# taz.de -- Koloniale Vergangenheit des Empire: Gegen den Wind | |
> Vor 75 Jahren kamen die ersten karibischen Migranten auf dem Schiff | |
> „Windrush“ nach England. Der Kampf um Aufarbeitung ist bis heute ein | |
> widerständiger. | |
Bild: Ankunft im „Mutterland“: Karibische Migranten in der Waterloo Station… | |
LONDON taz | Eine Parterrewohnung nahe dem Londoner Bahnhof Kings Cross im | |
Frühjahr diesen Jahres. Eric John Welch sitzt mit alten Freunden zusammen, | |
es ist sein 90. Geburtstag. Die kleine Gruppe trinkt Guinness und spricht | |
in karibischem Englisch über Politik, über alte Zeiten – und über ein | |
bewegtes Leben, das von Eric, in dem sich ein Stück Empiregeschichte | |
widerspiegelt, bis heute sehr kontrovers diskutiert wird. | |
Eric kam 1933 auf die Welt, auf der Karibikinsel Montserrat, wo sein Vater | |
aus Trinidad gerade Arbeit als Zimmermann hatte. Die meisten Kindheitsjahre | |
verbrachte er in Trinidads Hauptstadt Port of Spain. „Es war ein Zuhause in | |
ärmlichen Verhältnissen“, erinnert sich der 90-Jährige. „Wir Kinder | |
schliefen gemeinsam in einem Zimmer auf dem Boden, auf alte Kleider | |
gebettet. Wir ernährten uns von Fisch sowie Gemüse und Früchten aus unserem | |
Garten. Hühnchen war eher ein Weihnachtsschmaus.“ Ein Zeitvertreib bestand | |
aus Cricketspielen. „Wir benutzten Orangen und Brotbaumfrüchte statt | |
Bälle.“ | |
Als er zwölf Jahre alt war, begann Eric zu singen. „Eine Frau aus der | |
Nachbarschaft bezahlte mich, [1][wenn ich Calypso vorsang].“ Durch seine | |
ständigen Besuche des Stadtkinos lernte er später Projektionstechnik. | |
Nachdem sein Vater Arbeit auf Schiffen gefunden hatte, zog es auch ihn in | |
Richtung Hafen. Eines Tages baten er und ein Freund die Crew des Frachters | |
„SS Sugar Transporter“ um einen Job. Die Crew lehnte ab, doch Eric und sein | |
Freund blieben als blinde Passagiere an Bord. Das Schiff stach in See. | |
## Ins Herz des Empires | |
Der nächste Hafen, den das Schiff anlief, war Barbados. „Wir wollten jetzt | |
wieder von Bord gehen, doch in Barbados durfte niemand das Schiff | |
verlassen.“ Der nächste Halt, ganze zwei Wochen später: London. | |
An seinem 19. Geburtstag ging Eric in der Hauptstadt des Empires von Bord, | |
am 12. Juni 1952. Erst musste er sich neu einkleiden, denn er besaß einzig | |
die Hose und das Hemd, mit denen er in Trinidad das Schiff bestiegen hatte. | |
Nach der Registrierung beim sogenannten Kolonienbüro ging es zum | |
Arbeitsamt. „Sie schickten mich in ein Kino nach Peckham Rye“, erinnert | |
sich Eric. Dort, im Süden Londons, hätten ihn die Leute angegafft, als | |
hätten sie noch nie einen Menschen wie ihn gesehen: einen Schwarzen. | |
Der Lohn war schlecht, bald arbeitete Eric wieder auf Schiffen und reiste | |
um die Welt. Als er einmal zufällig kurz in Trinidad landete, erschien ihm | |
die Inselwelt seiner Kindheit sehr klein. „Ich entschied mich, für immer | |
nach London zu ziehen“, erzählt er heute im Rückblick. | |
Beim zweiten Anlauf in London lief es für den jungen Mann besser. Durch | |
Zufall kam Eric an einen sehr gut bezahlten Job: Hausmeister bei der | |
Versicherung Legal & General. Zur selben Zeit entwickelte sich eine | |
Freundschaft zwischen ihm und der Calypsolegende Lord Kitchener. Als er | |
sich daran erinnert, in seiner Parterrewohnung an seinem Geburtstag, singt | |
er gleich zwei Lieder von „Kitch“: „Nora“, und „Underground Train.“ | |
## Der Soundtrack der Generation | |
Lord Kitchener war der Künstlername des trinidadischen Sängers Aldwyn | |
Roberts, einer der bekanntesten Musiker der britischen Karibik in den | |
