# taz.de -- Partei vor der Zerreißprobe: Grüne spielen Schwarzer Peter | |
> Kretschmann, die Parteichefs oder die Umstände? Die Grünen streiten, wer | |
> Schuld hat, dass sie beim Asylstreit zwei Meinungen haben. | |
Bild: Für manche Grüne der Buhmann: Baden-Württembergs Regierungschef Kretsc… | |
BERLIN taz | Für den grünen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer scheint | |
die Welt zwei Tage nach dem Showdown im Bundesrat bereits wieder in | |
Ordnung. Doch außerhalb Schwabens zürnen prominente Grünen-Politiker weiter | |
über den Alleingang des baden-württembergischen Ministerpräsidenten | |
Winfried Kretschmann (Grüne) beim Asylkompromiss. | |
Ex-Parteichefin Claudia Roth sieht die Glaubwürdigkeit ihrer Partei in | |
Gefahr, sie wirft Kretschmann „Scheinpolitik“ vor, spricht von einem | |
„rabenschwarzen Tag für die Flüchtlinge und für die Grünen“. „Nein“, | |
erwidert Palmer gelassen. „Das kann sogar ein lehrreicher Tag für die | |
Grünen sein.“ | |
Aus seiner Tübinger Rathausperspektive gibt es einen entscheidenden | |
Unterschied – den zwischen einem Oppositionsabgeordneten und einem | |
Ministerpräsidenten. Natürlich sei für die Grünen im Bund die „Lage | |
glasklar“, sogar ein Bundesparteitag müsse die Ausweitung der sicheren | |
Herkunftsstaaten einstimmig ablehnen, argumentiert der Realo. „Aber wir | |
müssen zwischen den Aufgaben differenzieren.“ Und das gelinge „leider nicht | |
allen“ bei den Grünen. | |
„Kretschmann sieht sich zu Recht nicht als Parteisoldat“, sagt Palmer, | |
„sondern als Ministerpräsident, der Verantwortung für das gesamte Land zu | |
übernehmen hat.“ Für einen jungen Kommunalpolitiker klingt der 42-Jährige | |
jetzt selbst ziemlich staatsmännisch: „Ein Ministerpräsident kann nicht | |
ideologisch entscheiden, sondern muss vor allem sehen, wie er den | |
Flüchtlingen im Land am besten hilft.“ Nichts anderes habe Kretschmann im | |
Bundesrat gemacht. | |
## Genug potenziell Schuldige | |
Doch außerhalb des Tübinger Rathauses hat der Asylkompromiss viele Grüne | |
erschüttert. Hinter den Kulissen wird das Krisenmanagement der Bundesspitze | |
harsch kritisiert. Die Fronten verlaufen unübersichtlich, gerade im | |
Realo-Lager. An potenziell Schuldigen fehlt es nicht. | |
Als einer der Ersten wagt sich am Wochenende der grüne | |
schleswig-holsteinische Energieminister Robert Habeck aus der Deckung. „Es | |
wurden keine inhaltlichen roten Linien festgelegt“, kritisiert der | |
einflussreiche Realo in der Zeit. „Also war die Möglichkeit der Zustimmung | |
immer eingerechnet.“ Wenn es einen Fehler gegeben habe, dann sei der vor | |
drei Monaten begangen worden – als sich die Grünen auf Verhandlungen mit | |
dem Kanzleramt einließen. | |
Schleswig-Holstein habe sich nämlich „bewusst schon zu Beginn der Debatte | |
gegen Verhandlungen entschieden“, erinnert Habeck. Das Asylrecht sei | |
schließlich „keine Verhandlungsmasse“. Trotzdem hätten die Grünen „mit… | |
expliziten Wunsch der Partei- und Fraktionsführung“ über das Asylrecht | |
verhandelt. Deshalb, sagt Habeck, sei ihm „das empörte Fingerzeigen“ auf | |
Kretschmann „echt zu selbstgerecht“. | |
Eine volle Breitseite gegen die Berliner Grünen-Spitze – die ihrer | |
Enttäuschung und Entrüstung über den grünen Ministerpräsidenten in den | |
Medien freien Lauf gelassen hatten, ohne ein Wort über ihre gescheiterte | |
Verhandlungsstrategie zu verlieren. Doch auch Parteichef Cem Özdemir pfiff | |
am Wochenende die Kretschmann-Kritiker zurück. Manche „überziehen mit ihrer | |
Kritik und Wortwahl und betreiben damit letztlich das Spiel des politischen | |
Gegners“, warnt er auf Süddeutsche.de. | |
## Ringen um die Deutungshoheit | |
So ringt die Partei um eine Deutungshoheit, wer den Asylkompromiss verbockt | |
hat. Selbst bei den Grünen im Südwesten beginnt die Aufarbeitung gerade | |
erst. Auch in seinem Parteiverband gebe es „unterschiedliche | |
Einschätzungen“, sagt Landeschef Oliver Hildenbrand. Er persönlich könne | |
die Entscheidung seiner Landesregierung „nicht gutheißen“. Hildenbrand | |
redet von „Aussprachebedarf“. | |
Für den Tübinger Oberbürgermeister Palmer steht die Bilanz allerdings schon | |
fest. „Kretschmann hat aus Überzeugung für die Flüchtlinge das Richtige | |
gemacht“, sagt Palmer. Dass Fachleute die Einstufung als sichere | |
Herkunftsländer für ein „Placebo“ halten, spricht aus seiner Sicht gar | |
nicht gegen den Kompromiss. „Es hilft also nichts, aber es schadet auch | |
nicht“, argumentiert Palmer. Der Kompromiss sei gelungen, weil er „die | |
wichtigsten Beschwernisse“ beseitige, über die sich die Flüchtlinge seit | |
Jahren zu Recht beklagten: Arbeitsverbot, Reiseverbot, | |
Sachleistungsprinzip. Zudem bekämen die Kommunen endlich mehr finanzielle | |
Unterstützung bei der Unterbringung der Flüchtlinge. „Da steht die | |
Regierung jetzt bei uns im Wort.“ | |
Und die zerzaust wirkenden Bundesgrünen? In der Regierungsverantwortung | |
werde seine Partei noch viele solcher „schwierigen, verantwortungsethischen | |
Entscheidungen treffen müssen“, sagt Palmer cool. „Es mag ein schmerzhafter | |
Lernprozess sein, aber er ist wichtig.“ | |
21 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Astrid Geisler | |
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