# taz.de -- Folgen des britischen Kolonialismus: Die Erben der Sklaverei | |
> Großbritannien bewertet seine Rolle in der Sklaverei neu. Familie | |
> Trevelyan arbeitet dabei ihre schändliche Geschichte im Karibikstaat | |
> Grenada auf. | |
St. George’s/London taz | Grenada, 9 Uhr morgens. 30 Grad, 74 Prozent | |
Luftfeuchtigkeit. Entlang der schmalen Straße zur Hauptstadt St. George’s | |
verläuft ein hoher Zaun. Zwei Straßenverkäufer stehen hinter ihren Ständen. | |
Hin und wieder steigen ein paar Leute aus Kleinbussen aus und verschwinden | |
zu Fuß auf kleinen Wegen zur Arbeit. Hinter dem Zaun befindet sich ein | |
chinesisch-grenadisches Agrarprojekt. Auf der anderen Straßenseite steht | |
hinter einem Zaun ein verlassenes zweistöckiges graues Gebäude mit | |
verblassten Fensterläden. Aus dem Inneren wachsen Pflanzen, der Putz | |
bröckelt, manche Fenster und Türen fehlen, das Holz erscheint morsch. Auf | |
zwei sonnengebleichten Balken liest man „La Sagesse Natural Works | |
Restaurant & Bar“. Dahinter erkennt man eine mit Gras und Sträuchern | |
überwucherte Ruine. | |
Das Gelände ist menschenleer. Ein paar Ziegen laufen neugierig herum. | |
Hinter dem Antriebsrad einer alten Wassermühle verläuft ein kleiner Fluss. | |
Vor knapp 200 Jahren wurde hier Zuckerrohr zerkleinert, es war eine | |
Rumbrennerei. Auf einer Anzeigetafel neben der Straße steht: La Sagesse – | |
eine Zuckerplantage. Auf nahezu 300 Hektar schufteten hier vor | |
Jahrhunderten Afrikaner:innen in der tropischen Hitze, von | |
Europäer:innen hierher verschleppt und versklavt. Insgesamt gab es | |
einst auf der Karibikinsel Grenada 300 bis 370 solcher Plantagen. Ein paar | |
vernachlässigte Ruinen sind die einzig sichtbaren Überreste. Der Großteil | |
wurde seit Abschaffung der Sklaverei überbaut. | |
Zuckeranbau fand vor allem in den flacheren Teilen der Plantage statt, wo | |
sich jetzt ein Sportfeld erstreckt. Auf drei Seiten umranden Hügel das | |
Gelände, manche wild bewachsen, hier und da stehen Wohnhäuser mit | |
Terrassen. Neben dem Sportfeld zieht sich ein Feldweg zwischen Sträuchern | |
und kleinen Äckern südlich bis zum karibischen Meeresstrand hinunter. Zu | |
Tausenden flüchten Krabben beim Vorbeigehen in ihre Höhlen. Auch dieser | |
Teil gehörte einst zur Plantage, ein Sumpfgebiet. In den 1960er Jahren | |
baute sich hier ein britischer Aristokrat ein schickes Haus, heute ist es | |
ein kleines exklusives Hotel in Pink. Der Tourismus soll die Gegend in | |
Zukunft voranbringen. | |
Grenada erlaubt Investoren entlang der gesamten Bucht den Bau | |
ausschweifender Hotelkomplexe. Durch eine Mindestbeteiligung kann man sogar | |
die Staatsbürgerschaft kaufen. Angeblich sind die Anteile für La Sagesse | |
schon ausverkauft. Naturschützer:innen protestieren, aber große Teile | |
des Mangrovenwaldes wurden schon gerodet. | |
Ausländische Investor:innen bereichern – das ist seit Jahrhunderten das | |
Schicksal dieser Inseln in der Karibik. Im Jahr 1498 sichtete [1][Christoph | |
Kolumbus] als erster Europäer die Insel, die er zuerst „La Concepción“ | |
nannte und später Granada. Die Bewohner:innen hatten einen anderen | |
Namen für ihre Heimat: Camerhogne. Sie wehrten sich mit Vehemenz. 1649 | |
gründeten Eroberer aus Frankreich, auf die auch das „e“ in Grenada | |
zurückzuführen ist, die heutige Hauptstadt St. George’s. | |
Fünf Jahre später stürzten sich die letzten Indigenen, so heißt es, über | |
die Klippen in den Tod. Die Insel diente nun Plantagenbesitzern zum Anbau | |
von Zucker. Hierzu holten die Europäer:innen Menschen aus Afrika. Ihnen | |
