# taz.de -- Anarchist:innen in der Ukraine: Geeint im Widerstand | |
> In der Ukraine unterstützen Anarchist:innen den Widerstand gegen | |
> Russland. Auch wenn sie damit den Staat verteidigen, den sie eigentlich | |
> ablehnen. | |
Bild: Unterstützer des anarchistischen Solidarity Collectives | |
Es geht nicht um ein Stück Land, sondern um die Menschen“, erklärt Sergey | |
Movchan im Video-Interview mit der taz. Der 36-jährige Aktivist ist Teil | |
der kleinen anarchistischen Bewegung der Ukraine. Sahen die | |
Aktivist:innen sich vor der Invasion in ihren politischen Kämpfen vor | |
allem mit Straßengewalt von Neonazis und staatlicher Repression | |
konfrontiert, ist es nun der existenzbedrohende Angriffskrieg Russlands. | |
Obwohl sie staatliche Autorität ablehnen, gab es für viele | |
Anarchist:innen keinen Zweifel daran, sich am Widerstand gegen die | |
russische Invasion zu beteiligen. „Widerstand ist für uns eine | |
existenzielle Frage, keine politische. Unter der russischen Besatzung gäbe | |
es nicht nur keine anarchistische, sondern gar keine sozialen Bewegungen | |
mehr“, ist sich Movchan sicher. | |
Bereits im Februar, als ein russischer Angriff immer wahrscheinlicher | |
wurde, gründete ein Zusammenschluss verschiedener anarchistischer und | |
anti-autoritärer Gruppen das Resistance Committee, um eine gemeinsame | |
Reaktion im Falle eines solchen Angriffs zu diskutieren. Die Entscheidung | |
stand schnell fest: Widerstand mit allen Mitteln. „Unsere Position basiert | |
darauf, dass wir nicht weglaufen, nicht als Geisel genommen oder getötet | |
werden wollen – zumindest nicht kampflos“, heißt es in einem | |
[1][Kommuniqué], das das Resistance Committee kurz vor Kriegsbeginn | |
veröffentlicht hat. | |
Einige Aktivist:innen traten den regulären Streitkräften bei, andere | |
der Territorialverteidigung, also weitestgehend selbstorganisierten | |
Freiwilligen-Milizen, die nach der russischen Intervention im Donbass 2014 | |
entstanden und die seit 2021 formal der ukrainischen Armee angegliedert | |
sind. Mittlerweile gibt es hier eine eigene antiautoritäre Einheit, die | |
rund 40 Mitglieder umfasst. [2][Medienberichten zufolge] hat sie bisher vor | |
allem Aufklärungs- und Unterstützungsaufgaben wie etwa die Evakuierung von | |
Zivilist:innen übernommen und wurde noch nicht an der Front eingesetzt. | |
Der politische Anarchismus hat in der Ukraine eine lange Tradition. In den | |
Wirren des Untergangs des Zarenreichs, der Oktoberrevolution und dem | |
darauffolgenden russischen Bürgerkrieg, schaffte es eine hauptsächlich aus | |
Bauern bestehende anarchistische Bewegung um den Revolutionär Nestor Makhno | |
von 1917 bis 1921, weite Teile der heutigen Ukraine frei von staatlicher | |
Kontrolle zu halten. Geschützt von Makhnos „Schwarzer Armee“ gründeten die | |
Revolutionär:innen im Südosten des Landes rund um Makhnos | |
Geburtststadt Huljajpole selbstverwaltete Kommunen und trafen politische | |
Entscheidungen in einem basisdemokratischen Rätesystem. | |
## Anarchismus hat in der Ukraine Tradition | |
In ihrer Ablehnung jeglicher Herrschaft traf die Machnowschtschina, wie die | |
Bewegung auch genannt wurde, auf Widerstand von allen Seiten. So bekämpfte | |
die Schwarze Armee nicht nur die die ehemaligen Gutsherren vertretende | |
Weiße Armee, sondern auch die Bolschewiken, die in den Anarchist:innen | |
