwortete der Offizier. Aber wer garantiere, dass der verletzte Gegner
nach ein, zwei Monaten Behandlung nicht wieder auf uns schießt? Deshalb
müsse er getötet werden.
Ich weiß nicht, warum uns das erzählt wurde. Denn später erfuhr ich, dass
solche Geschosse nach der Haager Landkriegsordnung verboten sind. Auch hat
sie die Bundeswehr laut Verteidigungsministerium nie benutzt. Ich weiß
aber, dass mir spätestens da bewusst wurde, worauf ich mich eingelassen
hatte.
Als ich später mein über ein Meter langes, mehr als vier Kilogramm schweres
G3-Gewehr in den Händen hielt, das kühle Metall fühlte, die sieben
Zentimeter langen Patronen ins Magazin drückte, da rückte der Gedanke noch
näher: Welches Leid könnte, müsste ich mit diesem tödlichen Gerät
anrichten?
Ich diskutierte solche Fragen auch mit meinen Kameraden. Lohnt es sich,
Leben zu riskieren, um zum Beispiel die Freiheit zu verteidigen? Ist das
Leben oder die Freiheit das höhere Gut?, fragte ich meinen Gruppenführer,
einen Fahnenjunker mit sehr jungenhaftem Gesicht. „Natürlich ist das Leben
wichtiger“, sagte er. Aber wo die Freiheit gefährdet sei, sei auch fast
immer das Leben in Gefahr. Ein Kamerad sagte mir, er würde sein Leben für
die Freiheit opfern. Nie könnte er in einer Diktatur leben. Lieber würde er
den Feind töten und dabei selber sterben.
Ich habe darüber viel nachgedacht, bis ich zu dem Schluss kam: Für mich
steht das Leben an oberster Stelle. Zu oft zogen Soldaten mit der Absicht,
ihrer Meinung nach hehre Werte zu verteidigen, in den Krieg – und stellten
am Ende fest, dass sie sich irrten.
Quälend wurden diese Gedanken, als wir das erste Mal mit scharfer Munition
schießen mussten. Ich bekam Angst bei dem Gedanken, welch tödliche Macht
ich mit diesen Patronen hatte. Während wir vor dem Schießstand warteten,
stellte ich mir vor, wie eines dieser Metallgeschosse einem anderen
Menschen den Kopf zerreißt.
Im Schießstand schossen wir allerdings nur auf Zielscheiben oder
Pappkameraden, also auf leblose Gegenstände. Doch dann kam die Übung im
Wald, bei der wir zwar nur mit Platzpatronen, aber doch auf echte Menschen
„schießen“ sollten. Kurz danach fuhr ich zu einem ehrenamtlichen Berater
der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen
(DFG-VK) in der Nähe von Lahnstein. Er informierte mich darüber, wie ich
aus dem Wehrdienst heraus verweigern konnte.
Wenig später lief ich ins Büro meiner Kaserne und sagte einem Vorgesetzten:
„Ich muss einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen.“ Er
antwortete: „Schade, aus Ihnen wäre ein guter Soldat geworden“, aber dann
stellte er mich vom Dienst an der Waffe frei. Ich nahm noch an den meisten
Programmpunkten teil, aber eben ohne Gewehr, und nach einigen Tagen durfte
ich nach Hause fahren, um mir eine Zivildienststelle zu suchen.
Doch ich musste dafür kämpfen, dass meine Kriegsdienstverweigerung auch
anerkannt wird. 1994 wurden die meisten Anträge von Wehrpflichtigen, die
nicht zum Bund wollten, nach Aktenlage positiv beschieden. Aber weil ich
schon beim Bund war, musste ich meine Entscheidung nicht nur schriftlich,
sondern auch in einem verhörähnlichen Termin vor einem Ausschuss im
Kreiswehrersatzamt rechtfertigen.
