| # taz.de -- Ökonom über Inflation und Sozialpolitik: „Wir haben eine unsozi… | |
| > Steigende Preise, miese Löhne, geringe Sparquote: Wir sind in einer | |
| > sozialen Notlage, sagt Ökonom Marcel Fratzscher. Daran sei auch der Staat | |
| > Schuld. | |
| Bild: Ist gegen die Schuldenbremse: Marcel Fratzscher | |
| taz am wochenende: Herr Fratzscher, [1][explodierende Energiepreise], | |
| Engpässe bei den Lieferketten, noch mehr steigende Lebensmittelpreise nicht | |
| zuletzt aufgrund der Dürre auf der gesamten Nordhalbkugel – wie hart wird | |
| es für die Menschen hierzulande in den kommenden Monaten? | |
| Marcel Fratzscher: Wir haben eine soziale Notlage. Das muss man ganz klar | |
| sagen. Und ich bin überrascht, dass das anscheinend bei vielen noch nicht | |
| angekommen ist. Auch in der Politik nicht. | |
| Woran erkennen Sie das? | |
| Wir erkennen das bei den Sorgen der Menschen, aber man sieht es auch ganz | |
| konkret: Die Tafeln und Schuldnerberatungen haben Zulauf. Und die Menschen | |
| schränken ihren Konsum ein. Im ersten Halbjahr haben viele Leute | |
| nachgeholt, was sie in den Pandemiejahren nicht machen konnten. Wenn die | |
| Energiekosten der Menschen jedoch um 40 Prozent und mehr steigen, müssen | |
| sie bei anderen Ausgaben sparen. Das passiert gerade. Ich gehe davon aus, | |
| dass wir im Winter in eine Rezession schlittern werden. Schon jetzt im | |
| dritten Quartal schrumpft die Wirtschaft. Das wird sich wohl im vierten | |
| Quartal fortsetzen. | |
| Wir haben derzeit die höchste Inflation der Nachkriegszeit. Viele von uns | |
| können sich nicht vorstellen, was auf uns zukommt. In den Sommerferien sind | |
| wir so munter gereist wie in Zeiten vor Corona. | |
| Wir erleben momentan zwar noch keinen wirtschaftlichen Einbruch. Wir haben | |
| aber eine höchst unsoziale Inflation. In der Regel kommt eine Inflation | |
| dann, wenn es uns zu gut geht, es also einen Nachfrage-Boom nach heimischen | |
| Dienstleistungen und Waren gibt. Inflation lässt sich dann ganz gut | |
| verkraften. Denn die Wirtschaft brummt und damit einher gehen normalerweise | |
| ordentliche Lohnerhöhungen. Jetzt geschieht aber genau das Umgekehrte: Wir | |
| haben eine Inflation von 8 Prozent, aber nur Lohnabschlüsse von 4,5 | |
| Prozent. Menschen mit geringen Einkommen – das haben unsere Studien gezeigt | |
| – sind von den hohen Energiekosten und steigenden Lebensmittelpreisen drei- | |
| bis viermal so stark betroffen wie Menschen mit hohen Einkommen, weil | |
| Erstere einen höheren Anteil ihres Einkommens für Dinge des Alltags | |
| ausgeben müssen, die jetzt teurer werden. | |
| Zugleich haben wir Arbeitskräftemangel. Dämpft das womöglich die Folgen der | |
| drohenden Wirtschaftskrise? | |
| Dieser [2][Arbeitskräftemangel] ist massiv. Wir haben zwei Millionen offene | |
| Jobs. Das geht quer durch alle Qualifikationsschichten. Und das ist ein | |
| gutes Zeichen zumindest jetzt für die Krise, denn wir müssen nicht mit | |
| einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit rechnen. Die schlechte Nachricht | |
| aber ist: Viele Jobs sind nicht gut bezahlt und die Kaufkraft der Löhne | |
| sinkt. Wir könnten in den kommenden Monaten eine ungewöhnliche Rezession | |
| erleben, in der wir keinen Anstieg von Arbeitslosigkeit verzeichnen, der | |
