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# taz.de -- Sklavereigeschichte der Niederlande: Was wird der König sagen?
> Vor 150 Jahren endete die Sklaverei in den amerikanischen Kolonien der
> Niederlande. Am Samstag wird dessen gedacht. Ein Besuch in Rotterdam.
Bild: Das Sklaverei-Monument in Rotterdam
ROTTERDAM taz | „Ein Denkmal für die Sklaverei?“ Der Mann, der eben noch
sagte, er kenne sich sehr gut aus im Lloyd-Viertel, zuckt mit den
Schultern. Davon hat er noch nie gehört, entschuldigt er sich. Dabei steht
das Werk des Künstlers Alex da Silva, das vier befreite Sklaven, die Ketten
noch um die Knöchel, tanzend auf einem Schiffsrumpf darstellt, schon seit
zehn Jahren an der Neuen Maas. Einst brachen Rotterdamer Schiffe von hier
aus auf, um versklavte Menschen aus Westafrika nach Amerika zu bringen.
Mehr als 60.000 waren es, erklärt eine Tafel am Sockel. Die Hafenmetropole,
heißt es, sei zwischen 1621 und 1863 „aktiv beteiligt am niederländischen
Sklavereisystem“ und das Handelsunternehmen Coopstad en Rochussen das
„zweitgrößte seiner Zeit“ gewesen. Gewidmet ist das Denkmal allen
Rotterdammer*innen – „weil sie nicht nur die Erben der Vergangenheit
sind, sondern auch die Verantwortung für die Zukunft dieser Stadt tragen“.
Ein Kunstwerk mit erinnerungspolitischem Anspruch und eine Umgebung, die
davon nur begrenzt Kenntnis nimmt: Nicht nur in den Niederlanden ist diese
Momentaufnahme charakteristisch für den [1][Umgang mit kolonialer
Vergangenheit.] Besonders an dem Land, das zu Zeiten der transatlantischen
Sklaverei ein bedeutender Akteur war und insgesamt rund 550.000 Menschen
zwangsverschiffte, ist, dass es dieser Vergangenheit in zunehmendem Maße
gedenkt.
Am 1. Juli 1863 wurde die Sklaverei in niederländischen Kolonien
abgeschafft. Die Befreiten mussten danach jedoch noch zehn Jahre zur
Entschädigung ihrer ehemaligen Besitzer*innen auf deren Plantagen
Zwangsarbeit leisten. Daran erinnert im hiesigen Diskurs die Jahreszahl
1873, die häufig auf Buttons oder T-Shirts auftaucht. Demnach steht nun das
150-jährige Jubiläum an, weshalb auch Premier Mark Rutte bereits im
Dezember erstmals eine Entschuldigung aussprach.
## „Zerbrochene Ketten“
Im seit 1975 unabhängigen Suriname, wo viele Versklavte auf Plantagen
landeten, ist [2][Keti Koti („Zerbrochene Ketten“)] ein nationaler
Feiertag. Seit 2009 gibt es auch in den Niederlanden eine landesweite
Gedenkfeier im Amsterdamer Oosterpark. In diesem Jahr richten sich
besonders viele Blicke auf die live im TV übertragene Feier: Der König hat
sich als Redner angekündigt, und obwohl nicht offiziell bestätigt, wird
doch allgemein erwartet, dass Willem-Alexander sich für die niederländische
Rolle im transatlantischen Sklav*innenhandel entschuldigt.
„Dafür wird es auch langsam Zeit“, findet Manuela Reid. Sie ist
Rezeptionistin im Mainport Institute in Sichtweite des Denkmals, und ist,
schon aus biografischen Gründen, sehr interessiert am Thema Keti Koti. Ab
und an, sagt sie, kämen Menschen vorbei, um das an diesem Morgen völlig
verwaiste Monument zu fotografieren. Generell aber seien die Niederlande
kaum mit dem Thema Sklaverei beschäftigt. „In der Schule, in den 1980ern,
habe ich nichts darüber gelernt. Aber meine Mutter, die aus Aruba kommt,
fand, ich müsste das wissen.“ Wie arglos der Diskurs im Land vielfach noch
immer ist, zeigt sich an Reids Selbstbezeichnung: „Ich bin ein Halbblut“.
