# taz.de -- Neue alte Diskussion über Atomkraft: Schwedens Angst vor dem Black… | |
> Die Netzgesellschaft warnt vor Engpässen bei der Stromversorgung. Die | |
> Rechtsopposition will auch wieder über eine Zukunft für Atomkraft reden. | |
Bild: Der Schlüssel steckt: Das jüngste schwedische AKW ist Forsmark und auch… | |
STOCKHOLM taz | „Dir kann der Strom abgeschaltet werden!“, alarmierte die | |
schwedische Tageszeitung Aftonbladet am Dienstag ihre LeserInnen. Sie | |
reagierte damit auf eine Warnung, die Niclas Damsgaard, Chefstratege der | |
staatlichen Netzgesellschaft Svenska kraftnät am Vortag in einem Interview | |
geäußert hatte. Man habe „eine ernste Situation auf dem europäischen | |
Energiemarkt, und die schwappt auf Schweden über“. Um einen Zusammenbruch | |
des Stromnetzes zu verhindern, könne es deshalb im Herbst oder Winter | |
erstmals in der Geschichte des Landes notwendig werden, den Strom für einen | |
Teil der Verbraucher oder für ganze Regionen zeitweise abzuschalten. | |
Svenska kraftnät verwaltet die überregionalen Stromdistributionsnetze des | |
Landes und ist für die Sicherstellung der Elektrizitätsversorgung | |
zuständig. Die Gesellschaft könne „bestimmte Bereiche einfach von der | |
Versorgung abtrennen“, und zwar „ganz schnell und ohne Vorwarnung“ – so | |
bereitete Damsgaard die SchwedInnen schon einmal vor. Das größte Risiko | |
besteht nach seiner Einschätzung für den südlichsten Landesteil, zum | |
Problem könnten dort in erster Linie die frühen Morgen- und späten | |
Nachmittagsstunden werden, wenn der Stromverbrauch regelmäßig am höchsten | |
ist. | |
Der Netzgesellschaftschef appellierte an die StromkundInnen, ihre | |
Verbrauchsgewohnheiten entsprechend anzupassen, um die Gefahr einer | |
Abschaltung zu verringern: Vormittags zwischen 7 und 9 Uhr sollte man | |
beispielsweise ein E-Auto nicht mehr laden. | |
Die Warnung ist das Ergebnis aktueller Simulationen des Lastflusses, die | |
Svenska kraftnät regelmäßig durchführt. Bei sechs Prozent dieser | |
Simulationen zu Stromangebot und -bedarf wäre eine Lasttrennung nötig | |
gewesen, erläuterte Schwedens Energie- und Digitalisierungsminister | |
Khashayar Farmanbar. Eine so hohe Risikorate habe es seit der Energiekrise | |
in den 1970er Jahren nicht gegeben. Verantwortlich für „unsere ernste | |
Situation“ machte der Minister „Russlands Energiekrieg mit Europa und den | |
Invasionskrieg in der Ukraine“. Wie real die Gefahr von Stromabschaltungen | |
werde, hänge auch hauptsächlich von der weiteren Entwicklung dieser | |
Konflikte ab. | |
## Auch hausgemachte Probleme | |
Das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. Zwar treffen die verminderten | |
russischen Gaslieferungen und [1][der Stopp russischer Stromlieferungen | |
nach Finnland und in die baltischen Staaten] indirekt auch Schweden – aber | |
beileibe nicht so massiv wie beispielsweise Deutschland. Jährlich werden in | |
Schweden insgesamt rund 10 Terawattstunden Erdgas verbraucht, das sind nur | |
3 Prozent des Energiemixes. Aber dort, wo Gas regional sowohl in | |
industriellen Prozessen als auch zur Wärmeproduktion dient, deckt es bis | |
zu 20 Prozent der Energieversorgung. Etwa 30.000 Wohnungen sind auf | |
Gasversorgung angewiesen. In Südwestschweden gibt es ein rund 600 Kilometer | |
langes Gastransmissionsnetz. Es ist über Dänemark mit dem deutschen und | |
europäischen Netz verbunden. Außerdem gibt es bei Göteborg und bei | |
Stockholm jeweils ein Flüssiggas-Terminal. | |
Würden Gaslieferungen wegfallen und müssen durch erhöhten Stromeinsatz | |
ersetzt werden, könnte es in Südschweden eng werden. Denn in Schweden | |
insgesamt wird zwar genug Strom produziert – jährlich werden 10 bis 15 | |
Prozent der Produktion exportiert –, aber bei den Fernleitungskapazitäten | |
von Nord- nach Südschweden besteht ein Engpass. | |
Den bekommen VerbraucherInnen schon jetzt empfindlich zu spüren – beim | |
Preis. Das Land ist in vier Stromtarifzonen eingeteilt, die das jeweilige | |
regionale Angebot und die Nachfrage widerspiegeln. Für Nordschweden, also | |
dort, wo nicht nur die großen Wasserkraftwerke stehen, die mehr als die | |
Hälfte zur Stromproduktion beitragen, sondern auch die größten | |
