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# taz.de -- Denkmal in Riga: Krieg und Gedächtnis
> Wie man einen Krieg nennt, liegt in den Händen der Betrachter und an
> ihren politischen Absichten. Der aktuellen Debatte täte mehr Rationalität
> gut.
Bild: Sturz des sowjetischen Ehrenmals in Riga am 24. August:
Es war windig auf dem Rigaer Siegesplatz, vermutlich weil das hoch
aufschießende sowjetische Ehrenmal die Luftströmungen teilte. Es zerteilte
auch anderes, Erinnerungen, Gefühle, Geschichtspolitik, alles, was sich
hinter der schlichten Aufschrift „1941 * 1945“ verbarg; nur die russische
Minderheit feierte hier am 9. Mai.
Nun wurde das [1][Denkmal in Riga gestürzt], und während ich mich frage,
was diese hochsymbolische Geste für die Zukunft des Erinnerns in Europa
bedeutet, bin ich in Gedanken noch einmal auf dem Platz, wo ich den
Obelisken vor einem Jahr sah. Vom Podest fielen die Platten ab, auf den
Fahnenmasten trat Rost zutage. Verfall, schlechtes Material, kein Vergleich
mit den pompösen gepflegten sowjetischen Ehrenmalen in Berlin. Aber wie
haltbar ist dieser Unterschied? Und wie haltbar soll er sein?
Wo beginnt Revisionismus und wo ein anderes historisches Begreifen? Der
Begriff Vernichtungskrieg ist für diese Erörterung besonders geeignet.
Unter Politikern ist es mittlerweile gängig, den russischen Krieg mit einem
Wort zu bezeichnen, das in Deutschland bisher für die Verbrechen der
Wehrmacht reserviert war. Zugleich ist in der Bevölkerung das Wissen über
die immensen Zahlen der im Osten ermordeten nichtjüdischen Zivilisten immer
gering geblieben.
Die Bundeszentrale für politische Bildung sah sich bereits im April
veranlasst, eine Erinnerung an das Vorgehen der Wehrmacht in der Ukraine
unter die Überschrift „[2][Schon einmal Vernichtungskrieg]“ zu stellen. Auf
der anderen Seite ist es keine russische Erfindung, einen Krieg, der auf
die Zivilbevölkerung zielt, mit einer verharmlosenden Bezeichnung zu
belegen.
„Aufrechterhaltung der Ordnung“
Frankreich bezeichnete seinen äußerst blutigen Algerienkrieg, dem
Hunderttausende Einheimische zum Opfer fielen, noch drei Jahrzehnte nach
dessen Ende als „Operation zur Aufrechterhaltung der Ordnung“. Dass es sich
um einen Krieg handelte, erkannte der französische Staat erst 1999 an, und
es brauchte noch einmal zwei Jahrzehnte, um den systematischen Einsatz von
Folter einzuräumen.
Dem kolonial-deutschen Maji-Maji-Krieg in Tansania fielen zu Beginn des 20.
Jahrhunderts etwa 200.000 Afrikaner zum Opfer, erschossen oder verhungert,
nachdem die Kolonialtruppe Dörfer, Ernten und Saatgut niederbrannte.
Genozidale Tendenzen? Vernichtungskrieg? Dazu gibt es keine Debatte, weil
dieser Unrechtskomplex das deutsche Bewusstsein ohnehin noch kaum erreicht
hat.
Benennungen sind also nie voraussetzungslos, genauso wenig wie das
geschichtliche Ereignis. Das Wort Vernichtungskrieg war für die
nachdenklichen Angehörigen meiner Generation so bedeutend, weil es dem
Nationalsozialismus einen neuen dunklen Bezugspunkt gab: die massenhafte
Schuld unserer Väter. Viele hatten Angst, den eigenen Vater auf einem Foto
jener Wanderausstellung zu entdecken, die 1995 endlich mit dem Mythos der
sauberen Wehrmacht brach.
Auch wenn wir heute mehr über das Ausmaß kolonialer Gewalt gegen
Zivilbevölkerungen in den letzten 500 Jahren wissen, nimmt dies dem
NS-Feldzug gegen die Gesellschaften der Sowjetunion nichts von seinem
Schrecken: eine weltanschaulich wie rassistisch konditionierte
Kriegsmaschine, mit allein zu Beginn bereits drei Millionen Soldaten.
## In Psychodynamiken gefangen
Das Problem der Abwägung gegenüber Putins Krieg wirft Fragen auf, die sich
der deutschen Erinnerungspolitik insgesamt stellen: Wie kann der besonderen
Dimension der NS-Verbrechen gedacht werden, ohne dabei – willentlich oder
unwillentlich – andere Vergehen zu bagatellisieren, seien es frühere oder
heutige? Wie wird die deutsche Vergangenheit produktiv mit einer an
Menschenrechten orientierten Politik der Gegenwart in Beziehung gesetzt?
Und wie kann sich die deutsche Post-Tätergesellschaft von Psychodynamiken
befreien, die einen klaren Blick auf diese Aufgaben behindern? Im
Verhältnis zu Israel vermag Deutschland bisher keine sinnvolle Antwort auf
diese Fragen zu geben. [3][Schuldgefühle begründen ein
Loyalitätsverhältnis], das wenig geeignet ist, Menschenrechtsvergehen
realistisch wahrzunehmen und darauf differenziert zu reagieren.
Das Verhältnis zum Ukrainekrieg scheint zunächst von ganz anderer Natur,
doch zeigen sich verwandte Muster – wenn etwa Versuche, sich dem Krieg
analytisch zu nähern, sogleich als Verharmlosung Putins geschmäht werden.
Ob der Begriff Deportation für das [4][erzwungene Verlassen ostukrainischer
Gebiete] passend ist, kann nur die Untersuchung der konkreten Umstände
ergeben.
Wenn wir mit diesem Begriff stets einen Viehwagon Richtung
Vernichtungslager verbinden, legen wir einen Maßstab an, der die Opfer
heutiger Geschehnisse dazu verdammt, im Schatten unserer höchsteigenen
Verbrechensgeschichte zu verharren. Es versteht sich von selbst, dass ich
keine fertigen Antworten auf die von mir aufgeworfenen Fragen anbieten
kann. Aber sie öffentlich zu erörtern, könnte mehr Rationalität in die
gegenwärtige Debatte bringen.
Die selbstbezüglichen [5][deutschen Scharmützel um die documenta 15] herum
wirken heillos deplatziert angesichts der geschichtspolitischen
Zerklüftungen, die sich mit dem Krieg und den Umwälzungen in Europa auftun.
Und anders als vor einigen Jahren scheint mir die Erinnerung an den
Holocaust und den gesamten NS-Verbrechenskomplex heute keineswegs
gesichert.
Was tun? Die NS-Geschichte gegen Trivialisierungen und Missbrauch
verteidigen, inklusive des Schutzes der Mahnmale für den militärischen Sieg
über Nazideutschland. Und zugleich deutsche Befindlichkeiten nicht länger
in den Mittelpunkt des Räsonierens stellen. Das ist ein kompliziertes
Zweierlei, gewiss, zumal geschichtspolitischer Revisionismus heute in
verschiedensten Gewändern auftritt.
1 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.reuters.com/video/watch/idOV083726082022RP1
[2] https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/507290/schon-einmal-vernichtung…
[3] /Diskussion-um-deutsche-Staatsraeson/!5806198
[4] /Zwangsevakuierung-aus-der-Ukraine/!5841244
[5] /Antisemitismus-auf-der-documenta-fifteen/!5860742
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
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Krieg
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Schwerpunkt Fußball-EM 2024
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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