## Viel verändert
Dabei hat sich zumal in den letzten 15 Jahren vieles verändert. Derzeit
wird diskutiert, ob der 1. Juli ein nationaler Feiertag werden soll. Neben
den bekannten Gedenkveranstaltungen in Großstädten finden solche erstmals
auch in vielen kleineren Kommunen statt: Alkmaar, Apeldoorn oder
Haarlemmermeer. Unlängst erschien die Studie „Staat und Sklaverei“, die
belegt, dass das Haus Oranje umgerechnet Hunderte Millionen Euro an
Sklaverei und Kolonialismus verdiente. Willem-Alexander kündigte an, die
Rolle seiner Vorfahren aufarbeiten zu lassen, da er „eine Verantwortung
gegenüber der niederländischen Gesellschaft“ habe.
Auch Städte und Provinzen bemühen sich, [3][Zeugnis über ihre historische
Rolle abzulegen]. Als erste entschuldigte sich 2021 Rotterdam dafür. In der
vom Welthandel geprägten Hafenstadt finden sich die Spuren von
Kolonialismus und nachfolgender Migration überall – und kaum irgendwo so
deutlich wie auf der West-Kruiskade. Die Straße in Sichtweite des Bahnhofs
verbindet karibische Obstläden, surinamische und antillianische Restaurants
mit arabischen Bäckereien, Afro-Haar-Shops oder indonesische Snackbars. Am
1. Juli findet hier wie immer ein eigenes Keti Koti-Festival statt.
## „Gesellschaftlich mehr Interesse“
In der angrenzenden Middellandse Straat betreibt Guno Moussa Zwakke, 55,
das surinamische Geschäft Pangi na Tangi. Der Inhaber, der in seinem
kleinen Büro im ersten Stock empfängt, ist eine bekannte Figur in der
Stadt. Bereits 1992 organisierte er mit seinem Bruder die erste größere
Version einer 1. Juli-Feier. „Damals war sie nur auf Musik ausgerichtet. Es
kamen gleich ein paar tausend Leute“, so Moussa Zwakke, der als
Fünfjähriger aus Paramaribo nach Rotterdam zog. „Gesellschaftlich gab es
damals gar keine Aufmerksamkeit für das Thema. Es beschränkte sich auf
Nachbarschaftszentren und die Nachkommen der Versklavten.“
Nach einer Pause ist er heute wieder einer der Organisatoren von Keti
Koti-Rotterdam. „Ich freue mich, dass es gesellschaftlich nun mehr
Interesse gibt. Es ist nicht nur eine Feier, sondern verschiedene
Bevölkerungsgruppen sehen es als Teil einer gemeinsamen Geschichte.“ Dass
Moussa Zwakke zuletzt landesweit in den Medien erschien, hat freilich mit
einer persönlichen Initiative zu tun. Als einer der ersten
Rotterdamer*innen macht er Gebrauch von dem Angebot, dass Nachkommen
von Versklavten kostenlos ihren Nachnamen ändern können.
## „Verbinden, verbinden, verbinden“
Während `Zwakke` auf Lucretia Magdalena Zwak, eine ehemalige Haussklavin in
Paramaribo, zurückgeht, verweist sein selbstgewählter Name `Moussa` auf den
legendären malischen König im 14.Jahrhundert. „Sein Reich umfasste viele
Teile, aus denen heutige Surinamer*innen stammen.“ Die Botschaft, die
er damit verbindet? „Wenn Leute ihren heutigen Namen nicht ändern wollen,
ist das auch gut. Mir geht es um das Recht, darüber entscheiden zu können.
Die Versklavten konnten das nicht. Wir haben heute eine Wahl.“
Fragt man Moussa Zwakke, was der Anspruch der von ihm organisierten
Gedenkfeier ist, sagt er mit Nachdruck: „Verbinden, verbinden, verbinden!“
Dafür gibt es offenbar allen Anlass: „Heute schließen sich große Betriebe
und Institutionen an, wenn es um mehr Bewusstsein für Kolonialismus und
Sklaverei geht. Aber ich finde die Leute auf der Straße genauso wichtig.
Wie sieht es mit ihnen aus? Denken sie, dass dunkelhäutige Menschen hierher
kommen, um ihre Traditionen über den Haufen und ihre Monumente umzuwerfen?
Das kann passieren, und es passiert auch schon. In manchen Vierteln von
Rotterdam wäre man uns lieber los.“
1 Jul 2023
## LINKS
[1] /Kolonialgeschichte-der-Niederlande/!5852582
[2] /Koloniale-Vergangenheit-der-Niederlande/!5900490
[3] /Kolonialismus-Debatte-in-den-Niederlanden/!5693265
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Niederlande
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