1940er Jahren. Kitch gehörte zu der legendären allerersten Gruppe | |
karibischer Arbeitsmigranten, die am 22. Juni 1948, am Donnerstag vor genau | |
[2][75 Jahren, an Bord der „Empire Windrush“], aus Jamaika im Hafen von | |
London landete und die Schwarze Migration nach Großbritannien begründete. | |
Am diesjährigen „Windrush Day“ will man die „Windrush Generation“ wür… | |
„London Is The Place For Me“ hieß das Lied von Kitch, das diese gesamte | |
Generation definierte und das der Sänger damals der britischen Wochenschau | |
vortrug, als am 22. Juni 1948 in den Tilbury Docks 1.027 Passagiere von | |
Bord gingen. Dort hatte das Schiff, die „Empire Windrush“, am Vortag | |
festgemacht. Eigentlich sollte das ehemalige Passagierschiff Soldaten aus | |
dem Heimaturlaub nach Großbritannien bringen. Aber weil noch Plätze frei | |
waren, wurden in Jamaika Billigfahrten nach England angeboten, wo ein neues | |
Gesetz gerade allen Bürgern britischer Kolonien die volle britische | |
Staatsbürgerschaft in Aussicht stellte. | |
Sie kamen in ihren besten Anzügen und Kleidern, 1.027 Menschen, darunter | |
257 Frauen, die ersten einer zwei Jahrzehnte dauernden karibischen | |
Einreisewelle, die als Windrush Generation in die Geschichte eingehen | |
sollte. Insgesamt kamen danach eine knappe halbe Million Menschen – bis | |
1973 mit dem britischen Eintritt in die Europäische | |
Wirtschaftsgemeinschaft, Vorläufer der EU, ein neues, restriktives | |
Einwanderungsgesetz dem ein Ende setzte. Bis dahin konnten die meisten | |
Bewohner ehemaliger britischer Kolonialgebiete, nicht nur aus der Karibik, | |
ohne große Formalitäten ins „Mutterland“ einreisen und sich dort | |
niederlassen. Sie wurden zum Wiederaufbau Großbritanniens nach dem Krieg | |
offensiv angeheuert, unter ihnen zahlreiche Kriegsveteranen. | |
## Fremd in Motherland | |
Das Wort „Mutterland“ hat für Schwarze Menschen karibischen Hintergrunds in | |
Großbritannien eine doppelte Bedeutung. Es ist nicht nur das Land, dessen | |
koloniale Bürger sie waren. Es ist auch das Land, das einst ihre | |
afrikanischen Vorfahren versklavte und über den Atlantik auf die West | |
Indies brachte, um dort von ihrer Arbeit auf den Zuckerplantagen zu | |
profitieren. Der Reichtum Großbritanniens, wie auch ganz Europas, hängt | |
direkt mit dieser Sklaverei zusammen. | |
Als sie ab 1948 im „Mutterland“ landeten, definierten sich diese Migranten | |
als britisch. Aber sie stießen immer wieder auf Rassismus, sowohl bei der | |
Arbeits- als auch bei der Wohnungssuche. Traurige Berühmtheit erlangten die | |
Verbotsschilder „Keine Schwarzen, Iren und Hunde“. Diskriminierung und | |
Hetze gegen Schwarze, auch in der Schule und seitens der Behörden, war im | |
Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre normal. | |
Die karibische Gemeinde erwiderte dies mit Selbstbehauptung. Nach einem | |
brutalen rassistischen Mord 1959 entstand im Westlondoner Viertel Notting | |
Hill der erste karibische Karneval, damals ein Manifest Schwarzer | |
Gegenkultur, heute das größte multikulturelle Straßenfest Europas. In | |
britischer Musik und Kultur sind karibische Einflüsse heute nicht mehr | |
wegzudenken, und auch nicht aus dem Straßenbild Londons. | |
Auf einem Foto aus den ersten Jahren der Einwanderung sieht man Eric im | |
maßgeschneiderten Anzug mit elegantem Hut. Bis heute hat er eine ganze | |
Kollektion von Hüten. Es waren die Jahre, in denen er in die Jazz- und | |
Tanzlokale Londons pilgerte, wo er 1956 Margaret kennenlernte, eine junge | |
Schottin, „die so tanzte, wie sonst niemand“. Die beiden lebten zusammen | |
