# taz.de -- Kretschmann empört Grüne: Von der Freiheit, ja zu sagen | |
> Weg vom Verbotsimage – das war das Ziel des grünen Freiheitskongresses. | |
> Stattdessen tobt die Partei. Und zwar quer durch alle Flügel. | |
Bild: Hat das Ja zum Asylkompromiss im Alleingang durchgezogen: Winfried Kretsc… | |
BERLIN taz | Die Gastgeberin müsste jetzt strahlen. Der Saal ist voll. Seit | |
Monaten hat Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt auf diesen Tag | |
hingearbeitet. Hier beim [1][Freiheitskongress der Grünen im Bundestag] | |
will sie den Anspruch ihrer Partei als neue liberale Kraft anmelden. Doch | |
selbst Göring-Eckardt als Kommunikationsprofi scheitert an diesem Freitag | |
daran, eine Miene aufzusetzen, die nicht von der Vollkatastrophe zeugt. | |
„Ich halte die Entscheidung des Bundesrates heute für falsch“, sagt sie, | |
„ich bedauere sie auch.“ | |
Einen Satz des Respekts ringt sie sich ab, für den [2][Alleingang, den ihr | |
baden-württembergischer Parteifreund Winfried Kretschmann, | |
Ministerpräsident und nebenbei auch Realo wie sie, gut eine Stunde zuvor | |
nur einen Kilometer weiter südlich im Bundesrat durchgezogen hat.] | |
Schließlich versichert die Spitzengrüne noch: „Unsere Glaubwürdigkeit steht | |
in der Sache nicht zur Disposition.“ | |
Doch da tobt es längst in ihrer Partei. Quer durch beide Flügel zieht sich | |
die Empörung, sie dringt auch von baden-württembergischen Grünen nach | |
Berlin, wütet in den sozialen Netzwerken. Co-Fraktionschef Anton Hofreiter | |
läuft über den Gang, als bebe er vor Wut. „Schlichtweg falsch“, nennt er | |
das baden-württembergische Ja zum Asylkompromiss. Die Zugeständnisse der | |
Regierung seien zu gering, um ein Einknicken zu rechtfertigen. | |
Parteirat Rasmus Andresen aus Schleswig-Holstein warnt: „Wir dürfen | |
Rechtspopulisten nicht damit bekämpfen, dass wir ihre Forderungen | |
bedienen.“ Die Grüne Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth nennt die | |
Entscheidung „Realitätsbeugung per Gesetz“. Innenpolitiker Volker Beck | |
tobt, Kretschmann habe das „Menschenrecht auf Asyl für einen Appel und ein | |
Ei verdealt“. Und die Sprecherin der Grünen Jugend, Theresa Kalmer, | |
[3][twittert]: „Schäm dich, Kretschmann!“ | |
## Hässlicher Showdown | |
Es ist genau das passiert, was die Parteistrategen seit Wochen hatten | |
partout abwenden wollen. Bis in die Nacht zum Freitag liefen die | |
Verhandlungen zwischen Partei- und Fraktionsspitze, grün-mitregierten | |
Ländern und Baden-Württemberg. Es war, wenn man Teilnehmern glauben darf, | |
ein Showdown der hässlicheren Art. | |
Der Parteirat, das höchste Gremium neben dem Bundesvorstand, war am | |
Donnerstag für 16 Uhr zur Krisensitzung zusammengerufen. Doch der Streit | |
spitzte sich zu, bevor es überhaupt losging. Kretschmann, so ist aus | |
Partei- und Fraktionskreisen zu hören, habe sogar gedroht, der Runde | |
fernzubleiben, wenn dort ein Beschluss zum Asylstreit getroffen werden | |
solle. Die Sitzung startete verspätet. Hitzig und auch mal lautstark soll | |
es zugegangen sein. | |
Margit Gottstein, grüne Staatssekretärin aus Rheinland-Pfalz, die | |
wochenlang mit dem Kanzleramt verhandelt hatte, erläuterte im Parteirat, | |
warum das Angebot der Bundesregierung zu mickrig sei, um eine Zustimmung zu | |
rechtfertigen. Dem hielt Kretschmann seine Sicht entgegen, verwies auf die | |
Stimmungslage in der Bevölkerung, die er nicht ignorieren dürfe. Diesem | |
Argument soll Gottstein klar widersprochen haben. Ein weiterer | |
Wackelkandidat, der grüne Vize-Regierungschef Tarek Al-Wazir aus Hessen, | |
