Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Folgen des britischen Kolonialismus: Die Erben der Sklaverei
> Großbritannien bewertet seine Rolle in der Sklaverei neu. Familie
> Trevelyan arbeitet dabei ihre schändliche Geschichte im Karibikstaat
> Grenada auf.
St. George’s/London taz | Grenada, 9 Uhr morgens. 30 Grad, 74 Prozent
Luftfeuchtigkeit. Entlang der schmalen Straße zur Hauptstadt St. George’s
verläuft ein hoher Zaun. Zwei Straßenverkäufer stehen hinter ihren Ständen.
Hin und wieder steigen ein paar Leute aus Kleinbussen aus und verschwinden
zu Fuß auf kleinen Wegen zur Arbeit. Hinter dem Zaun befindet sich ein
chinesisch-grenadisches Agrarprojekt. Auf der anderen Straßenseite steht
hinter einem Zaun ein verlassenes zweistöckiges graues Gebäude mit
verblassten Fensterläden. Aus dem Inneren wachsen Pflanzen, der Putz
bröckelt, manche Fenster und Türen fehlen, das Holz erscheint morsch. Auf
zwei sonnengebleichten Balken liest man „La Sagesse Natural Works
Restaurant & Bar“. Dahinter erkennt man eine mit Gras und Sträuchern
überwucherte Ruine.
Das Gelände ist menschenleer. Ein paar Ziegen laufen neugierig herum.
Hinter dem Antriebsrad einer alten Wassermühle verläuft ein kleiner Fluss.
Vor knapp 200 Jahren wurde hier Zuckerrohr zerkleinert, es war eine
Rumbrennerei. Auf einer Anzeigetafel neben der Straße steht: La Sagesse –
eine Zuckerplantage. Auf nahezu 300 Hektar schufteten hier vor
Jahrhunderten Afrikaner:innen in der tropischen Hitze, von
Europäer:innen hierher verschleppt und versklavt. Insgesamt gab es
einst auf der Karibikinsel Grenada 300 bis 370 solcher Plantagen. Ein paar
vernachlässigte Ruinen sind die einzig sichtbaren Überreste. Der Großteil
wurde seit Abschaffung der Sklaverei überbaut.
Zuckeranbau fand vor allem in den flacheren Teilen der Plantage statt, wo
sich jetzt ein Sportfeld erstreckt. Auf drei Seiten umranden Hügel das
Gelände, manche wild bewachsen, hier und da stehen Wohnhäuser mit
Terrassen. Neben dem Sportfeld zieht sich ein Feldweg zwischen Sträuchern
und kleinen Äckern südlich bis zum karibischen Meeresstrand hinunter. Zu
Tausenden flüchten Krabben beim Vorbeigehen in ihre Höhlen. Auch dieser
Teil gehörte einst zur Plantage, ein Sumpfgebiet. In den 1960er Jahren
baute sich hier ein britischer Aristokrat ein schickes Haus, heute ist es
ein kleines exklusives Hotel in Pink. Der Tourismus soll die Gegend in
Zukunft voranbringen.
Grenada erlaubt Investoren entlang der gesamten Bucht den Bau
ausschweifender Hotelkomplexe. Durch eine Mindestbeteiligung kann man sogar
die Staatsbürgerschaft kaufen. Angeblich sind die Anteile für La Sagesse
schon ausverkauft. Naturschützer:innen protestieren, aber große Teile
des Mangrovenwaldes wurden schon gerodet.
Ausländische Investor:innen bereichern – das ist seit Jahrhunderten das
Schicksal dieser Inseln in der Karibik. Im Jahr 1498 sichtete [1][Christoph
Kolumbus] als erster Europäer die Insel, die er zuerst „La Concepción“
nannte und später Granada. Die Bewohner:innen hatten einen anderen
Namen für ihre Heimat: Camerhogne. Sie wehrten sich mit Vehemenz. 1649
gründeten Eroberer aus Frankreich, auf die auch das „e“ in Grenada
zurückzuführen ist, die heutige Hauptstadt St. George’s.