bis zu Margarets Tod im Jahr 2008. | |
Rassismus habe er nie wirklich erfahren, behauptet Eric zunächst. Auf | |
Nachfrage erinnert er sich dann aber doch an einiges: Wie ihn 1953 ein | |
Polizist auf der Straße fragte, wo er hingehe. „Als ich fragte, ob es ein | |
Verbrechen sei, auf der Straße zu gehen, nahm er mich auf die Wache, wo mir | |
der Wachtmeister ins Gesicht spuckte“, erzählt er. Auch an die Teddy Boys, | |
eine junge, weiße Arbeitersubkultur der 1960er Jahre, erinnert er sich. Die | |
Teddy Boys gingen gerne auf Schwarze los. „In dieser Zeit liefen wir nie | |
alleine auf der Straße, sondern immer zusammen mit anderen“, sagt Eric. | |
„Die Teddy Boys waren nämlich nur im Pack mutig!“ | |
Sein Freund Andy, der 1966 nach England kam, bestätigt den bis heute | |
aktenkundigen Rassismus in der Londoner Polizei. „Die Polizei wollte uns | |
immer provozieren, um uns eine Extrabehandlung zu geben, wenn wir | |
reagierten.“ Ob es heute besser sei? Nein, ist sich die gesamte Gruppe | |
einig – aber anders. Die Polizei gehe gegen Schwarze immer härter vor als | |
gegen andere. | |
## Titanen ebnen den Weg | |
Gegen all diese Widrigkeiten behaupteten sich jene, die damals kamen. Der | |
bekannte DJ Trevor Nelson, seine Familie stammt aus St. Lucia, bezeichnet | |
die Windrush Generation als „Titanen“, die durchhielten, um der nächsten | |
Generation den Weg zu ebnen. Viele arbeiteten im öffentlichen Dienst, meist | |
in den am geringsten geschätzten Jobs. Manchen gelang der Einstieg in | |
Wissenschaft und Politik, in den Spitzensport oder sie machten als Künstler | |
von sich reden. | |
All dies schafften sie trotz anhaltender [3][Diskriminierung]. Schwarze | |
Briten laufen laut Studien unter anderem des National Health Service | |
3,7-mal öfter als Weiße Gefahr, wegen des Verdachts der psychischen Störung | |
der Freiheit beraubt und zwangseingewiesen zu werden. 45 Prozent der | |
karibischen Schwarzen verzeichnen chronische Gesundheitsbeschwerden. Beides | |
sind die höchsten Werte im Vergleich aller ethnischen Gruppen. | |
Auch in anderen soziografischen Datenanalysen schneiden karibische Schwarze | |
schlechter ab als alle anderen ethnischen Gruppen, auch als afrikanische | |
Schwarze. Nur durchschnittlich 3 Prozent aller Jugendlichen | |
„afrokaribischen Hintergrunds“ erreichten in den Jahren 2010 bis 2016 ein | |
Abitur mit Höchstnote. Die Rate der von der Polizei angehaltenen und | |
durchsuchten Personen ist in der Kategorie „Afro-Caribbean“ 9,6-mal höher | |
als bei Weißen, zeigen Daten des britischen Innenministeriums. Außerdem | |
sind 3 Prozent der britischen Bevölkerung Schwarze – aber sie stellen 13 | |
Prozent der Gefängnisinsassen. Nach polizeilicher Festnahme ist die | |
Wahrscheinlichkeit zu sterben für Schwarze siebenmal höher als für Weiße. | |
Demgegenüber stehen Menschen afrikanisch-karibischer Abstammung heute beim | |
Einkommen an dritter Stelle hinter Weißen und Menschen indischer | |
Abstammung. Frauen karibischer Abstammung haben weiße Frauen bereits in den | |
1970er Jahren überholt – Männer taten sich schwerer. | |
## Illegal, nach einem halben Jahrhundert im Land | |
Vielen Schwarzen mit karibischem Hintergrund geht es heute um mehr als | |
darum, diese Statistiken zu diskutieren. Es geht um das, was der | |
jamaikanische Intellektuelle Stuart Hall einst als „Amnesie der Geschichte“ | |
beschrieb: das Schöndenken des Empires. Anders als Flüchtlinge oder | |
Gastarbeiter kamen die Menschen aus der Karibik aus eigener Sicht nicht als | |
Fremde nach Großbritannien, die sich dankbar zu zeigen hätten. Sie kamen | |