Windkraftparks, lagen die Preise auf dem Spotmarkt zuletzt zwischen | |
umgerechnet 0,5 und 1 Eurocent pro Kilowattstunde. In der südlichsten | |
Preiszone waren es 30- bis 40-mal so viel. | |
## Späte Milliardeninvestitionen | |
Diese fehlenden Leitungskapazitäten sind seit Jahren ein Thema. Im Juni | |
beschloss die sozialdemokratische Regierung ein „Kraftpaket“, mit dem vor | |
allem die Produktion von Erneuerbaren gefördert und der Strom landesweit | |
besser verteilt werden soll. Am Montag kündigte sie neue | |
Milliardeninvestitionen in das Distributionsnetz an. Es wird aber Jahre | |
dauern, bis solche Maßnahmen Wirkung zeigen. | |
In sechs Wochen findet die schwedische Parlamentswahl statt, und die seit | |
2020 auch im Schnitt um das 4- bis 5-fache gestiegenen Strompreise | |
versprechen ein wichtiges Wahlkampfthema zu werden. Alle Parteien | |
versuchen sich mit eigenen Rezepten zu profilieren. Dabei hat vor allem die | |
Rechtsopposition aus Konservativen, Christdemokraten und | |
Schwedendemokraten, die gerne die nächste Regierung stellen würde, [2][ein | |
Thema aus der Versenkung geholt, das auch in Deutschland eine absurde | |
Konjunktur erfährt: die Atomkraft]. Ihr finanziell umfangreichstes | |
Wahlversprechen ist eine „historische Investition“ in neue Atomenergie. 400 | |
Milliarden Kronen, umgerechnet 40 Milliarden Euro, an „grünen | |
Staatsgarantien“ will man dafür bereitstellen – mit dem Argument, dies sei | |
„die beste Klimapolitik“. Jetzt fehle eigentlich nur noch ein Programm zum | |
Revival von Telefax-Geräten und VHS-Videorecordern, lästerte Jonas | |
Sjöstedt, Ex-Vorsitzender der schwedischen Linkspartei. | |
## Keine Player für Atomkraft | |
Der kleine Haken bei diesen Plänen ist nicht nur, dass sich bislang noch | |
kein wirtschaftlicher Akteur gefunden hat, der bereit wäre, das Risiko | |
einzugehen, in neue Atomkraft zu investieren. Sondern auch, dass dieses | |
Programm für die Lösung der aktuellen Energiekrise völlig uninteressant | |
wäre. Wie lange es dauern kann, überhaupt Reaktoren zu errichten, weiß man | |
aus Finnland. Deshalb wollen die Rechtsliberalen [3][die nach jeweils 44 | |
Jahren Laufzeit 2019 und 2020 pensionierten Reaktoren 1 und 2 des AKW | |
Ringhals] wieder in Betrieb nehmen. | |
Es gibt ExpertInnen, die das technisch prinzipiell nicht für unmöglich | |
halten. Allerdings bedürfe das wohl einer Vorbereitungszeit von mindestens | |
zwei Jahren und womöglich umfassender sicherheitstechnischer Aufrüstung. | |
Beim Ringhals-Betreiber Vattenfall hält man von solchen Planspielen gar | |
nichts. Es gelte der ursprüngliche Zeitplan, wonach in diesem Jahr aus den | |
Ringhalsreaktoren die Brennelemente entfernt und ab 2023 die Abrissarbeiten | |
beginnen werden, heißt es dort. | |
Der Vorstoß der Opposition zeigte allerdings auch bei der Regierung | |
Wirkung. Natürlich könne die Atomkraft bei der klimapolitischen Umstellung | |
eine Rolle spielen, betont Energieminister Farmanbar nun. Man werde die | |
Strahlenschutzbehörde beauftragen, technische Vorschriften für den | |
eventuellen Einsatz von sogenannten SMR-Kleinreaktoren zu entwickeln und | |
prüfen, ob die bestehenden Reaktoren mehr Strom liefern könnten. | |
Eigentlich schien der Atomkraftstreit in Schweden mit einem 2016 | |
geschlossenem überparteilichem „Energieübereinkommen“ endgültig erledigt… | |
sein. Da hatten sich die Parteien darauf geeinigt, die vier ältesten der | |
damaligen zehn Reaktoren stillzulegen – das passierte auch – und die | |
verbliebenen sechs so lange am Netz zu halten, wie es technisch und | |
ökonomisch vertretbar wäre. Doch gebongt schien der Ausstieg aus der | |
Atomkraft auch schon mal vor 42 Jahren, als sich eine Mehrheit der | |
SchwedInnen bei einer Volksabstimmung für ein Atomkraftende bis 2010 | |
ausgesprochen hatte. Das Thema scheint nicht totzukriegen zu sein, solange | |
nicht auch die letzte Reaktorruine abgerissen ist. | |
3 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gas-Notfallplan-der-Kommission/!5869324 | |
[2] /!s=streckbetrieb/ | |
[3] /Schweden-nimmt-AKW-vom-Netz/!5737893 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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