Fünf Jahre später stürzten sich die letzten Indigenen, so heißt es, über
die Klippen in den Tod. Die Insel diente nun Plantagenbesitzern zum Anbau
von Zucker. Hierzu holten die Europäer:innen Menschen aus Afrika. Ihnen
wurde der Status Mensch abgesprochen, sie wurden wie Tiere behandelt und
mussten unentgeltlich arbeiteten. 1763 wurde Grenada britisch, woraufhin
die lukrativen Zuckerplantagen weiter ausgebaut wurden.
Die Plantage La Sagesse gehörte den Simonds, einer Geschäftsfamilie in
England. 1757 ging der Besitz der Simonds durch die Ehe von Louisa Simond
mit John Trevelyan an die altenglische aristokratische Trevelyan-Familie
über. Die Briten verboten 1807 den Sklavenhandel, aber die Sklavenhaltung
auf den Plantagen ging vorerst weiter – bis zur Abschaffung im Jahr 1834.
Den Eigentümern zahlte der britische Staat damals 20 Millionen Pfund (heute
umgerechnet 18 Milliarden Euro) Entschädigung für den Verlust ihrer
Sklaven. Die Trevelyans erhielten für ihre 1.004 Versklavten in Grenada
34.000 Pfund, auf heute umgerechnet 3,5 Millionen Euro. Die Opfer der
Sklaverei gingen leer aus. Die Plantage La Sagesse ging später durch viele
Hände und wurde aufgeteilt. Nichts verweist dort heute auf die düstere
Geschichte.
## A Very British Family
In Wallington im Norden Englands, 50 Kilometer von der schottischen Grenze,
dem ehemaligen Landsitz der Trevelyan-Familie, lässt sich auf den ersten
Blick ebenfalls nichts erkennen. Mit seinen Gärten, künstlich angelegten
Seen und ehemaligen Jagdhainen ist Wallington heute ein Touristenort. Man
zahlt Eintritt.
Im Hauptgebäude prangen hinter Vitrinen wertvolle Teeservice mit
Blumenmustern aus dem deutschen Meißen und aus China. In den Tassen wurde
einst der feine Tee mit dem Zucker aus der Karibik serviert. Imposante
Porträts ehemaliger Bewohner:innen blicken darauf herab. Eine
„Kuriositätenkammer“ im zweiten Stock enthält eine verzierte Kalebasse aus
Guyana. Irgendwo soll auch eine Münze der Antisklavereibewegung liegen, mit
einem um Erbarmen bittenden Afrikaner und den Worten: „Bin ich nicht ein
Mensch?“
Die ehemalige US-Korrespondentin der BBC, Laura Trevelyan, begann sich vor
zwanzig Jahren mit ihrer Familiengeschichte zu befassen. In ihrem 2006
erschienenen Buch „A Very British Family“ schrieb sie auf, wie ihre
Vorfahren im 19. Jahrhundert auf der richtigen Seite der Geschichte
gestanden hätten, der Seite der Abschaffung der Sklaverei. Erst im Jahr
2013 entdeckte Laura Trevelyan, wie sehr ihre angeblich glorreiche Familie
selbst in eines der größten Menschheitsverbrechen der letzten 500 Jahre
verstrickt war.