mit der Erwartung, als britisch und ebenbürtig angesehen zu werden. Aber in | |
der britischen Kultur und auch im Schulunterricht gibt es herzlich wenig, | |
das dies reflektiert. Die Geschichte der Schwarzen bleibe unsichtbar, sagte | |
Hall. Linton Kwesi Johnson besang es einst in „Inglan is a Bitch“. | |
Ins Bewusstsein der breiteren britischen Öffentlichkeit gelangte die | |
Windrush Generation erst, als sich ab 2018 herausstellte, dass manche von | |
ihnen, ohne dies zu wissen, gar keinen gesicherten Aufenthaltsstatus | |
hatten. Sie sahen sich ja als Briten. Doch für viele war ihr einziger | |
Einreisenachweis nach Großbritannien der Eintrag über ihre Ankunft per | |
Schiff. Unter der konservativen Innenministerin Theresa May wurde die Jagd | |
auf mutmaßliche illegale Migranten drastisch verschärft und zugleich wurden | |
die alten Schiffsregister vernichtet. Bis zu 15.000 karibische Migranten | |
wurden daraufhin als Illegale eingestuft, obwohl sie jahrzehntelang | |
problemlos in Großbritannien gelebt hatten. | |
Viele verloren ihre Arbeit, ihre Wohnungen und ihre medizinische | |
Versorgung, mindestens 83 wurden sogar abgeschoben. Als dieser | |
„[4][Windrush Scandal]“ 2018 in der Presse aufgedeckt wurde, entschuldigte | |
sich die britische Regierung, die mittlerweile von Theresa May als | |
Premierministerin geführt wurde. Die Regierung leitete eine Untersuchung | |
ein und versprach Entschädigung. Auf diese warten viele Betroffene bis | |
heute; 23 von ihnen sind vor der Wiedergutmachung gestorben. Für diese | |
Generation hat das tiefe Wunden neu aufgerissen. | |
## Menschen voller Geschichten | |
Die alte Generation bleibt heute wieder mit ihren Erinnerungen unter sich. | |
Im Pepper Pot Centre in Ladbroke Grove in North Kensington – dort, wo einst | |
der Notting Hill Carneval entstand – treffen sich betagte Senior:innen | |
der Windrush Generation Tag für Tag seit dem Jahr 1981. Managerin Caroline | |
Archer, deren Eltern aus Jamaika und dem Inselstaat Dominica abstammen, | |
kann ihren Enthusiasmus für diesen Job nicht verstecken. „Ich sah, wie | |
glücklich meine eigene Großmutter hier immer war.“ Es gibt hier karibisches | |
Essen, Gesellschaftsspiele werden gespielt. | |
Hamid Alli, Jahrgang 1935, ist freiwilliger Rezeptionist im Pepper Pot. Er | |
erzählt der taz, wie er 1957 nach London zu Tante und Onkel geschickt | |
wurde, weil sein Vater mit seiner vorherigen Freundin nicht einverstanden | |
gewesen war. Nach dem Studium arbeitete er sich beim Ölkonzern Shell hoch. | |
Er erinnert sie, wie eine Gruppe ihm unterstehender Arbeiter sich weigerte, | |
ihn als Chef anzuerkennen – weil er Schwarz war. Oder wie er im Ostlondoner | |
Stadtteil Leyton ein Haus kaufte – und die Nachbarn begannen, ihre Häuser | |
zu verkaufen, weil sie glaubten, dass seine Anwesenheit den Wert ihrer | |
Immobilien senkte. „Tatsächlich war ich wohlhabender als sie alle. Ich | |
hätte mir mit meinem Shell-Gehalt gleich mehrere der Häuser kaufen können.“ | |
Später wurde Alli Kameramann bei der BBC und drehte Spielfilme. | |
Auch der heute 87-jährige Harold Roch hat fesselnde Geschichten zu | |
erzählen. Im Jahr 1936 auf der Karibikinsel Montserrat geboren, folgte er | |
1961 seinem Bruder nach London. Dort herrschte damals wegen der vielen | |
Kohleheizungen Dauersmog – aber es war auch der Beginn der Swinging | |
Sixties. „Ich staunte bei meiner Ankunft, wie dreckig London war, ja sogar | |
der Buckingham Palace! Und ich staunte über die mir völlig fremden | |
moralischen Freiheiten.“ | |
Roch erzählt, wie er sich durch seinen starken Körperbau Respekt | |
