| # taz.de -- Neues Album von Gaika: Böser Traum Kolonialgeschichte | |
| > Der Londoner Musiker Gaika spielt auf „Drift“ mit der britischen | |
| > Geschichte. Und erzählt von einer Jugend zwischen Hiphop und Postpunk. | |
| Bild: Passt in keine Schublade: der Londoner Künstler Gaika | |
| Wer träumt, arbeitet ein Geschehen aus der Vergangenheit durch. Im Traum | |
| kommt wieder an die Oberfläche, was längst vergessen worden ist, seine | |
| Bedeutung verschiebt sich. Das neue Album des Londoner Künstlers Gaika | |
| stellt eine solche Traumarbeit musikalisch dar. „Drift“ hat es Gaika | |
| Tavarares genannt, den alle nur bei seinem Vornamen kennen. Aber der | |
| Albumtitel „Drift“ führt in die Irre. Er verspricht Wegdämmern und | |
| Abdriften. Aber zu hören ist die hoch konzentrierte Verdichtung von Gaikas | |
| akustischem Unterbewusstsein: ein Trip, bei dem die Grenzen von | |
| Soundsystemkultur, Punk und Londoner HipHop-Underground nicht mehr | |
| existieren. | |
| Sich in den Erinnerungen von Gaika zurechtzufinden ist daher nicht ganz | |
| einfach. Obwohl er Ende der nuller Jahre – damals noch in der Musikszene | |
| von Manchester [1][als Teil der HipHop-Crew Murkage] – auf sich aufmerksam | |
| machte, ist er ein stilistischer Einzelgänger geblieben. Auf seinen ersten | |
| Solomixtapes rappte Gaika mit einer tiefen, grummeligen Stimme Reime, die | |
| sich des [2][spezifischen Straßenslangs in Brixton bedienten, um | |
| schließlich im Refrain in Patois die goldene Ära jamaikanischer | |
| Reggaevokalisten aus den 1970ern] wiederauferstehen zu lassen. | |
| Seine Beats schlurften derweil durch das verhallte Niemandsland zwischen | |
| R&B, Grime und Dub. Gaikas Signaturesound ist das Produkt einer spezifisch | |
| britischen Musikkultur und passt dennoch nicht so recht in eine ihrer | |
| vieler Szenen. Die Gründe dafür liegen in Gaika Tavares’ Kindheit. Seine | |
| Eltern sind Migrant:innen der ersten Generation, in den 1960ern kamen | |
| sie von Jamaika und Grenada in die britische Hauptstadt. Beide hatten eine | |
| Hochschulausbildung und wie bei so vielen Migrant:innen jener Generation | |
| ließ sie die Allgegenwart von Rassismus in Großbritannien politisch aktiv | |
| werden. In Gaikas Südlondoner Elternhaus liefen Reggae- und Funksongs, und | |
| es standen Postkoloniale-Theorie-Klassiker von Frantz Fanon und Stuart | |
| Hall im Bücherregal. | |
| Seine Eltern hätten ihm Neugier mitgegeben, hat er neulich in einem | |
| Interview mit dem Musikmagazin The Wire erzählt, zu entdecken gab es für | |
| ihn viel: Musik im Programm der Londoner Piratensender, und in semilegalen | |
| Clubnächten gab es Battles der MCs. In den Auskennerblogs wurden alte | |
| Postpunkalben diskutiert. Und über Soundcloud eröffnete sich ihm ein | |
| weltweites Netzwerk von Schwarzen Produzent:Innen, die die Grammatik ihrer | |
| lokalen Beatszenen mit der Ortlosigkeit des Internets und einer Affinität | |
| zu Theorie und Kunst zusammenbrachten. | |
| ## Soundinstallationen zwischen Wut und Melancholie | |
| Das perfekte Umfeld für Gaika, der sich außer durch Musik auch mit | |
| Soundinstallationen ausdrückt. „War Island“, eines dieser Werke, hat er | |
| 2021 im Londoner ICA ausgestellt. Es ist eine nostalgische Meditation über | |
| die Gentrifizierung von Londons Trabantensiedlungen, eingebettet in einen | |
| Soundtrack zwischen Wut und Melancholie. | |
| Wut und Melancholie bestimmen auch die Gefühlslandschaft in den 14 Tracks | |
| auf „Drift“ und sind dabei oft nur schwer voneinander zu trennen. In | |
| „Sublime“ singt Gaika etwas selbstversunken über Breakbeats, Windspiel und | |
| Slidegitarre, im Video steht er im Sonnenuntergang in alten Ruinen auf | |
| Grenada, der karibischen Heimatinsel seiner Mutter. Es ist Nostalgie im | |
| ursprünglichen Sinne des Worts: Heimweh nach einem Ort und einer Zeit, die | |
| es so nie gegeben hat. Instrument dieser Nostalgie ist auf „Drift“ vor | |
| allem die Gitarre und nicht wie auf seinen bisherigen Alben der verhallte | |
| Beat. Als Jugendlicher nahm er Postpunkalben in der Sammlung seiner Eltern | |
| wahr. [3][In den späten 90er Jahren entdeckte er dann Nirvana für sich und | |
| fand im Grungesound der US-Rockband eine Blaupause] für Musik jenseits des | |
| Bling-HipHop, der damals im Freundeskreis angesagt war. | |
| Die verzerrten Gitarren bilden den Backdrop, vor dem Gaika auf „GUNZ“ über | |
| die Sinnlosigkeit von männlich kodiertem Wettbewerbsdenken und Gewalt | |
| singt. Auf „Lady“ wird es zum Soundtrack eines fiktiven Heist-Movies, in | |
| dem die Gastrapperin BbyMutha von der queeren DC-Comicfigur Harley Quinn | |
| schwärmt. Und auf „O Vampiro“ ist ein jaulendes Gitarrensolo die Begleitung | |
| für eine wütende Anklage der britischen Abschottungspolitik, die | |
| Bootsflüchtlinge zur Bedrohung stilisiert, die der durch Vampire | |
| gleichkomme. | |
| Vielschichtiger klingt die Musik von „Drift“, wenn Gaika die Sounds weniger | |
| eindeutig kodiert. Auf „First Among Misfits“ erzählt er gemeinsam mit der | |
| Südlondoner MC The Narrator eine Geschichte über Straßengewalt. Aber weil | |
| er darunter einen Postpunkbasslauf legt und nicht rappt, dürfte er damit | |
| kaum in den Suchfilter der britischen Justiz geraten, die Rapsongs mit den | |
| gleichen Themen gerne als Beweismittel vor Gericht einsetzt, um Schwarze zu | |
| verurteilen. Denn das Echo der britischen Kolonialvergangenheit hallt in | |
| Gaikas Musik immer nach. Vielleicht ist das die Botschaft von „Drift“: Es | |
| gibt noch viel durchzuarbeiten – auch jenseits von Träumen. | |
| 22 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
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