## Eine unglaubliche Scheinheiligkeit
„Ich glaube, mein Cousin Humphrey Trevelyan kam mir zuvor“, erzählt John
Dower in der offenen Küche seines Hauses im Londoner Stadtteil Brixton, im
Herzen des Schwarzen Englands. In der Nähe wohnt Reggaepoet Linton Kwesi
Johnson, 1981 tobten hier die Aufstände der Schwarzen Jugend gegen die
Londoner Polizei, an einem Fenster des Hauses steht groß in Gelb und Rot
„Black Lives Matter“. Der 61-jährige Dower erzählt: „Es war ein
Zeitungsbericht des britischen Historikers David Olusoga, der Leute dazu
ermutigte, ihren Namen in eine Datenbank einzugeben. Ich gab meinen Namen
und den meiner Mutter ein, und dann Trevelyan, und ich erfuhr, dass meiner
Familie 1.004 Sklaven gehört hatten.“
Dower war am Boden zerstört, nicht zuletzt, weil seine Frau einen teils
kamerunischen Familienhintergrund hat. Außerdem passte es nicht in sein
Selbstverständnis als Jugendlicher: Punk und Reggae, Solidarität mit den
Bergarbeitern gegen Margaret Thatcher, Rock against Racism. Sein Vater
Michael war ein radikaler Naturschützer, sein Großvater mütterlicherseits,
Sir Charles Philips Trevelyan, war von 1929 bis 1931 Bildungsminister der
ersten britischen Labour-Regierung und überschrieb 1942, mitten im Zweiten
Weltkrieg, als guter Sozialist das Landgut Wallington dem britische Volk.
Seitdem wird es vom National Trust verwaltet, der öffentlichen Stiftung für
Denkmalpflege.
„Die Scheinheiligkeit ist unglaublich“, fasst John Dower seine Entdeckung
der Sklaverei in seiner Familie zusammen. Nicht einmal dem Historiker und
Vorfahren G. M. Trevelyan (1876–1962), seine Geschichtsbücher waren lange
Zeit in Großbritannien Pflichtlektüre, war dies bekannt. Dower weiter: „Ich
hielt mich bisher für eine Person, die Rassismus bekämpft hat. Aber im
Grund hat er mich ziemlich privilegiert. Ich glaube heute, dass vielleicht
andere – Jüngere, Frauen, People of Colour – die Geschichte besser erzähl…
können als ich.“
Laura Trevelyan beschloss schließlich, die Entdeckungen als Journalistin
anzugehen und einen Dokumentarfilm zu drehen. Sie kontaktierte dafür in
Grenada die Historikerin Nicole Phillip-Dowe, stellvertretende Vorsitzende
des Reparationskomitees von Grenada und Vizedirektorin des Grenada-Ablegers
der University of the West Indies.
Phillip-Dowe sitzt in Grenada in ihrem geräumigen Büro im
Universitätsgebäude, einer pastellgrünen Villa. „Nachdem im März 2022 das
Reparationskomitee gegründet wurde, versuchte ich etwas Großes auf die
Beine zu stellen“, erinnert sie sich. „Genau dann erhielt ich eine E-Mail
von Laura Trevelyan. Meine Antwort an sie war: Ich lese Ihre E-Mail mit
einem breitem Grinsen.“
Die Diskussionen zwischen ihr und Laura Trevelyan beschreibt sie als
emotional. „Wir zeigten ihr, als sie hier war, Folterinstrumente. Am
letzten Tag flossen Tränen. Das stellte für mich den ersten Schritt ihres
Verstehensprozesses dar. Und es war genau der Punkt, an dem sie erwähnte,
dass sie über Wiedergutmachung nachdenkt.“ Noch während der Aufnahmen für
ihren Film fragte Laura Trevelyan eine grenadische Schulklasse, ob sie
Reparationen ihrer Familie an Menschen in Grenada für richtig hielten. Die
Antwort lautete: Ja!
Reparationen für Sklaverei? International war das lange Zeit undenkbar,
auch in Großbritannien. Im Jahr 2007 entschuldigte sich
Labour-Premierminister [2][Tony Blair] für die Sklaverei allgemein –
folgenlos. 2011 bezeichnete der konservative Premierminister David Cameron
auf Jamaika die Sklaverei als „schrecklich“ und betonte, Großbritannien sei
stolz, Wegbereiter der Abschaffung gewesen zu sein. Als 2015 bekannt wurde,
dass auch seine Familie einst Versklavte gehalten und dafür bei der
Abschaffung der Sklaverei Entschädigung erhalten hatte, erklärte er, es sei
Zeit, die Geschichte hinter sich zu lassen. 2021 sprach der heutige
[3][König Charles] von der „fürchterlichen Gräueltat der Sklaverei“.
