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# taz.de -- Haltungen zur Ukraine: Krieg in den Köpfen
> Ein offener Brief ist nichts anderes als eine Denkanregung. Auf diese
> allergisch zu reagieren, disqualifiziert diejenigen, die nicht denken
> wollen.
Bild: Krieg der Worte
Vor einigen Wochen erschien in Foreign Affairs ein [1][langer Essay von
Barry R. Posen], Professor für Politikwissenschaft am MIT. Mit präziser
Ausführlichkeit diskutiert Posen mögliche Alternativen der
Kriegsentwicklung in der Ukraine und gelangt zu dem Ergebnis, dass es
mittelfristig keine andere Lösung geben wird als diplomatische Bemühungen
und Friedensverhandlungen. Ein vernünftiger, abgeklärter, genau
argumentierender Text. In der Folge meldeten sich verschiedene Stimmen zu
Wort und diskutierten mit unterschiedlicher Einschätzung die vorgebrachten
Argumente.
Ein kleines Wunder, zieht man die jüngsten medialen Erfahrungen in
Deutschland zum Vergleich heran. Als am 30. Juni in der Zeit [2][ein
Aufruf] von 21 namhaften Intellektuellen erschien (darunter auch meine
Person), der mit ähnlichen Überlegungen zur selben Schlussfolgerung
gelangt, folgte ein Sturm der Entrüstung, der nicht abflauen wollte. Es
lohnt sich, diese Aufregung unter die Lupe zu nehmen, um zu begreifen, wie
sich der öffentliche Diskurs in unserem Land verändert hat. Nicht etwa, um
über den rauen Ton und die persönlichen Attacken zu jammern, denn was einem
hierzulande widerfährt, ist geradezu harmlos im Vergleich zu dem, was ein
kritischer Mensch in Russland zu erleiden hat. Sondern um eine Reflexion
darüber anzuregen, wie sehr der Krieg sich inzwischen unserer
Debattenkultur bemächtigt hat.
Fast keine der unzähligen Reaktionen ging ernsthaft auf die Argumente ein.
Stattdessen falsche Wiedergabe, emotionalisierte Hetze und deftige
Diffamierung. Die meisten Artikel fassten den offenen Brief nicht einmal
wahrheitsgemäß zusammen, sondern verfälschten ihn zu einer Karikatur.
Gelegentlich wurde das genaue Gegenteil von dem kolportiert, was im
Originaltext gefordert wird. Zum Beispiel: „Verhandlungen bedeuten nicht,
der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren.“ Daraus bastelten einige
Kommentatoren die Behauptung, die Unterzeichnerinnen würden die Ukraine zur
Kapitulation auffordern. Ein alter Freund, ein gebildeter, politisch
interessierter Arzt, rief mich erschrocken an, um zu fragen, was ich da
unterschrieben hätte. Ich bat ihn, das Original zu lesen, bevor wir uns
weiter unterhalten. Kurz darauf rief er erneut an, noch erschrockener, denn
das, was in einem seriösen Medium als vermeintlicher Inhalt dargestellt
worden war, entsprach kaum den tatsächlichen Formulierungen.
Aber das reichte offenbar nicht. Oft wurde versucht, die Leserinnen auf
plumpe Weise emotional zu manipulieren: Die Unterzeichnerinnen seien dafür,
dass ukrainische Frauen vergewaltigt werden. Sie seien Propagandisten
Putins, widerlich, sie sollten umgehend an die Front geschickt werden.
Solche emotionale Hetze tarnt sich als moralische Überlegenheit.
Vereinfacht könnte man sagen, wer zum Krieg eine abweichende Meinung
veröffentliche, müsse ein schlechter Mensch sein.
Womit wir bei dem stumpfen Instrument der Diffamierung wären: Die Absicht
des Meinungsgegners muss per se verwerflich sein. Weswegen niedere Motive
unterstellt werden, die von Feigheit bis hin zu Eitelkeit reichen (z.B. es
handele sich um Leute, die alles von sich geben, nur um in die Talkshows
eingeladen zu werden). Polemik ist das bevorzugte Mittel derjenigen, die
nicht debattieren wollen. Sie ist inhärent amoralisch. Wer polemisiert,
weiß sich ohne Zweifel im Recht. Die ethische Haltung hingegen ist eine der
kontinuierlichen Überprüfungen der eigenen Kenntnisse und Erkenntnisse. Wem
ein bestimmtes Thema existenziell wichtig ist, dem erscheint unbelehrbare
Selbstsicherheit unangemessen. Wem alles daran liegt, dass ein geliebter
Mensch geheilt wird, ist darauf erpicht, eine zweite, dritte Meinung
einzuholen und sich über alle verfügbaren Heilmethoden zu informieren. Wer
diskursive Verantwortung übernimmt, sollte sich nicht hinter der Burg des
Glaubens verschanzen, sondern alle vermeintlichen Wahrheiten hinterfragen
und abweichende Argumente und Meinungen würdigen.
Wer auch nur das Geringste von freien öffentlichen Diskursen versteht, der
weiß, dass die Vielfalt der Ansichten die beste Voraussetzung für eine
profunde und verlässliche Beurteilung ist. Wer bestimmte Meinungen per se
ausschließen will (und nichts anderes beabsichtigt die Diffamierung), dem
ist nicht an einem intelligenten Diskurs gelegen, der begehrt die
Durchsetzung seiner sturen Haltung. Und damit sind wir wieder beim Krieg,
denn dieser engt das Denken ein, bis hin zu jener unversöhnlichen
Eintönigkeit: Entweder bist du für uns oder gegen uns. Wie ist es also
möglich, dass Menschen, die vorgeben, eine moralisch richtige Politik zu
vertreten, nicht begreifen, wie gefährlich jegliches Begrenzen der
Denkräume ist? Erst recht in Zeiten, in denen kriegerischer Pathos und
nationalistischer Eifer zunehmen.
Ein kritischer Geist hat die Aufgabe, über die Niederungen gegenwärtiger
Zwänge hinauszublicken, den Horizont zu erweitern. Was werden die Folgen
von zunehmender [3][Militarisierung] sein? Mehr Frieden oder die
gewalttätige Verteidigung der eigenen Interessen, wenn in Zukunft aufgrund
ökologischer Krisen der Eigennutz mit altbekannten rhetorischen Tricks als
Selbstverteidigung verkauft werden wird. Nationalismus und Militarismus
sind Formen partieller Blindheit und diese wiederum eine entscheidende
Voraussetzung für Gewalt.
Am frappierendsten ist jedoch die gedankliche Umkehrung der tatsächlichen
Machtverhältnisse. Viele Artikel lesen sich, als müssten sie gegen einen
mächtigen Feind ankämpfen. Das ist realitätsfern. Wenn Intellektuelle einen
öffentlichen Brief verfassen, tun sie das, weil sie keine andere
Einflussmöglichkeit haben als ihr ehrliches Wort. Sie entscheiden ja
nichts, sie halten kein wichtiges Amt inne. Ein offener Brief ist nichts
anderes als eine Denkanregung; und auf diese allergisch zu reagieren,
disqualifiziert nur diejenigen, die nicht denken wollen.
10 Aug 2022
## LINKS
[1] https://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/2022-07-08/ukraines-implaus…
[2] https://www.zeit.de/2022/27/ukraine-krieg-frieden-waffenstillstand?utm_refe…
[3] /Diskussion-ueber-Ukrainekrieg/!5846803
## AUTOREN
Ilija Trojanow
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