# taz.de -- Erklärung zur Atomkraft: Brauchen wir das oder kann das weg? | |
> Pechblende, Thermosensibilität und eine politische Debatte: Fünf Fragen | |
> und Antworten zur weiteren Notwendigkeit von Atomstrom in Deutschland. | |
Bild: Sicherheitshinweise im Reaktorgebäude des AKW Isar2 in Essenbach bei Lan… | |
## 1. Brauchen wir den Strom aus AKWs? | |
In der Jahresbilanz wird der Atomstrom längst von der Windkraft und auch | |
von der [1][Photovoltaik] übertroffen. Unter den stetig verfügbaren Quellen | |
erzeugte auch die Biomasse im ersten Halbjahr 2022 bereits mehr Strom als | |
die Atomkraft. Zugleich überschritt die Menge des exportierten Stroms knapp | |
die Erzeugung der deutschen Atomkraftwerke. Bilanziell hätte sich | |
Deutschland also auch ohne die Reaktoren in den letzten sechs Monaten | |
selbst versorgen können. | |
Allerdings lag auch die Stromerzeugung aus Erdgas im zurückliegenden | |
Halbjahr höher als jene aus Uran. Das nährt Forderungen, die noch laufenden | |
Reaktoren länger am Netz zu lassen, um im kommenden Winter Erdgas zu | |
sparen. In erster Linie wird nun ein sogenannter Streckbetrieb diskutiert, | |
um verbleibende Brennstoffreserven noch über den Jahreswechsel hinaus zu | |
nutzen. | |
Das betrifft speziell den [2][Block Isar 2]; bei den anderen beiden | |
Reaktoren, Emsland und Neckarwestheim 2, ist in dieser Hinsicht nicht mehr | |
viel zu holen.Dass eine Laufzeitverlängerung der drei bestehenden Reaktoren | |
zudem nur wenig Gaseinsparung brächte, hatten kürzlich zwei verschiedene | |
Studien ergeben. | |
Aufgrund der Funktionsweise des grenzüberschreitenden Strommarkts würde | |
nämlich ein Teil der Mehrerzeugung ins Ausland abfließen, so die | |
Simulationen. Ein anderer Teil würde im Inland vor allem Kohlekraftwerke | |
aus dem Markt drängen. Gaskraftwerke hingegen könnten nur geringfügig | |
ersetzt werden – und am Ende würde durch eine Laufzeitverlängerung der | |
[3][Gasverbrauch in Deutschland] nur um rund 1 Prozent sinken. | |
## 2. Was ist mit den drei Reaktoren, die Ende 2021 abgeschaltet wurden? | |
Ihre Reaktivierung wird gelegentlich als Option diskutiert, doch ernsthafte | |
Überlegungen dieser Art gibt es nicht. Kürzlich hatte Joachim Bühler, | |
Präsidiumsmitglied des TÜV-Verbands, zwar gesagt, die betreffenden drei | |
Kraftwerke befänden sich nach Überzeugung seines Verbands „in einem | |
sicherheitstechnischen Zustand, der es möglich machen würde, sie wieder ans | |
Netz zu nehmen“. | |
Auf Rückfrage musste der Verband dann allerdings einräumen, er könne, | |
anders als nach einer Untersuchung im März, keine aktuellen Aussagen mehr | |
zu den einzelnen Reaktoren machen. Über den Fortschritt der | |
Stilllegungsarbeiten, die unterschiedlich stark fortgeschritten seien, | |
sei man im Detail nämlich nicht informiert. | |
Öffentliche Kritik ließ nach den Aussagen des TÜV nicht lange auf sich | |
warten. Der ehemalige Bundesumweltminister [4][Jürgen Trittin] sagte, nicht | |
einmal die Betreiber behaupteten noch, diese drei Kraftwerke würden dem | |
aktuellen Stand der Technik entsprechen. Trittin stellte zugleich die | |
gutachterlichen Qualitäten des TÜV infrage. Olaf Bandt, Vorsitzender des | |
BUND sprach von „Voreingenommenheit“ des TÜV. | |
## 3. Ein AKW fahren kann nicht jeder. Gibt es überhaupt genug | |
Spezialisten, um die Kraftwerke weiterzubetreiben? | |
Zu den „Hürden, die einen Weiterbetrieb erschweren“ zählt das Öko-Instit… | |
in der Tat auch die mangelnde Personalverfügbarkeit. Denn natürlich braucht | |
man für den Weiterbetrieb der Anlagen geschultes und geprüftes | |
Betriebspersonal. | |
„Um einen Betrieb über das bisher festgelegte Datum vom 31. 12. 2022 hinaus | |
durchführen zu können, müssten somit erneut die notwendigen Prüfungen vom | |
Personal abgelegt werden“, schreibt das Öko-Institut in seinem Blog. Für | |
neues Personal sei sogar eine mehrjährige Fachkundeausbildung notwendig. | |
Zugleich hätten auch die atomrechtlichen Genehmigungsbehörden und ihre | |
Gutachterorganisationen ihr Personal reduziert, somit fehle auch hier | |
Fachpersonal. | |
## 4. Es wird nun viel über die Brennelemente gesprochen. Was ist das, und | |
haben wir noch genug davon? | |
Am Anfang stehen Uranmineralien, zum Beispiel Pechblende, ein Uranoxid. | |