Vorsichtig gewählte Worte, ohne Verbindlichkeit.
Im April ersuchte die schwarze Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy im
Parlament Premierminister Rishi Sunak, den ersten britischen Premier mit
einem unmittelbar kolonial geprägten Familienhintergrund, sich für die
Sklaverei zu entschuldigen. „Nein, die britische Geschichte neu
aufzumachen, ist nicht der richtige Weg“, lautete seine Antwort.
Für Ribeiro-Addy ist die Frage der Reparationen aber wichtig, sagt sie der
taz. Man müsse anerkennen, dass die Sklaverei zu Ende ging, weil Aufstände
sie unprofitabel machten, nicht weil weiße Moralprediger die Barbarei
verurteilten. „Wenn weiterhin vom guten Willen des Westens gesprochen wird,
wird es auch künftig so aussehen, als sollten wir dankbar sein, dass etwa
die Briten die Sklaverei beendeten. Es waren wirtschaftliche Argumente, die
das beendeten, und die Sklavenhalter wurden dafür auch noch entschädigt
bezahlt.“
Viele altehrwürdige britische Institutionen haben sich inzwischen für ihre
Mitwirkung an der Sklaverei entschuldigt: die anglikanische Kirche, die
Universität Oxford, die Zentralbank, die Stadt Edinburgh, die Zeitung
Guardian. König Charles veranlasste eine Untersuchung zur Verbindung der
Königsfamilie mit der Sklaverei. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.
## Immerhin Tropfen auf dem heißen Stein
In diesem Klima also beschlossen die Trevelyans, sich im Namen ihrer
Familie zu entschuldigen. An einem Familientreffen über Zoom beteiligte
sich auch der aus Barbados stammende Historiker Sir Hilary Beckles,
Vorsitzender der Reparationskommission der Vereinigung karibischer Staaten
(Caricom) und Vizerektor der University of the West Indies. Beckles’ 2013
erschienenes Buch „Britain’s Black Debt“ fordert Reparationen für die
Versklavung, den Kolonialismus und die Langzeitschäden.
Der Karibikstaatenbund Caricom hat 2014 diese Forderungen in einem
Zehnpunktekatalog konkretisiert: Entschuldigung, Repatriierungsmöglichkeit,
Entwicklungsprogramme für karibisch-indigene Menschengruppen, Investitionen
in kulturelle Einrichtungen und Gesundheit, Bekämpfung des Analphabetismus,
Bildungsförderung zu afrikanischer Geschichte, psychologische
Hilfsprogramme, Technologietransfer und letztlich die Tilgung von Schulden.
Schließlich einigte sich die Trevelyan-Familie auf den Text einer
Entschuldigung. Auf Intervention von Beckles wurde die Anerkennung der
Sklaverei als Menschheitsverbrechen eingefügt. Am 27. Februar 2023
unterschrieben die Entschuldigung vor laufender Kamera 104
Familienmitglieder, von denen mehrere eigens nach Grenada gereist waren,
auf einer Feier im Beisein von Grenadas Premierminister und anderen
Persönlichkeiten. Zusätzlich hatte Laura Trevelyan eine Überraschung parat:
100.000 Pfund (umgerechnet 117.000 Euro) aus ihrem eigenen Geld als
Reparation.
