| # taz.de -- Kolonialismus-Debatte in den Niederlanden: Sklavenhändler sind out | |
| > In den Niederlanden wurde die koloniale Vergangenheit oft als gute alte | |
| > Zeit verklärt. Nun werden auch dort Rassismus und Denkmäler zum großen | |
| > Thema. | |
| Bild: In Surinam geboren, gegen Rassismus aktiv: Marian Markel vor dem antikolo… | |
| Marian Markelo wird in diesem Jahr dabei sein. Gehüllt in ein weißes Gewand | |
| wird sie bedächtigen Schrittes um das Denkmal im Amsterdamer Oosterpark | |
| wandeln, eine Schale mit Wasser in der rechten Hand. Hier und da wird sie | |
| ein paar Tropfen daraus auf den Boden fallen lassen, ein Opfer zur Ehre der | |
| Vorfahren, „unfreiwillig zu Sklaven gemacht“. Ihre Stimme wird glockenhell | |
| sein, wenn sie singt, und scharf, wenn sie an den institutionellen | |
| Rassismus erinnert, als Erbe der Sklaverei. Und daran, dass man immer | |
| erntet, was man gesät hat. In diesem Fall „Tausende afrokaribische, | |
| afrosurinamische Niederländer, die ein Recht haben, hier zu sein.“ | |
| Marian Markelo, 65, in Surinam geboren und seit mehr als 30 Jahren in den | |
| Niederlanden lebend, spricht am Dienstagnachmittag, wenn in den | |
| Niederlanden der Abschaffung der Sklaverei gedacht wird. Nur wird es dabei | |
| kein Publikum geben. Auch das anschließende Festival ist aufgrund der | |
| Coronapandemie abgesagt worden. Aber man wird Markelo trotzdem hören. Die | |
| Veranstaltung wird live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen. | |
| Seit Wochen hängen die Plakate aus. „Gemeinsam gedenken“, steht darauf. Wie | |
| aber gedenkt ein Land, in dem Rassismus schon vor dem Mord an dem Schwarzen | |
| US-Amerikaner George Floyd ein mehr als heikles Thema war, seiner eigenen | |
| dunklen Vergangenheit? | |
| Ein paar Tage vor [1][keti koti], wie die Feierlichkeiten am 1. Juli | |
| offiziell genannt werden, ist Marian Markelo an den Ort des Geschehens | |
| gekommen. Sie sitzt auf einer Bank und blickt auf das von dem surinamischen | |
| Künstler Erwin de Vries geschaffene Monument, das sie, die Aktivistin und | |
| Priesterin der afrosurinamischen Winti-Religion, 2002 mit eingeweiht hat. | |
| Eben hat sie noch in einem Rundfunkstudio ihre Sendung zum Thema | |
| präsentiert. Am Revers ihrer Jacke ist der Button mit der Jahreszahl „1873“ | |
| befestigt. Das ganze Jahr trägt Marian Markelo ihn, um daran zu erinnern, | |
| dass die Sklaverei erst in diesem Jahr wirklich zu Ende war. „Es geht um | |
| die Verbreitung von Wissen und Bewusstsein“, sagt sie. | |
| Einerseits, findet Marian Markelo, verändert sich in letzter Zeit die Art, | |
| wie in den Niederlanden über Kolonialismus und Sklaverei diskutiert wird. | |
| „Was daran liegt, dass mehr jüngere Intellektuelle dabei allmählich andere | |
| Perspektiven aufzeigten und ihren Platz in dieser Debatte einforderten.“ | |
| Beigetragen hat dazu auch das NiNsee-Institut, als wissenschaftliches | |
| Pendant des Monuments im Oosterpark gegründet. Marian Markelo sitzt dort im | |
| Vorstand und kümmert sich um die Bereiche Bildung und Gedenken. | |
| Auch dass Mark Rutte, der Premierminister, vor einigen Wochen zugab, dass | |
| es in den Niederlanden durchaus institutionellen Rassismus gebe, bemerkt | |
| sie als einen ersten Schritt. „Endlich gehen die Ohren auf, denk ich mir | |
| dann. Wir sagen das schon lange, aber dann heißt es: ‚Das ist nur in eurem | |
| Kopf!‘ Aber für Veränderung braucht es auch Taten. Denn die jungen | |
| Generationen werden nicht nur diplomatisch auf dem Stuhl sitzen und hoffen, | |
| dass die Niederlande den Dingen endlich ins Auge sehen. Nein, die Jugend | |
| erwartet, dass man sich aktiv mit den Folgen der Vergangenheit | |
| auseinandersetzt.“ | |
| Die Black-Lives-Matter-Proteste, findet Marian Markelo, seien ein | |
| Beschleuniger dieser Entwicklung. Überrascht ist sie darüber nicht. „Ich | |
| war überzeugt, dass so etwas passiert. Noch einmal: Du erntest, was du | |
| gesät hast. Wenn du eine Gerbera in die Erde steckst, kommt dort keine | |
| Dahlie heraus.“ | |
| Zur niederländischen Ernte im Sommer 2020 zählt, dass auch hier eine | |