wurde der Status Mensch abgesprochen, sie wurden wie Tiere behandelt und | |
mussten unentgeltlich arbeiteten. 1763 wurde Grenada britisch, woraufhin | |
die lukrativen Zuckerplantagen weiter ausgebaut wurden. | |
Die Plantage La Sagesse gehörte den Simonds, einer Geschäftsfamilie in | |
England. 1757 ging der Besitz der Simonds durch die Ehe von Louisa Simond | |
mit John Trevelyan an die altenglische aristokratische Trevelyan-Familie | |
über. Die Briten verboten 1807 den Sklavenhandel, aber die Sklavenhaltung | |
auf den Plantagen ging vorerst weiter – bis zur Abschaffung im Jahr 1834. | |
Den Eigentümern zahlte der britische Staat damals 20 Millionen Pfund (heute | |
umgerechnet 18 Milliarden Euro) Entschädigung für den Verlust ihrer | |
Sklaven. Die Trevelyans erhielten für ihre 1.004 Versklavten in Grenada | |
34.000 Pfund, auf heute umgerechnet 3,5 Millionen Euro. Die Opfer der | |
Sklaverei gingen leer aus. Die Plantage La Sagesse ging später durch viele | |
Hände und wurde aufgeteilt. Nichts verweist dort heute auf die düstere | |
Geschichte. | |
## A Very British Family | |
In Wallington im Norden Englands, 50 Kilometer von der schottischen Grenze, | |
dem ehemaligen Landsitz der Trevelyan-Familie, lässt sich auf den ersten | |
Blick ebenfalls nichts erkennen. Mit seinen Gärten, künstlich angelegten | |
Seen und ehemaligen Jagdhainen ist Wallington heute ein Touristenort. Man | |
zahlt Eintritt. | |
Im Hauptgebäude prangen hinter Vitrinen wertvolle Teeservice mit | |
Blumenmustern aus dem deutschen Meißen und aus China. In den Tassen wurde | |
einst der feine Tee mit dem Zucker aus der Karibik serviert. Imposante | |
Porträts ehemaliger Bewohner:innen blicken darauf herab. Eine | |
„Kuriositätenkammer“ im zweiten Stock enthält eine verzierte Kalebasse aus | |
Guyana. Irgendwo soll auch eine Münze der Antisklavereibewegung liegen, mit | |
einem um Erbarmen bittenden Afrikaner und den Worten: „Bin ich nicht ein | |
Mensch?“ | |
Die ehemalige US-Korrespondentin der BBC, Laura Trevelyan, begann sich vor | |
zwanzig Jahren mit ihrer Familiengeschichte zu befassen. In ihrem 2006 | |
erschienenen Buch „A Very British Family“ schrieb sie auf, wie ihre | |
Vorfahren im 19. Jahrhundert auf der richtigen Seite der Geschichte | |
gestanden hätten, der Seite der Abschaffung der Sklaverei. Erst im Jahr | |
2013 entdeckte Laura Trevelyan, wie sehr ihre angeblich glorreiche Familie | |
selbst in eines der größten Menschheitsverbrechen der letzten 500 Jahre | |
verstrickt war. | |
## Eine unglaubliche Scheinheiligkeit | |
„Ich glaube, mein Cousin Humphrey Trevelyan kam mir zuvor“, erzählt John | |
Dower in der offenen Küche seines Hauses im Londoner Stadtteil Brixton, im | |
Herzen des Schwarzen Englands. In der Nähe wohnt Reggaepoet Linton Kwesi | |
Johnson, 1981 tobten hier die Aufstände der Schwarzen Jugend gegen die | |
Londoner Polizei, an einem Fenster des Hauses steht groß in Gelb und Rot | |
„Black Lives Matter“. Der 61-jährige Dower erzählt: „Es war ein | |
Zeitungsbericht des britischen Historikers David Olusoga, der Leute dazu | |
ermutigte, ihren Namen in eine Datenbank einzugeben. Ich gab meinen Namen | |
und den meiner Mutter ein, und dann Trevelyan, und ich erfuhr, dass meiner | |
Familie 1.004 Sklaven gehört hatten.“ | |
Dower war am Boden zerstört, nicht zuletzt, weil seine Frau einen teils | |
kamerunischen Familienhintergrund hat. Außerdem passte es nicht in sein | |
Selbstverständnis als Jugendlicher: Punk und Reggae, Solidarität mit den | |
Bergarbeitern gegen Margaret Thatcher, Rock against Racism. Sein Vater | |