Als die taz Laura Trevelyan darauf anspricht, redet sie es klein. „Ich
hatte eine gute Karriere mit allem, was man sich wünschen könnte.“ Das Geld
werde von der University of the West Indies gemanagt und soll nun ein
Auslandsstipendium pro Jahr finanzieren. Nicole Phillip-Dowe hält das für
wichtig, „weil mit jeder Unterstützung auch jeweils die Familien der
Studierenden aufsteigen“. Andere Familienmitglieder wollen weitere
Programme in Grenada unterstützen. Im Verhältnis zum vergangenen Unrecht
sind es Tropfen auf dem heißen Stein, aber immerhin.
Kurz vor der feierlichen Unterzeichnung ließ Arley Gill, Vorsitzender des
grenadischen Reparationskomitees, den Schulleiter Nigel de Gale ein Gedicht
vortragen. De Gale leitet in St. George’s die anglikanische Grundschule.
Sein Gedicht fordert mehr als eine Entschuldigung, nämlich eine
Veränderung. Er wolle die nächsten 400 Jahre Weiße versklaven, heißt es in
dem Gedicht.
„Das Gedicht war nicht gegen die Trevelyans gerichtet“, versichert de Gale
im Gespräch mit der taz in seinem Büro neben dem Schuleingang. Kinder
laufen lärmend vorbei, man hört eine Schulklasse Sätze rhythmisch
nachsprechen. De Gale zeigt auf die Porträts vergangener Schulleiter an der
Wand: Er selbst am Ende, am Anfang lauter weiße Männer.
„Ich will kein Geld!“, stellt er klar. „Wir müssen wissen, dass wir auch
Rechte haben, dass wir gleichberechtigt mit anderen zusammensitzen können,
um gemeinsam Probleme zu lösen.“ De Gale erwähnt Schwarze Vorbilder: Marcus
Garvey, Malcolm X, Mohammed Ali. Die Kinder in seiner Schule müssten die
Zuversicht entwickeln, dass die Zukunft ihnen gehört und schon immer hätte
gehören sollen. „Wir hatten unsere eigene Geschichte und eigenen
Erfindungen. Und nun sind wir an der Reihe.“
„Ich will kein Geld“ – was hält Arley Gill davon, der Vorsitzende des
Reparationskomitees? „Es geht nicht um Geldüberweisungen“, stellt er in
seinem Büro über dem Hafen von St. George’s klar. „Es geht um einen
Entwicklungsplan, nicht Entwicklungshilfe.“ Weder während der Sklaverei
noch während der kolonialen Nachfolgeverwaltung sei ausreichend in die
Insel investiert worden. „Reparationen sind eine Verpflichtung“ –
Entwicklungshilfe sei nur ein freiwilliger Akt. Was die Trevelyans taten,
sei ein Wendepunkt. Man erkenne es daran, dass andere Familien und
Institutionen nun nachziehen.
## Den Schmerz der Vergangenheit abwenden
Die anglikanische Kirche von Grenada hat für ein Gespräch keine Zeit. Der
katholische Bischof Clyde Martin Harvey, 74 und geboren auf Trinidad,
empfängt die taz neben seiner Kathedrale. Gut 40 Prozent der Menschen in
Grenada sind katholisch. Als Schwarzer in der Karibik könne er nicht
vergessen, dass seine Vorfahren versklavte Menschen waren, beginnt Harvey.
„Es ist nicht leicht, sich vom Schmerz der Vergangenheit abzuwenden.“ Er
spricht von seinem Stolz auf das heutige Grenada. „Wir sind wunderschön!“,
ruft er.
Er kommt auf Laura Trevelyans Initiative zu sprechen, ohne sie beim Namen
zu nennen. „Ist dies ein Stipendium für ein paar Leute? Oder der Anstoß
einer ganzen Bewegung?“ Reparationen seien nicht nur eine Frage der
Sklaverei und der Kolonialzeit, sondern müssten sich auf die Weiterführung
des Imperialismus beziehen. „Als katholischer Priester und Bischof sollte
ich dem allen fernbleiben, denn ich trage die Kleider des imperialen Roms.
