# taz.de -- „Johanna“ am Theater Bremen: Brecht mal ohne Klassenfrage | |
> Alize Zandwijk inszeniert „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ in | |
> Bremen gegen den Strich: Statt Arbeitermassen gibt's individuelle Not. | |
Bild: Johanna (Shirin Eissa) bekommt von Nadine Geyersbach als Mauler den Kapit… | |
Leider stinkt es nicht: Satt von Blut, Gedärm und dem Material Hundescheiße | |
ist „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ sehr explizit ein Drama der | |
abjekten Materie. Aber von der traditionellen Reinlichkeit der | |
Aufführungspraxis dieses kanonischen Bert Brecht-Textes weicht Alize | |
Zandwijk mit ihrer Bremer Version nicht ab. | |
Am 9. September war dort Premiere im Kleinen Haus: Mit ragenden neongelben | |
Panelen hat Thomas Ruppert den Bühnenraum flüchtig begrenzt, auf dem die | |
Figuren dieses Musterstücks des epischen Theaters aufeinandertreffen, wie | |
in einem Kammerspiel. | |
Die Kollektive von Heilsarmee und Arbeiterschaft sind dagegen in die | |
Kulisse abgedrängt: Rechts ist hinter einer Schwingtür eine Mauer aus | |
Mondgesichtköpfen schwarz auf die gelbe Wand gekrakelt worden, das muss | |
reichen. | |
Und dieser [1][Verzicht auf die Massen macht etwas mit dem Stück], auch | |
wenn die Story von Heilsarmistin Johanna Dark, die unbedingt etwas für | |
diese armen Schlachthof-Arbeiter*innen tun will, gleich bleibt: Sie | |
versucht erst, deren Glauben, dann deren Arbeitsbedingungen zu verbessern, | |
sabotiert den Generalstreik – um, todkrank, zu erkennen, dass dessen Gewalt | |
das einzige Mittel gewesen wäre, zu helfen. | |
## Die verhaltene Gewalt | |
Vom Klassen- bleibt in Bremen also nur Johannas Zweikampf mit Fleischkönig | |
Pierpont Mauler übrig, der vermutlich einzigen Figur des Dramas, die Karl | |
Marx gelesen und verstanden hat. Deshalb vermag er, die Verhältnisse und | |
seinen Börsen-Makler – tolles Solo von Levin Hofmann! – zum Tanzen zu | |
bringen. | |
Den Mauler aber spielt Nadine Geyersbach eindrucksvoll: Geschmeidig, sanft, | |
aber doch stets mit verhaltener, raubtierhafter Gewalt, wechselt sie | |
übergangslos zwischen Hysterie und eisiger Einsicht, Gefühlsduselei und | |
knallhartem Kalkül, widersprüchlich, mefistofelisch, erotisch. Das ist ein | |
Erlebnis. | |
Vom Zusammenspiel mit ihr profitieren auch alle übrigen: Das Tete-à-tête | |
mit Johanna, während Mauler die Unentbehrlichkeit des Kapitalismus darlegt, | |
eine fein zwischen Vergewaltigung und Verführung austarierte Szene, ist | |
auch Shirin Eissas bester Moment, weil sie hier das überbordende Pathos | |
zurücknimmt, das sie der Titelheldin verleiht. | |
Gegen ihre hochtönige Dauererregung sperrt sich sonst Brechts Text. | |
Zandwijk hat ihre junge Hauptdarstellerin da im Stich gelassen, und das | |
hilft auch ihrer seltsam individualistischen Lesart nicht: Die ähnelt der | |
neobiedermeierlichen Strategie der 1950er, als man, um [2][Brecht] im | |
Westen spielen zu können, dessen Sozialismus in existentialistisches | |
Wohlgefallen auflöste. | |
Zandwijk und Team reinigen hier und heute die Einzelne zur Heldin des | |
Widerstands, hegen ihre Gewalt ein und deuten ihr elendes Verenden als | |
tragischen Tod: Eigentlich, so wirkt es, hätten sie Schiller spielen | |
wollen. | |
14 Sep 2022 | |
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