Michael war ein radikaler Naturschützer, sein Großvater mütterlicherseits, | |
Sir Charles Philips Trevelyan, war von 1929 bis 1931 Bildungsminister der | |
ersten britischen Labour-Regierung und überschrieb 1942, mitten im Zweiten | |
Weltkrieg, als guter Sozialist das Landgut Wallington dem britische Volk. | |
Seitdem wird es vom National Trust verwaltet, der öffentlichen Stiftung für | |
Denkmalpflege. | |
„Die Scheinheiligkeit ist unglaublich“, fasst John Dower seine Entdeckung | |
der Sklaverei in seiner Familie zusammen. Nicht einmal dem Historiker und | |
Vorfahren G. M. Trevelyan (1876–1962), seine Geschichtsbücher waren lange | |
Zeit in Großbritannien Pflichtlektüre, war dies bekannt. Dower weiter: „Ich | |
hielt mich bisher für eine Person, die Rassismus bekämpft hat. Aber im | |
Grund hat er mich ziemlich privilegiert. Ich glaube heute, dass vielleicht | |
andere – Jüngere, Frauen, People of Colour – die Geschichte besser erzähl… | |
können als ich.“ | |
Laura Trevelyan beschloss schließlich, die Entdeckungen als Journalistin | |
anzugehen und einen Dokumentarfilm zu drehen. Sie kontaktierte dafür in | |
Grenada die Historikerin Nicole Phillip-Dowe, stellvertretende Vorsitzende | |
des Reparationskomitees von Grenada und Vizedirektorin des Grenada-Ablegers | |
der University of the West Indies. | |
Phillip-Dowe sitzt in Grenada in ihrem geräumigen Büro im | |
Universitätsgebäude, einer pastellgrünen Villa. „Nachdem im März 2022 das | |
Reparationskomitee gegründet wurde, versuchte ich etwas Großes auf die | |
Beine zu stellen“, erinnert sie sich. „Genau dann erhielt ich eine E-Mail | |
von Laura Trevelyan. Meine Antwort an sie war: Ich lese Ihre E-Mail mit | |
einem breitem Grinsen.“ | |
Die Diskussionen zwischen ihr und Laura Trevelyan beschreibt sie als | |
emotional. „Wir zeigten ihr, als sie hier war, Folterinstrumente. Am | |
letzten Tag flossen Tränen. Das stellte für mich den ersten Schritt ihres | |
Verstehensprozesses dar. Und es war genau der Punkt, an dem sie erwähnte, | |
dass sie über Wiedergutmachung nachdenkt.“ Noch während der Aufnahmen für | |
ihren Film fragte Laura Trevelyan eine grenadische Schulklasse, ob sie | |
Reparationen ihrer Familie an Menschen in Grenada für richtig hielten. Die | |
Antwort lautete: Ja! | |
Reparationen für Sklaverei? International war das lange Zeit undenkbar, | |
auch in Großbritannien. Im Jahr 2007 entschuldigte sich | |
Labour-Premierminister [2][Tony Blair] für die Sklaverei allgemein – | |
folgenlos. 2011 bezeichnete der konservative Premierminister David Cameron | |
auf Jamaika die Sklaverei als „schrecklich“ und betonte, Großbritannien sei | |
stolz, Wegbereiter der Abschaffung gewesen zu sein. Als 2015 bekannt wurde, | |
dass auch seine Familie einst Versklavte gehalten und dafür bei der | |
Abschaffung der Sklaverei Entschädigung erhalten hatte, erklärte er, es sei | |
Zeit, die Geschichte hinter sich zu lassen. 2021 sprach der heutige | |
[3][König Charles] von der „fürchterlichen Gräueltat der Sklaverei“. | |
Vorsichtig gewählte Worte, ohne Verbindlichkeit. | |
Im April ersuchte die schwarze Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy im | |
Parlament Premierminister Rishi Sunak, den ersten britischen Premier mit | |
einem unmittelbar kolonial geprägten Familienhintergrund, sich für die | |
Sklaverei zu entschuldigen. „Nein, die britische Geschichte neu | |
aufzumachen, ist nicht der richtige Weg“, lautete seine Antwort. | |
Für Ribeiro-Addy ist die Frage der Reparationen aber wichtig, sagt sie der | |
taz. Man müsse anerkennen, dass die Sklaverei zu Ende ging, weil Aufstände | |