| Lebensstandard für viele dennoch massiv zurückgeht. | |
| Warum glauben Sie, ist die derzeitige Lage für viele so schwierig zu | |
| verstehen? | |
| Wir sind hierzulande hohe Inflation nicht mehr gewohnt. Kaum ein anderes | |
| westliches Land hatte in den vergangenen 70 Jahren eine so geringe | |
| Inflation wie die Bundesrepublik. Es heißt zwar immer: Wir Deutsche hätten | |
| Angst davor. Aber niemand, der heute noch lebt, hat die Hyperinflation von | |
| 1923 selbst erlebt. In der Nachkriegszeit war die DM stabiler als jede | |
| andere Währung der Welt. Und auch seit der Einführung des Euro hatten wir | |
| kaum Inflation. | |
| Die Deutschen haben zu wenig Angst? | |
| Wir sind ein sehr reiches Land, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. | |
| Die Deutschen sparen viel – aber die Ungleichheit bei der Sparquote ist mit | |
| die höchste in Europa. Das reichste Prozent vereinigt 35 Prozent des | |
| privaten Vermögens auf sich. Die unteren 40 Prozent haben aber fast gar | |
| kein Vermögen – als Vorsorge fürs Alter, für die Kinder, oder um sich gegen | |
| Krisen abzusichern. Es macht sie stark abhängig vom Sozialstaat und | |
| begrenzt ihre eigene Autonomie und Freiheit. | |
| Aber ist das nicht der Grundgedanke des Sozialstaats? Der Staat hilft in | |
| Notlagen. | |
| Dieses Verständnis ist meiner Ansicht nach der Grundfehler, den auch die | |
| Politik begeht. Ein guter Sozialstaat darf aber nicht erst warten, bis der | |
| Schaden eingetreten ist, sondern muss vorbeugend handeln und Notlagen | |
| vermeiden helfen. Und hier liegt das Scheitern des Sozialstaats. | |
| Deutschland hat unter den Industrieländern mit die größte private | |
| Vorsorgelücke fürs Alter, da viele zu wenig eigene Ersparnisse während | |
| ihres Arbeitslebens aufbauen können. Die Menschen sollten imstande sein, | |
| nach 45 Arbeitsjahren so viele Rücklagen gebildet zu haben, dass sie nicht | |
| hilfsbedürftig sind. | |
| Sind wir vielleicht einfach schlechte Anleger? | |
| Dass einige Deutsche wenig Vermögen bilden, mag am konservativen | |
| Anlageverhalten liegen. Aber ungewöhnlich viele Menschen können nicht | |
| sparen, weil sie jeden Euro ihres Einkommens für den täglichen | |
| Lebensunterhalt benötigen. 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung gehören | |
| dem Niedriglohnsektor an, einer der höchsten Werte unter den | |
| Industrieländern. Ökonomisch und sozial schädlich ist aber auch das | |
| Steuersystem. Es gibt fast kein anderes Industrieland, das Vermögen so | |
| gering und Einkommen aus Arbeit so hoch besteuert wie Deutschland. Hinzu | |
| kommen explodierende Mieten in den Großstädten. Das heißt: Von der Arbeit | |
| bleibt auch für Menschen mit mittlerem Einkommen nur wenig zum Sparen. | |
| Was muss konkret geschehen? | |
| Wir brauchend dringend eine Entlastung von Menschen, die von den höheren | |
| Energie- und Nahrungsmittelpreisen besonders heftig betroffen sind. Mein | |
| Vorschlag ist ein Energiegeld von 100 Euro pro Kopf im Monat für alle | |
| mittleren und geringen Einkommen, also beispielsweise einen | |
| Vierpersonenhaushalt mit weniger als 6.000 Euro Bruttoeinkommen. Für | |
| Singles, Paare oder größere Familien wird das entsprechend angepasst. Ich | |