Ein Oberregierungsrat und zwei weitere Männer wollten – die
schwarz-rot-goldene Fahne im Rücken – noch einmal genau wissen, weshalb ich
verweigern wollte. Es war allgemein bekannt, dass diese Ausschüsse die
Antragsteller oft mit folgendem Szenario konfrontierten: „Sie und Ihre
Freundin werden von einem bewaffneten Verbrecher angegriffen.Zufällig haben
Sie eine Pistole dabei und können Ihr eigenes Leben und das Ihrer Freundin
nur retten, indem Sie den Angreifer töten – was tun Sie?“
Ich weiß nicht mehr, ob die Prüfer auch mich mit dieser hypothetischen
Gefahrensituation prüften. Aber ich hatte schon in meiner schriftlichen
Begründung geschrieben, dass ich uns wahrscheinlich verteidigen würde. Doch
das würde mich in eine tiefe Gewissensnot stürzen und meine Persönlichkeit
beschädigen. „Ich will aber auf keinen Fall die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
in eine solche Situation zu geraten, indem ich Soldat bleibe“,
argumentierte ich.
Diese Gewissensprüfungen waren hochumstritten, auch weil die Ausschüsse
zuweilen völlig unrealistische Szenarien abfragten und junge, unerfahrene
Menschen unter Druck setzten. Für mich hingegen war das Verfahren
hilfreich: Es zwang mich, meine Entscheidung wirklich zu durchdenken. Am
Ende war ich überzeugter als vorher. Nach drei Monaten bei der Bundeswehr
wechselte ich in den Zivildienst und arbeitete zwölf Monate als Hausmeister
und Hilfsbetreuer in Wohngruppen für psychisch kranke Menschen.
Nebenbei beriet ich ehrenamtlich Männer, die den Kriegsdienst verweigern
wollten. Vor allem die schwierigen Fälle, die zu einer Anhörung mussten,
weil sie wie ich bereits Soldat waren oder wegen fahrlässiger Tötung bei
einem Verkehrsunfall verurteilt worden waren. Letzteren Antragstellern
wurde pauschal unterstellt, sie könnten in Wirklichkeit doch damit
klarkommen, im Krieg zu töten, weil sie ja schon einen Menschen auf dem
Gewissen hätten. Ich half diesen Männern, weil auch mir die Beratung sehr
geholfen hatte.
Jetzt befasste ich mich fast jede Woche mit Begründungen von
Wehrdienstverweigerern. Ich las Ratgeber von linken Organisationen wie der
DFG-VK. All das trug erheblich dazu bei, dass ich aus der JU austrat. Aus
Anlass der Kriegsdienstverweigerung änderte ich am Ende zusehends meine
gesamte politische Haltung. Der Zivildienst brachte mich in Kontakt mit
einem linken Milieu, mit dem ich vorher kaum zu tun gehabt hatte.
Nun schloss ich das Soldatenhandwerk nicht nur für mich persönlich aus. Ich
lehnte auch die Bundeswehr insgesamt ab. Das Drängen der Bundeswehr nach
immer mehr Auslandseinsätzen, die nichts mehr mit Landesverteidigung zu tun
hatten, bestätigte mich darin. Und erst recht die Analyse um die
Jahrtausendwende, dass niemand Deutschland angreifen würde – nicht einmal
Russland.
Doch diese pazifistischen Überzeugungen wackeln gewaltig. Seit dem 24.
Februar, als Russland die Ukraine überfiel. Seit der
Kriegsdienstverweigerer Olaf Scholz als Bundeskanzler im Reichstag von
einer Zeitenwende sprach und ankündigte, die Bundeswehr für 100 Milliarden
Euro aufzurüsten. Und seit selbst Ex-Zivildienstleistende wie der grüne
Wirtschaftsminister Robert Habeck, den ich für besonders reflektiert und
integer halte, Waffenlieferungen an die Ukraine nicht nur befürworten,
sondern aktiv betreiben.
Jetzt auf einmal militärische Lösungen zu propagieren, da sträubt sich bei
mir alles. Aber ich habe auch die Bilder von den Leichen in Butscha
gesehen, die eiskalten Lügen des russischen Präsidenten Wladimir Putin
gehört und gelesen, dass der Mann durch Eroberungen wieder ein russisches
Imperium errichten wolle.