Aber es macht mich hoffnungsvoll, dass einige innerhalb unserer Kirche
darüber nachdenken und sprechen.“ Was die Trevelyans betreffe: Sie hätten
es gut gemeint, aber er hätte auf das ganze Drumherum verzichten können.
„Das Ego ist ein fundamentaler Feind jedes Versuches wahrhafter Befreiung.
Wer mit Gesten kommt, sollte nicht erwarten, dass man ihm die Füße küsst.“
Weder Katholiken noch Anglikaner spielten eine offizielle Rolle bei der
Entschuldigungszeremonie der Trevelyans. Aber die Twelve Tribes of Israel,
Grenadier:innen, die dem Rastafariglauben anhängen, durften ein paar
Gebete sprechen. In St. Paul’s auf einem Hügel nicht weit von der Stadt hat
sich eine Gruppe Rastafari im Hauptquartier der „Zwölf Stämme“ versammelt.
Ihr Gelände hat einen gepflegten Rasen, eine Freilichtbühne, eine Halle mit
Bar und Küche und vielen Bildern, darunter ein von dem äthiopischen Kaiser
Haile Selassie, den die Rastas verehren.
Der 67-jährige Leiter Rochel Charles trägt eine Khakiuniform mit
rot-gelb-grünen Insignien, dazu eine rot-gelb-grüne Mütze. Nach
Segenssprüchen eröffnet Charles den Abend mit einem langen Vortrag über die
Geschichte der Versklavten. „Sie sind nicht tot, sondern leben in mir und
anderen weiter“, sagt er. Der Einsatz für Reparationen sei in diesem
Zusammenhang zu verstehen. Das sei, was die Vorfahren wollten. „Wir fordern
als Rückzahlung Wohnung und genug Geld, um unser Leben zu erhalten. Wir
wollen zurück gehen und Afrika aufbauen, wie es in der Bibel steht“, sagt
Charles. Er bezeichnet Laura Trevelyan als tapfere Frau: „Wir sehen sie als
Funke eines Feuers, das sich durch Europa brennen wird.“
## Europäer haben kein Recht auf die Ländereien
Was bedeutet das alles auf La Sagesse? Auf der ehemaligen Plantage stößt
die taz auf den 82-jährigen Winston Mitchell. Er baut ein Gewächshaus auf.
In Gummistiefeln und mit riesigem Strohhut rügt er gerade einen
Angestellten. Mitchell verließ Grenada 1961 mit einem Stipendium, er wurde
Arzt in den USA. 1986 kehrte er zurück. Er investierte sein Geld in den
Kauf großer Teile des Geländes von La Sagesse bis hin zum Strand.
„Landwirtschaft liegt mir im Blut“, sagt er. Der Wiederaufbau mit einer
Fruchtsaftfabrik lief bestens, bis Hurrikan „Ivan“ 2004 fast alles
zerstörte. Frustriert verkaufte er viel Land. Für sich selbst hat er vier
Gewächshäuser behalten.
„Die teuflische Sklaverei ist lange her“, sagt er. „Gespräche darüber
werden Grenada nicht helfen. Auch eine Entschuldigung kann die Tatsachen
nicht ändern!“ Mitchell hat eine andere Antwort: Harte Arbeit, gute
Ausbildung. „Wenn dir etwas Ungerechtes zugestoßen ist, stehe auf und
arbeite dich hoch!“, empfiehlt er. Eine offene Rechnung habe er trotzdem:
Manche Familien aus Europa besäßen bis heute Land in der Karibik und
wollten es nicht hergeben. „Sie haben keinerlei Recht auf diese Ländereien,
weil sie meine Leute unterdrückten und es immer noch tun“, schimpft
Mitchell. Er erzählt, dass er einmal beim Graben auf Skelette gestoßen ist:
Dort, wo früher die Behausungen der Versklavten gestanden hatten.