sie unprofitabel machten, nicht weil weiße Moralprediger die Barbarei | |
verurteilten. „Wenn weiterhin vom guten Willen des Westens gesprochen wird, | |
wird es auch künftig so aussehen, als sollten wir dankbar sein, dass etwa | |
die Briten die Sklaverei beendeten. Es waren wirtschaftliche Argumente, die | |
das beendeten, und die Sklavenhalter wurden dafür auch noch entschädigt | |
bezahlt.“ | |
Viele altehrwürdige britische Institutionen haben sich inzwischen für ihre | |
Mitwirkung an der Sklaverei entschuldigt: die anglikanische Kirche, die | |
Universität Oxford, die Zentralbank, die Stadt Edinburgh, die Zeitung | |
Guardian. König Charles veranlasste eine Untersuchung zur Verbindung der | |
Königsfamilie mit der Sklaverei. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein. | |
## Immerhin Tropfen auf dem heißen Stein | |
In diesem Klima also beschlossen die Trevelyans, sich im Namen ihrer | |
Familie zu entschuldigen. An einem Familientreffen über Zoom beteiligte | |
sich auch der aus Barbados stammende Historiker Sir Hilary Beckles, | |
Vorsitzender der Reparationskommission der Vereinigung karibischer Staaten | |
(Caricom) und Vizerektor der University of the West Indies. Beckles’ 2013 | |
erschienenes Buch „Britain’s Black Debt“ fordert Reparationen für die | |
Versklavung, den Kolonialismus und die Langzeitschäden. | |
Der Karibikstaatenbund Caricom hat 2014 diese Forderungen in einem | |
Zehnpunktekatalog konkretisiert: Entschuldigung, Repatriierungsmöglichkeit, | |
Entwicklungsprogramme für karibisch-indigene Menschengruppen, Investitionen | |
in kulturelle Einrichtungen und Gesundheit, Bekämpfung des Analphabetismus, | |
Bildungsförderung zu afrikanischer Geschichte, psychologische | |
Hilfsprogramme, Technologietransfer und letztlich die Tilgung von Schulden. | |
Schließlich einigte sich die Trevelyan-Familie auf den Text einer | |
Entschuldigung. Auf Intervention von Beckles wurde die Anerkennung der | |
Sklaverei als Menschheitsverbrechen eingefügt. Am 27. Februar 2023 | |
unterschrieben die Entschuldigung vor laufender Kamera 104 | |
Familienmitglieder, von denen mehrere eigens nach Grenada gereist waren, | |
auf einer Feier im Beisein von Grenadas Premierminister und anderen | |
Persönlichkeiten. Zusätzlich hatte Laura Trevelyan eine Überraschung parat: | |
100.000 Pfund (umgerechnet 117.000 Euro) aus ihrem eigenen Geld als | |
Reparation. | |
Als die taz Laura Trevelyan darauf anspricht, redet sie es klein. „Ich | |
hatte eine gute Karriere mit allem, was man sich wünschen könnte.“ Das Geld | |
werde von der University of the West Indies gemanagt und soll nun ein | |
Auslandsstipendium pro Jahr finanzieren. Nicole Phillip-Dowe hält das für | |
wichtig, „weil mit jeder Unterstützung auch jeweils die Familien der | |
Studierenden aufsteigen“. Andere Familienmitglieder wollen weitere | |
Programme in Grenada unterstützen. Im Verhältnis zum vergangenen Unrecht | |
sind es Tropfen auf dem heißen Stein, aber immerhin. | |
Kurz vor der feierlichen Unterzeichnung ließ Arley Gill, Vorsitzender des | |
grenadischen Reparationskomitees, den Schulleiter Nigel de Gale ein Gedicht | |
vortragen. De Gale leitet in St. George’s die anglikanische Grundschule. | |
Sein Gedicht fordert mehr als eine Entschuldigung, nämlich eine | |
Veränderung. Er wolle die nächsten 400 Jahre Weiße versklaven, heißt es in | |
dem Gedicht. | |
„Das Gedicht war nicht gegen die Trevelyans gerichtet“, versichert de Gale | |
im Gespräch mit der taz in seinem Büro neben dem Schuleingang. Kinder | |
laufen lärmend vorbei, man hört eine Schulklasse Sätze rhythmisch | |