Ich fühle mich hin und her gerissen zwischen einem konsequenten Pazifismus
und den Bitten der Ukraine um militärische Hilfe gegen den Angriff aus
Russland. Dieser Krieg geht mir besonders unter die Haut, weil er so
eindeutig ungerechtfertigt von einem Aggressor begonnen worden ist. Auf dem
Spiel stehen Werte, die mir wichtig sind: Menschenrechte, Demokratie,
Freiheit. Auch ich sehe die Gefahr, dass Putins Truppen in der Ukraine
nicht Halt machen werden, wenn sie dort nicht gestoppt werden.
Das ist ein Dilemma, aus dem ich allein keinen Ausweg finde. Deshalb suche
ich mir Rat. Vor allem bei Kriegsdienstverweigerern, die sich intensiv mit
dem Ukrainekonflikt befassen. Aber auch bei Philosophen, die sich mit dem
Gewissen auskennen.
David Scheuing hat wie ich nach dem Ende des Kalten Kriegs verweigert.
Heute ist der 32-Jährige Vorsitzender einer Stiftung der DFG-VK. Diese
älteste Organisation der deutschen Friedensbewegung hat mir in Sachen Krieg
und Frieden Orientierung gegeben. Scheuing hat Friedens- und
Konfliktforschung studiert. Er sagt mir schon am Telefon, dass er bis heute
zu seiner Verweigerung stehe – und zu seinem Pazifismus. Das ist auch meine
Haltung, mit der ich diese Suche nach Antworten beginne, und deshalb fahre
ich zuerst zu Scheuing.
## Ich bin nicht der einzige
Er wohnt im Dorf Klennow im niedersächsischen Wendland. Auf dem Weg dorthin
sehe ich im Bahnhof Stendal einen Güterzug voll geladen mit
Bundeswehrpanzern, der Richtung Osten rollt. Aber das wirkt weit weg in
Scheuings idyllischem Garten, in dem man fast nur Vögel zwitschern hört.
Scheuing sieht sehr sanft aus mit seiner weichen Mütze, die mit einem
Sonnenblumenmotiv bedruckt ist, mit dem zartrosafarbenen Hoodie und dem
T-Shirt, auf dem „If WAR IS the answer, the question must be FUCKING
STUPID“ steht.
Wir duzen uns gleich, Scheuing tickt halt so ähnlich wie ich. Er ist
taz-Abonnent. Auch Scheuing hat in seiner Verweigerung geschrieben, dass er
niemanden töten könne. „Ich stehe bis heute dazu“, sagt er. Für ihn wär…
inkonsequent, jemand anderem Waffen zu geben, damit der dann töten kann.
Deshalb lehnt er solche Lieferungen an die Ukraine ab. Diesen Gedanken
hatte ich auch schon – schön, dass ich nicht der Einzige bin, der so denkt.
„Ich will die Waffenproduktion an sich verhindern“, fährt Scheuing fort.
„Wenn ich Gewaltmittel habe, fällt mir die Gewaltanwendung auch leichter
und die Hemmschwelle sinkt.“ Er sagt auch: „Die Zurverfügungstellung von
Gewaltmitteln hat in keinem Konflikt zur Verbesserung der Lage geführt.“
Die Energie, die jetzt für Waffenlieferungen eingesetzt werde,
„könnte/müsste eigentlich auch in andere Maßnahmen, Mittel, Möglichkeiten,
diplomatischer oder anderweitig friedenspolitischer Natur fließen“.
Er ist sogar dafür, die Bundeswehr aufzulösen. Er glaubt nicht daran, dass
Putin Deutschland angreifen wolle. Dessen „Nationalimperialismus“ drehe
sich „primär um seine Fantasie von drei russischen Völkern“. Ich verstehe
Scheuing so: Putin will Russlands Herrschaft auf die Gebiete ausdehnen, in
denen diese Völker leben – weiter wird er nicht gehen.