Mitchells ist auch die chinesische Plantage in La Sagesse ein Dorn im Auge.
„Ich glaube nicht, dass die Chinesen umsonst helfen“, findet er. „Es mag
fantastisch aussehen, aber die meisten Arbeiter und Materialien kommen aus
China.“ Aber Mitchell hat das Land selbst verkauft, so auch die Bucht um La
Sagesse an die Hotelinvestoren von Range Development. Naturschützer Andre
Joseph-Witzig von der Gruppe Grenada Land Actors übt scharfe Kritik: „Wir
sind, so heißt es, seit 1974 unabhängig. Aber was auf dem Gut geplant ist,
erlaubt eine neue Form von Sklaverei und Kolonialisierung am selben Ort.“
In den neuen Investitionsprojekten blieben Einheimischen höchstens Jobs als
Dienstpersonal, fürchtet er. Bereits jetzt gebe es Streit um den Zugang zum
Strand. Grenada Land Actors hat eine richterliche Prüfung verlangt, weil
die Regierung die eigenen Gesetze und Regeln zum Umweltschutz nicht
einhalte. Die Investoren feiern auf ihren Webseiten Ausbildungsprogramme,
Investitionen in die Lebensmittelversorgung, Neupflanzungen,
verantwortungsvollen Umgang mit Natur und Mensch. Wer recht hat, wird sich
im Januar 2024 vor Gericht zeigen. Es sei alles scheinheilig, glaubt
Joseph-Witzig. „Während die Regierung dies zulässt, fordert sie zur selben
Zeit Klimareparationen.“ In La Sagesse seien nicht nur die Spuren der
Sklaverei zu schützen, sondern auch Spuren der vorherigen indigenen
Bevölkerung. Doch wenn es so weitergehe, bleibe nichts von der
Vergangenheit.
31 Aug 2023
## LINKS
[1] /Umgang-mit-Kolonialismus/!5691640
[2] /Grossbritannien-streitet-ueber-Tony-Blair/!5825955
[3] /Kroenung-von-Charles-III/!5929904
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Sklaverei
Wiedergutmachung
Großbritannien
Karibik
Longread
GNS
Recherchefonds Ausland
Lesestück Recherche und Reportage
US-Sklaverei-Geschichte
Karibik
Niederlande
Karibik
Schwerpunkt Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Erinnerung an die Sklaverei: Licht in die Dunkelheit bringen
In Westafrika entstehen zunehmend Erinnerungsorte und Museen, wo engagierte
Einheimische die historische Sklaverei erfahrbar machen. Zwei Ortsbesuche.
ZDFinfo-Doku über Rassismus: Aufklärung über das Empörende
Die ZDFinfo-Doku „Rasse. Wahn. Verbrechen. Die Geschichte des Rassismus“
bündelt, was zu sagen ist. Eine Grundlage für den Schulunterricht.
US-Invasion in Grenada vor 40 Jahren: Gespaltene Erinnerungen
Mit der Besetzung Grenadas beendeten die USA eine linke Revolution, welche
die Karibikinsel umkrempelte. Fünf Zeitzeugen erzählen.
Aufarbeitung der Sklaverei: Historische Rede – und dann?
In den Niederlanden ist die Sklaverei-Entschuldigung des Königs ein
Meilenstein. Zugleich wirft sie Fragen auf, was den großen Worten nun
folgen soll.
Koloniale Vergangenheit des Empire: Gegen den Wind
Vor 75 Jahren kamen die ersten karibischen Migranten auf dem Schiff
„Windrush“ nach England. Der Kampf um Aufarbeitung ist bis heute ein
widerständiger.
Nach Rassismus-Vergleich: Labour schasst schwarze Abgeordnete
Die britische Labourpartei hat die bekannte Parlamentsabgeordnete Abbott
nach einem Rassismus-Vergleich bis auf Weiteres aus der Fraktion
suspendiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.