nachsprechen. De Gale zeigt auf die Porträts vergangener Schulleiter an der | |
Wand: Er selbst am Ende, am Anfang lauter weiße Männer. | |
„Ich will kein Geld!“, stellt er klar. „Wir müssen wissen, dass wir auch | |
Rechte haben, dass wir gleichberechtigt mit anderen zusammensitzen können, | |
um gemeinsam Probleme zu lösen.“ De Gale erwähnt Schwarze Vorbilder: Marcus | |
Garvey, Malcolm X, Mohammed Ali. Die Kinder in seiner Schule müssten die | |
Zuversicht entwickeln, dass die Zukunft ihnen gehört und schon immer hätte | |
gehören sollen. „Wir hatten unsere eigene Geschichte und eigenen | |
Erfindungen. Und nun sind wir an der Reihe.“ | |
„Ich will kein Geld“ – was hält Arley Gill davon, der Vorsitzende des | |
Reparationskomitees? „Es geht nicht um Geldüberweisungen“, stellt er in | |
seinem Büro über dem Hafen von St. George’s klar. „Es geht um einen | |
Entwicklungsplan, nicht Entwicklungshilfe.“ Weder während der Sklaverei | |
noch während der kolonialen Nachfolgeverwaltung sei ausreichend in die | |
Insel investiert worden. „Reparationen sind eine Verpflichtung“ – | |
Entwicklungshilfe sei nur ein freiwilliger Akt. Was die Trevelyans taten, | |
sei ein Wendepunkt. Man erkenne es daran, dass andere Familien und | |
Institutionen nun nachziehen. | |
## Den Schmerz der Vergangenheit abwenden | |
Die anglikanische Kirche von Grenada hat für ein Gespräch keine Zeit. Der | |
katholische Bischof Clyde Martin Harvey, 74 und geboren auf Trinidad, | |
empfängt die taz neben seiner Kathedrale. Gut 40 Prozent der Menschen in | |
Grenada sind katholisch. Als Schwarzer in der Karibik könne er nicht | |
vergessen, dass seine Vorfahren versklavte Menschen waren, beginnt Harvey. | |
„Es ist nicht leicht, sich vom Schmerz der Vergangenheit abzuwenden.“ Er | |
spricht von seinem Stolz auf das heutige Grenada. „Wir sind wunderschön!“, | |
ruft er. | |
Er kommt auf Laura Trevelyans Initiative zu sprechen, ohne sie beim Namen | |
zu nennen. „Ist dies ein Stipendium für ein paar Leute? Oder der Anstoß | |
einer ganzen Bewegung?“ Reparationen seien nicht nur eine Frage der | |
Sklaverei und der Kolonialzeit, sondern müssten sich auf die Weiterführung | |
des Imperialismus beziehen. „Als katholischer Priester und Bischof sollte | |
ich dem allen fernbleiben, denn ich trage die Kleider des imperialen Roms. | |
Aber es macht mich hoffnungsvoll, dass einige innerhalb unserer Kirche | |
darüber nachdenken und sprechen.“ Was die Trevelyans betreffe: Sie hätten | |
es gut gemeint, aber er hätte auf das ganze Drumherum verzichten können. | |
„Das Ego ist ein fundamentaler Feind jedes Versuches wahrhafter Befreiung. | |
Wer mit Gesten kommt, sollte nicht erwarten, dass man ihm die Füße küsst.“ | |
Weder Katholiken noch Anglikaner spielten eine offizielle Rolle bei der | |
Entschuldigungszeremonie der Trevelyans. Aber die Twelve Tribes of Israel, | |
Grenadier:innen, die dem Rastafariglauben anhängen, durften ein paar | |
Gebete sprechen. In St. Paul’s auf einem Hügel nicht weit von der Stadt hat | |
sich eine Gruppe Rastafari im Hauptquartier der „Zwölf Stämme“ versammelt. | |
Ihr Gelände hat einen gepflegten Rasen, eine Freilichtbühne, eine Halle mit | |
Bar und Küche und vielen Bildern, darunter ein von dem äthiopischen Kaiser | |
Haile Selassie, den die Rastas verehren. | |
Der 67-jährige Leiter Rochel Charles trägt eine Khakiuniform mit | |
rot-gelb-grünen Insignien, dazu eine rot-gelb-grüne Mütze. Nach | |
Segenssprüchen eröffnet Charles den Abend mit einem langen Vortrag über die | |
Geschichte der Versklavten. „Sie sind nicht tot, sondern leben in mir und | |