Scheuing ist sehr eloquent. Seine Sätze sind lang und verschachtelt. Doch
dann frage ich ihn, ob wir nicht moralisch verpflichtet seien, den
UkrainerInnen auch durch Waffenlieferungen zu helfen, weil sonst Russland
ein repressives Besatzungsregime errichte, Menschen töte und foltere. So
wie in dem Kiewer Vorort Butscha – „wie kannst du das verantworten?“ Diese
Frage tut mir selber weh, ich ringe eigentlich ständig um eine Antwort.
Auch Scheuing tut sich schwer damit.
„Mmh, ja …“, sagt er erst, er stockt und guckt auf den Boden. Schließlich
antwortet er: „Deswegen bin ich Bestandteil einer Gruppe, die gerade sehr
akute Vorbereitungen für das Etablieren von sozialer Verteidigung als
Handlungsalternative vorantreiben will.“ Damit meint er: Zivilisten stellen
sich Panzern entgegen, demonstrieren, boykottieren Anweisungen von
Besatzern, zahlen keine Steuern an sie und so weiter. „Genau. Ja. Und dann
siehst du Butscha, Irpin, Mariupol“, fährt Scheuing zögerlich fort.
Dort haben russische Truppen ZivilistInnen massakriert. Zeigt diese rohe
Gewalt nicht, dass sozialer Widerstand lebensgefährlich ist und in diesem
Krieg kaum funktionieren könnte? Scheuing zögert lange, aber am Ende sieht
er sich durch diese Taten bestätigt in seiner Überzeugung, „dass eine
prinzipielle Gewaltlosigkeit notwendig ist“.
Scheuing räumt aber auch ein, dass die Lage für ihn gerade nicht einfach
ist. Dass Russland seinen Status als Atommacht benutzt, um Druck in diesem
Krieg auszuüben, all das „führt zu einem Wutanfall“, sagt der sonst so
besonnene Pazifist. Ja, fahre ich fort, und man muss auch sehen, dass Putin
sich einfach nicht an Recht und Gesetz hält, dass er offenbar nur die
Sprache der Gewalt versteht.
„Dann rette ich mich manchmal in meine Daten“, sagt Scheuing. Das sind
Analysen bewaffneter Kämpfe, die nicht auf dem Schlachtfeld beendet wurden.
„Der Krieg endet am Verhandlungstisch“, sagt der Pazifist.
Stimmt, denke ich. Doch vorher ist auf dem Schlachtfeld bestimmt worden,
wie stark die Verhandlungspositionen der verschiedenen Parteien sind.
Einer wie Putin verhandelt ja nur, wenn er durch Gewalt so viel erreicht
hat wie möglich.
Auf solche Einwände hat Scheuing kaum praktikable Antworten. Seine
Lösungsvorschläge zu sozialer Verteidigung klingen in der Theorie gut, aber
mir fällt es schwer zu glauben, dass sie in der Praxis funktionieren. Nach
dem Gespräch mit Scheuing bin ich orientierungsloser als vorher.
Vielleicht muss ich jetzt einen Menschen fragen, der mehr Verantwortung
hat, einen Praktiker der Macht: zum Beispiel Jürgen Trittin. Der 67-Jährige
ist außenpolitischer Sprecher der Regierungspartei Bündnis 90/Die Grünen im
Bundestag. Er hat 1973 den Kriegsdienst verweigert, hat erst
Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt, [3][verteidigt diese
Unterstützung für das Land] aber seit dem russischen Einmarsch im Februar.
Trittin hat zwischen zwei Sitzungen im Reichstag Zeit für ein Telefonat mit
mir. Er sagt: „Es gibt einen Unterschied zwischen dem individuellen
Verhalten, ob man selbst an einem Krieg beteiligt ist, und der Frage, was
eine Gesellschaft und ein Staat tut.“ Das Recht auf
Kriegsdienstverweigerung sei eben ein individuelles Grundrecht. Für Trittin
wäre es also in Ordnung, zu sagen: Ich selbst kann nicht zur Waffe greifen,
aber ich gebe sie anderen, damit sie für unsere Sache töten.
Wer so denkt, hat für sich das akute Problem gelöst: So lassen sich Waffen
liefern, mit denen der russische Angriff auf die Ukraine gestoppt werden
könnte. Aber ich finde es inkonsequent, sein Gewissen sozusagen an der
Garderobe abzugeben, wenn man politische Entscheidungen fällt. Das
überzeugt mich nicht.