Daraus wird das radioaktive Metall Uran herausgelöst und chemisch | |
ausgefällt; es entsteht der sogenannte Yellow Cake. Da in diesem | |
Natururan-Pulver das leicht spaltbare Uran 235 nur einen Anteil von 0,71 | |
Prozent hat, was für eine atomare Kettenreaktion in den klassischen | |
Leichtwasserreaktoren nicht ausreicht, muss es angereichert werden. | |
Bei diesem Prozess wird in leistungsstarken Zentrifugen so viel schwer | |
spaltbares Uran 238 abgetrennt, bis man den Gehalt an Uran 235 auf 3 bis 4 | |
Prozent erhöht hat. In Deutschland geschieht das in der | |
Urananreicherungsanlage in [5][Gronau], die vom Atomausstieg nicht umfasst | |
ist. Bei den Zentrifugen handelt es sich um Gaszentrifugen, deswegen muss | |
das Uranoxid zuvor in gasförmiges Uranhexafluorid umgewandelt werden. | |
Nach der Anreicherung wird das Uranhexafluorid wieder zu Uranoxid | |
umgewandelt und zu Pellets gepresst. Indem diese in ein Hüllrohr gefüllt | |
werden, entsteht ein Brennstab. Je nach Reaktortyp bilden zum Beispiel 64 | |
oder 236 Brennstäbe ein Brennelement. Und ebenfalls unterschiedlich je | |
nach Reaktortyp benötigt man mehrere hundert Brennelemente. Eine letzte | |
Brennelementefabrik – einst gab es weitere in Hanau – gibt es in | |
Deutschland noch in Lingen. | |
Nach Zahlen der Euratom Supply Agency kamen zuletzt rund 20 Prozent des in | |
der EU eingesetzten Natururans aus Russland, weitere 19 Prozent aus | |
Kasachstan, das lange zu den engsten Verbündeten Russlands gehörte. Auch | |
bei der Uranverarbeitung ist Russland stark vertreten: 26 Prozent des | |
angereicherten Urans, das in die EU-Reaktoren geht, kommt aus Russland. Für | |
die osteuropäischen Reaktoren russischer Bauart ist Russland sogar der | |
einziger Anbieter von Brennelementen. | |
Die Brennelemente müssen für jeden Reaktortyp individuell gefertigt werden, | |
weshalb allgemeine Angaben zu Lieferzeiten schwer zu machen sind. Zuletzt | |
wurden überwiegend Fristen von 12 bis 18 Monate genannt. | |
## 5. Viele französische Atomkraftwerke stehen derzeit still. Brauchen wir | |
die AKWs, damit in Paris das Licht nicht ausgeht? | |
Deutscher Strom hilft [6][Frankreich] derzeit, seine aufgrund der Knappheit | |
extrem hohen Strommarktpreise etwas zu dämpfen. Das geschieht aufgrund der | |
Funktionsweise des europäischen Strommarkts. In Zeiten, in denen in | |
Deutschland der Strom billiger ist als in Frankreich, kauft Frankreich bei | |
uns Strom. Sind die Preisrelationen umgekehrt, fließt der Strom in die | |
Gegenrichtung. | |
In Frankreich war der Strom im Großhandel zuletzt deutlich teurer als in | |
Deutschland. Während am Spotmarkt in Deutschland die Kilowattstunde seit | |
Jahresbeginn im Mittel 20 Cent kostete, waren es in Frankreich 25 Cent. | |
Entsprechend kam es zu Exporten. Dadurch erhöht sich der Preis im | |
Exportland aufgrund des damit dort verringerten Angebots, zugleich sinkt | |
umgekehrt der Preis im Importland wegen der zusätzlich verfügbaren Menge. | |
Gäbe es unbegrenzte Übertragungskapazitäten an den Grenzkuppelstellen, | |
würde stets so viel Strom exportiert, bis sich die Strompreise in den | |
Nachbarländern angleichen – einfache Marktlogik. | |
Im Moment hat Frankreich technische Probleme mit vielen Reaktoren seiner | |
Flotte. Hinzu kommt fehlendes Kühlwasser. Ähnlich ergeht es übrigens auch | |
der Schweiz, wo der Reaktor Beznau seine Leistung reduzieren musste, weil | |
der Fluss Aare zu warm ist. Auch die Schweiz bezieht per Saldo derzeit | |
Strom aus Deutschland. | |
In Frankreich droht im Winter das nächste Problem. Weil es in Frankreich so | |
viele Stromheizungen gibt, schnellt der Stromverbrauch bei Kälte dort in | |
die Höhe. In der Stromwirtschaft gibt es den Begriff der | |
Thermosensibilität. Dieser Kennwert gibt an, in welchem Maße der | |
Stromverbrauch eines Landes steigt, wenn es um 1 Grad kälter wird. Obwohl | |
die Einwohnerzahl in Frankreich etwas geringer ist als in Deutschland, | |
liegt dieser Wert bei den Franzosen 4,5-mal so hoch wie bei uns – das macht | |
ein Stromsystem bei Kälte verwundbar. | |
29 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernward Janzing | |
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