verschaffte und sich selbst einmal gegen mehrere Polizisten behaupten | |
konnte, die in Notting Hill auf einen anderen Schwarzen losgegangen waren. | |
„Der Wachtmeister ließ mich später gehen, weil ich ihn davon überzeugen | |
konnte, dass zehn Mann gegen ein paar von uns unfair war.“ | |
Velma McClymont, die 1969 als Zwölfjährige mit dem Flugzeug aus Jamaika | |
ihren Eltern nach London folgte, hat über die schwarze karibische Erfahrung | |
ein Buch geschrieben: das semiautobiografische „Hope Leaves Jamaica“, | |
veröffentlicht unter dem Pseudonym Kate Elizabeth Ernest. Der Erfolg des | |
Buches führte zu einem verspäteten Studium der Literatur und der | |
karibischen Geschichte, bis zur Promotion. Ihr Vater war in Jamaikas | |
Hauptstadt Kingston ein gutsituierter Zahnarzt gewesen, „mit schönem Haus | |
und Auto mit Chauffeur“. | |
Als sie selbst nach London kam, war es ein Kulturschock. „In der Schule in | |
England spuckten die weißen Mädchen mich an. Selbst die hier geborenen | |
Schwarzen Mädchen wollten nichts mit mir zu tun haben, weil ich | |
gelegentlich mal einen Begriff auf Patois sprach“, schildert sie. Die | |
monatlichen Briefe an ihre Großmutter daheim wurden zum einzigen Trost. | |
„Ich wollte eigentlich immer zurück nach Jamaika, doch England hatte den | |
Status eines Mutterlandes, an das wir geschichtlich gebunden waren. | |
Rückkehrer galten als Versager.“ | |
McClymont boxte sich durch, konfrontierte als Erwachsene sogar furchtlos | |
einen rassistischen Nachbarn, der mit einer Schusswaffe auf sie losging, | |
wie sie sich erinnert, und arbeitete bei der britischen Zentralbank – | |
während ihr Vater erleben musste, dass ihn viele Patienten aufgrund seiner | |
Hautfarbe mieden. In den 1970er Jahren wanderte er enttäuscht nach Ghana | |
aus. | |
„Großbritannien leidet an geschichtlicher Amnesie“, sagt die elegant | |
gekleidete Frau mit Sonntagshut und Sonnenbrille. „Es waren wir, mit den | |
schottischen Nachnamen jener, die uns entführt und misshandelt hatten, die | |
Großbritannien mit Blut, Schweiß und Tränen geschaffen haben.“ Das Jamaika | |
und Schottland des 18. Jahrhunderts ist das Thema ihres neuesten Romans, | |
„Little River“. Von dieser Epoche gebe es eine Kontinuität zum | |
weiterbestehenden Rassismus heute, sagt sie, und macht dabei einen | |
Unterschied zwischen Menschen mit karibischem Hintergrund und jenen aus | |
Afrika, deren Vorfahren nicht versklavt wurden. Der Weg zur | |
Selbstbehauptung liege in guter Erziehung, Eigenständigkeit und | |
Zielstrebigkeit, sagt sie – und ordert ein gepfeffertes karibisches Essen: | |
Curryziege mit Reis und Erbsen. | |
Eric, das Geburtstagskind, pflegt seit seiner Pensionierung einen | |
Kleingarten. Auch sein alter Freund Andy hat einen: Kartoffeln, Rote Bete, | |
Bohnen, Mais, Tomaten, Kürbisse wachsen dort. „Meine Knie machen es mir | |
sehr schwer, aber mein Motto ist, dass ich mich weiter dazu zwingen muss, | |
durchzuhalten.“ Genau das, behaupten viele, sei es, was diese aus der | |
Karibik nach Großbritannien ausgewanderten Menschen auszeichne. | |
Mit seinen 90 Jahren denkt Eric auch über sein Lebensende nach. Seine | |
Bestattung hat er schon vorausbezahlt. „Da, wo man stirbt, da kommt man | |
her“, meint er. Ist der alte Trinidadier also Engländer? „Ich bin | |
Afrikaner!“, behauptet er. „Afrika ist der Kontinent, dem sie uns entrissen | |
hatten.“ Aber, gesteht er ein: „Das Leben hier in London war grundsätzlich | |
gut. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich nie geplant hatte, | |
hierherzukommen.“ | |
21 Jun 2023 | |
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