## Ein Vorbild?
Also, neuer Versuch: Trittins Parteifreund Tobias Lindner fällt mir auf,
weil der 40-Jährige seit Dezember Staatsminister im Auswärtigen Amt ist,
2001 Zivildienst leistete, 2019 aber seine Verweigerung widerrufen hat.
Warum?
Wäre das ein Vorbild für mich?
Ich treffe Lindner im Auswärtigen Amt, wo alles noch wichtiger wirkt als in
vielen anderen Bundesministerien: die langen, hohen Flure, weinrote
Teppiche, getäfelte Wände. Der Staatsminister sitzt auf einer schweren,
schwarzen Ledercouch, trägt einen dunklen, sehr formell wirkenden
Dreiteiler mit Schlips und lächelt viel. Seine Kriegsdienstverweigerung
habe er vor einer Wehrübung für Bundestagsabgeordnete zurückgezogen,
erzählt Lindner. Fünf Tage trug der Verteidigungspolitiker Uniform,
gehorchte Befehlen, schoss. „Rein nach der rechtlichen Definition bin ich
jetzt sogar Reservist“, sagt Lindner.
Zu der Wehrübung wollte er nach eigenen Worten, weil er jahrelang als
Haushalts- und Verteidigungsexperte seiner Fraktion Politik für die
Bundeswehr mitgestaltet hatte. „Natürlich wollte ich diese Bundeswehr auch
von innen sehen.“ Vor der Wehrübung habe er noch mal sein Gewissen geprüft,
sagt Lindner. „Spätestens 2019 bin ich zu dem Ergebnis gekommen: Genau, ich
würde mich auch mit einer Waffe in der Hand verteidigen.“ Deshalb schrieb
er der zuständigen Behörde, dass ihn „Gewissensgründe nicht mehr daran
hindern, den Kriegsdienst mit der Waffe zu leisten“.
Das hatte keine großen praktischen Folgen für ihn, denn die Wehrpflicht war
ja damals schon ausgesetzt. Für opportunistisch hält er sich dennoch nicht.
„Im Verteidigungsfall hätte ich vorher nicht zur Bundeswehr eingezogen
werden können. Jetzt schon“, sagt er. Lindner erklärt mir seinen
Sinneswandel so: Zur Zeit seiner Verweigerung im Jahr 2000 habe eine
„westdeutsche und westeuropäische Wohlfühlatmosphäre“ geherrscht, in der
niemand an Krieg hierzulande gedacht habe. Das habe sich zum Beispiel mit
den Anschlägen vom 11. September 2001 geändert.
## Waffenlieferungen verlängern Kriege nicht
„Und natürlich hat sich mein Bild über die Bundeswehr quasi durch den
Verteidigungsausschuss geändert und gewandelt – zum Positiven hin.“
Muss ich meine Verweigerung auch zurückziehen, wenn ich für
Waffenlieferungen an die Ukraine bin?
„Nein, das müssen Sie nicht“, antwortet Lindner mir. „Das würde nur gel…
wenn Sie aus Ihrer Verweigerung schlussfolgern, dass kein Mensch auf dieser
Welt in keiner Situation Gewalt gebrauchen darf.“
So habe er nie gedacht, sagt der Staatsminister. Denn sonst hätte er ja
nicht Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestags sein oder an
Budgets für die Bundeswehr mitarbeiten können.
Lindner kontert auch ein wichtiges Argument des Pazifisten Scheuing. Dass
Waffenlieferungen Kriege nur verlängern und nicht nachhaltig lösen würden,
hält er für „historisch widerlegt“. „Im Zweiten Weltkrieg lieferten die
Vereinigten Staaten den Westeuropäern massiv Waffen. Natürlich war das
mitunter kriegsentscheidend neben dem Kriegseintritt der USA.“
Und was hält er von der Aussage, dass Putin Deutschland gar nicht angreifen
will?