eine Gefahr für ihren zentralistischen Machtanspruch sahen. Nachdem ein | |
Zweckbündnis gegen die Konterrevolutionäre der Weißen Armee siegreich war, | |
fielen die Bolschewiken den geschwächten Machnowschtschina in den Rücken | |
und besiegelten somit das Ende der Bewegung. | |
[3][In Manifesten] und Social-Media-Posts beziehen sich die heutigen | |
Anarchist:innen zwar gerne auf Makhno, doch von der einstigen Größe der | |
Machnowschtschina sind sie weit enfernt. Heute ist die linke Bewegung in | |
der Ukraine, von denen die Anarchist:innen nur einen kleinen Teil | |
ausmachten, weder zahlenmäßig stark noch politisch einflussreich. | |
Linke Politik, besonders Kommunismus und Antifaschismus werden von großen | |
Teilen der Bevölkerung vor allem mit einer pro-russischen Haltung | |
assoziiert. Das ist nicht überraschend, da sich die seit 2015 verbotene | |
Kommunistische Partei und einzelne marxistisch-leninistische Gruppen | |
besonders während der Maidan-Revolution deutlich pro-russisch | |
positionierten. Dazu kommt, dass Russlands „Denazifikations“-Propaganda | |
zunehmend den Begriff „Antifaschismus“ vereinahmt. | |
Gruppen der Neuen Linken, zu denen auch die anarchistische Bewegung gehört, | |
grenzten sich dagegen entschiedener von der sowjetischen Vergangenheit ab, | |
bildeten aber aufgrund ihrer Verschiedenheit keine einheitliche Bewegung: | |
Dementsprechend wenig Einfluss hatte die Linke auf den Verlauf der | |
Maidan-Revolution. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen [4][waren es | |
vor allem rechte Gruppen], die der Berkut-Spezialpolizei, die zur | |
Aufstandsbekämpfung eingesetzt wurde, Paroli bieten konnten. Somit konnte | |
vor allem die Rechte ihren gesellschaftlichen Einfluss nach der | |
Maidan-Revolution steigern. | |
## Netzwerk aus mehreren Initiativen | |
Aktiv zum Widerstand beizutragen sei daher die Grundlage, um in Zukunft | |
überhaupt Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen in der Ukraine | |
nehmen zu können und das Feld nicht den Rechten zu überlassen, sagt der | |
ukrainische Anarchist Sergey Movchan. „Wenn wir nichts tun, haben wir keine | |
Zukunft als linke Bewegung.“ Seit Beginn der Invasion ist Movchan in einem | |
von Anarchist:innen gegründeten freiwilligen Hilfsnetzwerk aktiv. Von | |
der ursprünglichen Idee, die Genoss:innen an der Front mit der | |
benötigten Ausrüstung zu versorgen, wuchs der Tätigkeitsbereich des | |
Netzwerks schnell auf humanitäre Hilfe aller Art. | |
Inzwischen hat sich die Gruppe mit ähnlichen Initiativen unter dem Namen | |
„Solidarity Collectives“ vernetzt. In Kyiv und Lwiw betreibt die Initiatve | |
mehrere Lagerhäuser, von denen aus sie Spenden in Form von Militärtechnik | |
und humanitären Hilfsgütern an Zivilist:innen und Kämpfer:innen in | |
Frontgebieten verteilt. Für viele Aktivist:innen, die nicht an aktiven | |
Kampfhandlungen teilnehmen können oder wollen, sind solche | |
[5][Freiwilligennetzwerke] eine weitere Möglichkeit, den Widerstand zu | |
unterstützen. | |
„Die Kämpfer schicken uns Listen mit den Dingen, die sie brauchen“, erklä… | |
Movchan die Arbeitsweise der Gruppe, „wir organisieren das Material und | |
bringen es an die Front.“ Die Aktivist:innen liefern Nachtsichtgeräte, | |
Entfernungsmesser, Schutzwesten und vieles mehr. Feldtaugliche Medizin- und | |
Verbandsmaterialien werden angesichts von mehreren hundert Verwundeten pro | |