| empfehle eine Dauer von 18 Monaten, um über die nächsten zwei Winter zu | |
| kommen. Das wäre zielgenau und könnte rasch umgesetzt werden. Diese | |
| Maßnahme würde 35 Milliarden Euro im Jahr kosten. Das ist ungefähr so viel | |
| wie die ersten beiden Pakete zusammen. Nur zum Vergleich: In der | |
| Coronakrise hat der Staat 350 Milliarden Euro an Entlastungen für | |
| Unternehmen ausgegeben. | |
| Trotzdem: Wie soll das finanziert werden? | |
| Der Staat profitiert von der hohen Inflation. Wenn die Menschen 20 Prozent | |
| mehr für Lebensmittel zahlen, erhält der Staat darauf noch mal 19 oder 7 | |
| Prozent an Mehrwertsteuer. Mit einer Übergewinnsteuer bei Unternehmen kämen | |
| noch mal rund 15 bis 20 Milliarden Euro zusammen. | |
| Zusätzlichen Ausgaben steht die Schuldenbremse entgegen. Sie soll 2023 | |
| wieder gelten. | |
| Die Schuldenbremse sollte in einer so tiefen Krise die geringste Priorität | |
| haben. Bei ihrer Verabschiedung wurde explizit reingeschrieben, dass der | |
| Bundestag in einer Notsituation die Schuldenbremse aussetzen kann. Wir | |
| haben das Pech, dass wir nach einer Pandemie nun so einen Krieg haben. Nur | |
| hat sich das niemand hier so ausgesucht. Deshalb sehe ich keinen Weg daran | |
| vorbei, sie auch 2023 auszusetzen. | |
| Bundesfinanzminister [3][Christian Lindner sieht das anders]. | |
| Das ärgert mich. Der Bundesfinanzminister sagt, die Schuldenbremse ist 2023 | |
| gesetzt. Zugleich will er 10 Milliarden Euro für den Ausgleich der kalten | |
| Progression ausgeben, wovon 70 Prozent den oberen Einkommensgruppen | |
| zugutekommt, während die unteren 40 Prozent so gut wie nichts bekommen. 10 | |
| Milliarden Euro so auszugeben, anstelle des Ziels, Entlastung genau an | |
| Menschen mit mittleren und geringen Einkommen zu geben, ist ökonomisch wie | |
| sozial unsinnig und schädlich. Denn die Konsumeffekte sind massiv. Mit | |
| jedem Euro mehr für Energie können Menschen mit geringen und mittleren | |
| Einkommen weniger beim Friseur oder im Supermarkt ausgeben. Das belastet | |
| die Gesamtwirtschaft. Wenn ich hingegen Menschen mit 200.000 Euro | |
| Jahreseinkommen um ein paar Hundert Euro entlaste, legen sie das | |
| zusätzliche Geld aufs Bankkonto. Es hat null Auswirkung auf die laufende | |
| Wirtschaft. Das ist für mich in jeglicher Hinsicht schlechte Wirtschafts- | |
| und Sozialpolitik. | |
| Ist denn die [4][Gasumlage] des grünen Wirtschaftsministers sozial? | |
| Nein, ich halte die Gasumlage für einen riesigen Fehler. Uniper gibt an, | |
| ein Teil der Verluste sei durch Abschreibungen auf die gescheiterte | |
| Pipeline Nord Stream II zustande gekommen. Wieso sollen Konsumenten für | |
| diesen politischen Fehler haften und nicht der Staat direkt? Was für mich | |
| die noch größere Sünde ist: Auf der einen Seite werden die Bürgerinnen und | |
| Bürger gezwungen, sich an den außerordentlichen Verlusten der | |
| Energieunternehmen zu beteiligen. Aber an den außergewöhnlichen Gewinne der | |
| gleichen Unternehmen sind sie nicht beteiligt. Die Regierung kann nicht die | |
| Verluste sozialisieren, die Gewinne aber privatisieren. Das ist mit einer | |
| funktionierenden Marktwirtschaft nicht vereinbar. | |
| 27 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Lee | |
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