soll die Sicht Baden-Württembergs unterstützt haben, auch wenn sein Land | |
sich Kretschmanns Alleingang im Bundesrat nach langem Zögern nicht | |
anschloss. | |
Der Parteirat verabschiedete am späten Abend doch noch ein Papier – gegen | |
den Kompromiss mit der Regierung. Darin heißt es: „Eine Einstufung als | |
sichere Herkunftsstaaten löst keines der Probleme der deutschen | |
Flüchtlingspolitik.“ Und weiter: „Es ist zynisch, wenn Union und SPD die | |
Asylsuchenden aus dem westlichen Balkan für die Situation in den Kommunen | |
verantwortlich machen.“ | |
## Exitklausel für Kretschmann | |
Der Beschluss fiel einstimmig, dank einer Exitklausel: „Unabhängig von | |
dieser Position respektieren wir, wenn grün-mitregierte Länder in ihren | |
Kabinetten zu einer anderen Abwägung kommen sollten.“ Sogar der Parteirat | |
Alexander Bonde, als grüner Verbraucherschutzminister Teil des Kabinetts in | |
Stuttgart, votierte dafür. | |
Doch der einstimmige Beschluss federt den Aufprall nicht ab. Seit ihrem | |
schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl versichern Spitzengrüne, sie | |
seien zwar im Bundestag geschwächt, könnten aber über die sieben | |
grün-mitregierten Länder und deren Veto-Recht im Bundesrat sehr wohl aktiv | |
und machtvoll die Bundespolitik mitgestalten. Doch gleich beim ersten | |
echten Härtetest ist dieser Hebel nun zerbrochen. | |
Das Desaster kam nicht wirklich überraschend. Kretschmann hatte mehrfach | |
seinen Kompromisswillen in der Asylfrage angedeutet – Spitzenvertreter von | |
Partei und Fraktion hielten derweil offen gegen, ein von namhaften Grünen | |
lancierter Appell erhöhte den Druck zusätzlich. | |
Fraktionsstrategen verweisen nun auf zwei kaum versöhnliche Logiken, die | |
bei diesen Verhandlungen aufeinandergeprallt seien. „Kretschmann will nicht | |
als Grüner, sondern als Ministerpräsident Baden-Württembergs wahrgenommen | |
werden“, sagt einer aus der Fraktion. Dieses Dilemma lasse sich nicht ganz | |
auflösen. „Da bleibt ein Spannungsverhältnis.“ | |
Doch gibt es auch erste Manöverkritik: Die Länder hätten sich überhaupt | |
nicht erst auf Gespräche einlassen, sondern die Forderung nach mehr | |
sicheren Herkunftsstaaten von Anfang an als Anti-Roma-Politik entlarven | |
sollen. Die grüne Verhandlungsgruppe habe dem Kanzleramt viel zu | |
geräuschlose Verhandlungen ermöglicht. | |
## Leise Unterstützer | |
Irgendwo, zwischen der vielen Kritikern, findet man beim Freiheitskongress | |
auch leise Unterstützung für den Ausreißer aus Stuttgart. Der | |
Realo-Koordinator im Bundestag, Dieter Janecek, zögert einen Moment, ob es | |
riskieren soll. „Das Wichtigste“, sagt er dann, sei doch, dass den | |
Flüchtlingen geholfen werde. „Dafür kann dieser Kompromiss ein Schritt nach | |
vorne sein.“ | |
Auch Parteichef Cem Özdemir, selbst aus Schwaben, versucht den Kompromiss | |
in ein besseres Licht zu stellen: Natürlich hätten sich viele in der Partei | |
„noch mehr“ gewünscht – aber die Grünen sollten ihre Verhandlungserfolge | |
„bei der von uns lange geforderten Abschaffung der Residenzpflicht und beim | |
dringend benötigten Zugang zum Arbeitsmarkt nicht kleinreden“. Zumal das | |
Problem nicht bei den Grünen zu suchen sei, sondern bei der | |
Bundesregierung. | |
Da würden an diesem Freitag wohl viele Parteifreunde widersprechen. | |
19 Sep 2014 | |
## LINKS | |
[1] /Gruener-Freiheitskongress/!146244/ | |
[2] /Neue-Asylregeln-fuer-Balkanlaender/!146265/ | |
[3] http://twitter.com/theresakalmer/status/512898486816473089 | |
## AUTOREN | |
Astrid Geisler | |
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