Tag immer benötigt. Da diese Güter in der Ukraine mittlerweile Mangelware | |
seien, kaufe er das meiste in Europa ein, berichtet Movchan. Das Geld für | |
die oft mehrere tausend Euro teuren Spezialgeräte sammeln andere | |
anarchistische und antiautoritäre Gruppen im Ausland. | |
Gruppen wie [6][„Good Night Imperial Pride“] organisieren Kampagnen, | |
veranstalten Solidaritäts-Partys, verkaufen T-Shirts und sammeln Spenden | |
auf Telegram-Kanälen mit mehreren tausend Followern. „Ohne internationale | |
Unterstützung wäre das hier gar nicht möglich“, sagt Movchan. | |
Manche Aktivist:innen wie René Schuijlenburg fahren auch von | |
Deutschland direkt in die Ukraine, um die Genoss:innen vor Ort mit dem | |
Notwendigsten zu versorgen: „Es gibt einen massiven Mangel an Brennstoff, | |
Medizin und Verbandszeug“, sagt Schuijlenburg der taz per Telefon. Mit der | |
in Wuppertal ansässigen Organisation [7][„Cars for Hope“] hat der | |
56-Jährige bereits humanitäre Transporte entlang der Balkan-Route | |
organisiert. | |
## Internationale Aktivist:innen an der Front | |
Das Ziel ist nun, eine kontinuierliche Versorgungsroute aufzubauen, um | |
regelmäßig Material in die Ukraine zu bringen. Während sich Linke in | |
Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern weiterhin schwertun mit | |
der politischen Einordnung des russischen Angriffs, sieht Schuijlenburg die | |
Situation pragmatisch: „Ich sehe Waffenleiferungen grundsätzlich kritisch, | |
aber der Kampf gegen Putin hat Priorität. Da schließe ich mich den Genossen | |
vor Ort an.“ | |
Andere internationale Aktivist:innen kämpfen an der Front oder arbeiten | |
als Sanitäter:innen. Movchan schätzt, dass zurzeit rund 20 antiautoritäre | |
Internationalist:innen in der Ukraine kämpfen, darunter | |
Genoss:innen, die aus Russland und Weißrussland fliehen mussten. | |
Dass Antimilitarismus dieser Tage keine praktikable Haltung in der Ukraine | |
ist, zeigt sich auch in kleinen Dingen. Anastasija, eine Öko-Anarchistin, | |
die in Lwiw in der Gruppe [8][„Eco Platform“] aktiv ist, berichtet, dass | |
die kostenlose Essensausgabe auf der Straße, nicht mehr wie sonst üblich, | |
„Food not bombs“, sondern nun „Food is right“ heiße. | |
Hoffnungsvoll stimmt viele, dass die bisherigen Reaktionen auf den | |
russischen Angriffskrieg eine zersplitterte Bewegung zusammengebracht | |
haben, dass dadurch viele neue Netzwerke geknüpft wurden. „Die Invasion hat | |
uns zusammengebracht und viele Menschen mobilisiert, die vorher inaktiv | |
waren“, berichtet Anastasija über ihre Erfahrung in der | |
Freiwilligen-Initiative. Sie hofft, dass die Bewegung nach dem Krieg | |
gestärkt hervorgeht. „Nach dem Krieg“, sagt sie, „sollten wir mit der | |
selben Energie gegen Großkonzerne und die Zerstörung der Natur kämpfen, wie | |
wir jetzt gegen Russland kämpfen.“ | |
28 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/573/wie-anarchistinnen-den-krie… | |
[2] https://www.euronews.com/my-europe/2022/06/09/meet-the-motley-crew-of-anarc… | |
[3] https://medium.com/@blackheadquarterinua/manifesto-of-resistance-committee-… | |
[4] /Nationalisten-in-der-Ukraine/!5047754 | |
[5] /Freiwilligenhilfe-in-der-Westukraine/!5838223 | |
[6] https://gnip.blackblogs.org/ | |
[7] https://cars-of-hope.org/ | |
[8] https://instagram.com/eco_platform?igshid=YmMyMTA2M2Y= | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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