anderen weiter“, sagt er. Der Einsatz für Reparationen sei in diesem | |
Zusammenhang zu verstehen. Das sei, was die Vorfahren wollten. „Wir fordern | |
als Rückzahlung Wohnung und genug Geld, um unser Leben zu erhalten. Wir | |
wollen zurück gehen und Afrika aufbauen, wie es in der Bibel steht“, sagt | |
Charles. Er bezeichnet Laura Trevelyan als tapfere Frau: „Wir sehen sie als | |
Funke eines Feuers, das sich durch Europa brennen wird.“ | |
## Europäer haben kein Recht auf die Ländereien | |
Was bedeutet das alles auf La Sagesse? Auf der ehemaligen Plantage stößt | |
die taz auf den 82-jährigen Winston Mitchell. Er baut ein Gewächshaus auf. | |
In Gummistiefeln und mit riesigem Strohhut rügt er gerade einen | |
Angestellten. Mitchell verließ Grenada 1961 mit einem Stipendium, er wurde | |
Arzt in den USA. 1986 kehrte er zurück. Er investierte sein Geld in den | |
Kauf großer Teile des Geländes von La Sagesse bis hin zum Strand. | |
„Landwirtschaft liegt mir im Blut“, sagt er. Der Wiederaufbau mit einer | |
Fruchtsaftfabrik lief bestens, bis Hurrikan „Ivan“ 2004 fast alles | |
zerstörte. Frustriert verkaufte er viel Land. Für sich selbst hat er vier | |
Gewächshäuser behalten. | |
„Die teuflische Sklaverei ist lange her“, sagt er. „Gespräche darüber | |
werden Grenada nicht helfen. Auch eine Entschuldigung kann die Tatsachen | |
nicht ändern!“ Mitchell hat eine andere Antwort: Harte Arbeit, gute | |
Ausbildung. „Wenn dir etwas Ungerechtes zugestoßen ist, stehe auf und | |
arbeite dich hoch!“, empfiehlt er. Eine offene Rechnung habe er trotzdem: | |
Manche Familien aus Europa besäßen bis heute Land in der Karibik und | |
wollten es nicht hergeben. „Sie haben keinerlei Recht auf diese Ländereien, | |
weil sie meine Leute unterdrückten und es immer noch tun“, schimpft | |
Mitchell. Er erzählt, dass er einmal beim Graben auf Skelette gestoßen ist: | |
Dort, wo früher die Behausungen der Versklavten gestanden hatten. | |
Mitchells ist auch die chinesische Plantage in La Sagesse ein Dorn im Auge. | |
„Ich glaube nicht, dass die Chinesen umsonst helfen“, findet er. „Es mag | |
fantastisch aussehen, aber die meisten Arbeiter und Materialien kommen aus | |
China.“ Aber Mitchell hat das Land selbst verkauft, so auch die Bucht um La | |
Sagesse an die Hotelinvestoren von Range Development. Naturschützer Andre | |
Joseph-Witzig von der Gruppe Grenada Land Actors übt scharfe Kritik: „Wir | |
sind, so heißt es, seit 1974 unabhängig. Aber was auf dem Gut geplant ist, | |
erlaubt eine neue Form von Sklaverei und Kolonialisierung am selben Ort.“ | |
In den neuen Investitionsprojekten blieben Einheimischen höchstens Jobs als | |
Dienstpersonal, fürchtet er. Bereits jetzt gebe es Streit um den Zugang zum | |
Strand. Grenada Land Actors hat eine richterliche Prüfung verlangt, weil | |
die Regierung die eigenen Gesetze und Regeln zum Umweltschutz nicht | |
einhalte. Die Investoren feiern auf ihren Webseiten Ausbildungsprogramme, | |
Investitionen in die Lebensmittelversorgung, Neupflanzungen, | |
verantwortungsvollen Umgang mit Natur und Mensch. Wer recht hat, wird sich | |
im Januar 2024 vor Gericht zeigen. Es sei alles scheinheilig, glaubt | |
Joseph-Witzig. „Während die Regierung dies zulässt, fordert sie zur selben | |
Zeit Klimareparationen.“ In La Sagesse seien nicht nur die Spuren der | |
Sklaverei zu schützen, sondern auch Spuren der vorherigen indigenen | |
Bevölkerung. Doch wenn es so weitergehe, bleibe nichts von der | |
Vergangenheit. | |
31 Aug 2023 | |
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