Er wisse nicht, woher der Pazifist seine Erkenntnisse über Putins Psyche
hat, sagt Lindner dazu. Und es gehe auch nicht nur um Putin. „Ich halte
Streitkräfte vor, damit mich niemand angreift. Damit erhöhe ich die Kosten
eines möglichen Feindes, mich anzugreifen.“
Als Lindner Scheuings Argumente auseinandernimmt, fühle ich auch zentrale
Teile meiner politischen Persönlichkeit infrage gestellt.
Das schmerzt. Umso mehr, als dass ich langsam nicht mehr weiß, was man
Lindner entgegenhalten soll: Dass ein Sieg in der Ukraine Putin ermuntern
würde, weitere Länder anzugreifen, ist sehr wahrscheinlich. Zivilen
Widerstand würde dieser ehemalige KGB-Offizier wohl mit Morden, Folter und
Deportationen nach sowjetischem Vorbild brechen. Putin lässt sich wohl nur
durch militärische Gewalt oder die Drohung mit ihr stoppen.
## Bilder tauchen wieder auf
Es tut weh, mir nach Jahrzehnten, in denen ich mich als Pazifist definiert
habe, einzugestehen: Wahrscheinlich muss Deutschland wirklich das
ukrainische Militär mit allen nötigen Waffen ausstatten – bezahlt auch mit
meinen Steuern. Wahrscheinlich brauchen wir die Bundeswehr und müssen sie
besser ausrüsten. Ob dafür wirklich 100 Milliarden Euro nötig sind, ist
eine andere Frage.
Da tauchen wieder die Bilder von der Kriegsübung in dem Wald bei Koblenz in
meinem Kopf auf. Die Schulung über besonders tödliche Munition. Das G3. Die
Gewissensprüfung im Ausschuss für Kriegsdienstverweigerung.
Dass Töten eine unwiderrufliche Entscheidung ist und ich ein fehlbarer
Mensch – daran hat sich nichts geändert. Deshalb könnte ich es immer noch
nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, jemanden zu töten.
Aber viele Menschen können das. In der Ukraine gibt es zwar nur ein sehr
eingeschränktes Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Doch offenbar kämpfen
viele ukrainische Soldaten aus Überzeugung. Ihr Kampf ist auch aus meiner
Sicht gerecht, und er könnte weitere Kriege verhindern.
Diese Abwägung zwingt mich dazu, von meiner radikalpazifistischen Haltung
Abstriche zu machen und zu dem erschreckenden Fazit zu kommen: Waffen für
die Ukraine, aber nicht für mich.
Gut leben kann ich mit dieser Haltung nicht. Weder Trittin noch Lindner
konnten meine Einwände entkräften, dass so eine Position inkonsequent, ja
heuchlerisch sei. Deshalb telefoniere ich am Ende noch mit der Philosophin
und Autorin Ina Schmidt. Sie hat schon an anderer Stelle schlaue Sachen
über das Gewissen gesagt. Schmidt findet es „überaus problematisch“, wenn
etwa Politiker bei ihren Entscheidungen nicht auch ihrem individuellen
Gewissen folgen, erläutert sie mir.
„Und trotzdem erfordert es die derzeitige Lage, sich hin und wieder aus
guten Gründen einer anderen Meinung anzuschließen“, da es „eine objektive
Notwendigkeit sein kann, schlicht weil Menschen sterben und wir nicht
tatenlos zuschauen können“, sagt sie. Auch das sei eine
Gewissensentscheidung, „die den kurzfristigen Kompromiss einschließt, ohne
dass deswegen der Zweck alle Mittel heiligen darf“.
Das ahnte ich schon. Aber nachdem Schmidt mir das so klar gesagt hat, kann
ich meinen Kompromiss in Sachen Ukraine etwas besser akzeptieren: Ja, das
ist nicht hundertprozentig konsequent – aber in dieser schwierigen Lage
notwendig.
26 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_4.html
[2] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/kristina-schroeder-da…
[3] https://www.zdf.de/nachrichten/video/panorama-lanz-trittin-waffenlieferung-…
## AUTOREN
Jost Maurin
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