| Diskussion um Kolonialdenkmäler entbrannt ist. „Was das betrifft, bin ich | |
| eher lieb veranlagt“, sagt Marian Markelo. „Ich bin zufrieden, wenn dort | |
| Extrainformationen angebracht werden, die eine andere Perspektive bieten.“ | |
| ## Den Kolonialdenkmälern geht es an die Sockel | |
| Für zusätzliche Informationen sorgen in den vergangenen Wochen | |
| Aktivistengruppen. In Amsterdam haben sie das Denkmal des | |
| Generalgouverneurs von Niederländisch-Indien, Joannes van Heutsz, auch | |
| bekannt als „Schlächter von Ahec“, mit antirassistischen Losungen besprüh… | |
| In Rotterdam bedachte die Gruppe „Helden van nooit“ – „Helden von nie�… | |
| die Staue von Piet Hein, Kommandant der Westindischen Kompanie, mit den | |
| Worten „Killer“ und „Dieb“. | |
| In Den Haag trat die neu gegründete „Aliansi Merah Putih“ – | |
| „Rot-Weiße-Allianz“, eine Anspielung auf die indonesische Flagge – | |
| unübersehbar in Erscheinung. Am Standbild Johan van Oldenbarnevelts, des | |
| Mitbegründers der Vereinigten Ost-Indischen Kompanie, brachten sie Parolen | |
| an: „Kami belum lupa“ („Wir sind bereit“) und „Kami bersiap“ („Wi… | |
| nicht vergessen“) ist dort nun zu lesen. Die Gruppe stellte sich als | |
| „Töchter und Söhne“ einer Guerillagruppe der indonesischen Revolution und | |
| als „direkte Nachkommen“ von Menschen vor, die „350 Jahre von den | |
| Niederländern unterdrückt wurden“. | |
| Nach dieser Erklärung sollen die Parolen am Denkmal von Johan van | |
| Oldenbarnevelts nur der Anfang sein. Im Namen der Gerechtigkeit für die | |
| „Greueltaten während der illegalen Besetzung Indonesiens“ kündigt die | |
| Gruppe an: „Wir werden alle euren geliebten Denkmäler mit der Farbe des | |
| Bodens während der Banda-Morde gleichmachen“, heißt es in Anspielung an die | |
| blutige Eroberung der indonesischen Banda-Inseln durch die Niederlande im | |
| Jahr 1620. | |
| Die radikale Rhetorik sorgt durchaus für Aufregung. Weniger dagegen die | |
| Begründung: In der niederländischen Geschichtsschreibung werde viel unter | |
| den Teppich gekehrt und die koloniale Vergangenheit noch immer als „gute | |
| alte Zeit“ verklärt. | |
| Einen Tag später zeigte sich im Ijsselmeer-Städtchen Hoorn welches | |
| Konfliktpotential die Denkmalfrage inzwischen gewonnen hat. Einige Hundert | |
| Menschen demonstrieren gegen das Monument von Jan Pieterszoon Coen, | |
| früherer Gouverneur der Niederländischen Ostindien-Kompanie, und die | |
| „Verherrlichung der Kolonial- Vergangenheit “. Eine andere, beinahe | |
| zeitgleiche Kundgebung bekannte sich zu Coen und der niederländischen | |
| Geschichte. Es kommt zu Auseinandersetzungen und Festnahmen, die Innenstadt | |
| wird geräumt. | |
| ## Rechtspopulisten bleiben bei ihrer Verehrung | |
| Am Beispiel der Niederlande lässt sich zeigen, wie sich das zentrale Motiv | |
| der Black-Lives-Matter- Bewegung im Kontext des jeweiligen Landes | |
| darstellt. Der Konflikt um Denkmäler steht überall im Vordergrund. Hier | |
| aber hat er den gesamten Juni geprägt, der zumal in Amsterdam als “keti | |
| koti-Monat“ begangen wird. Was just in Hoorn deutlich wurde, wo das | |
| Standbild von Gouverneur Coen wenige Tage vor den Demonstrationen ganz | |
| anderen Besuch bekam: Thierry Baudet, Chef der rechtspopulistischen Partei | |
| Forum voor Democratie, legte einen Blumenstrauß am Sockel ab, um, so seine | |
| Worte, einen „nationalen Helden“ zu ehren. Die Bürger forderte er auf, | |
| Blumen zu weiteren Monumenten zu bringen. | |
| Auch ohne die Black-Lives-Matter-Bewegung findet der Kulturkampf in den | |
| Niederlanden ein immer wieder gleiches Symbol: Es ist die Brauchtumsfigur | |
| „Zwarte Piet“. Ob der schwarze Helfer von Sinterklaas, des niederländischen | |
| Nikolaus, nun rassistisch ist oder nicht, hält das Land inzwischen das | |
| ganze Jahr über auf Trab. Bei einer Demonstration in Amsterdam kündigte der | |
| Rapper und Aktivist Akwasi an, er werde Zwarte Piet – also entsprechend | |
| verkleidete Personen – im Winter „höchstpersönlich ins Gesicht treten“.… | |
| Akwasi eine Anzeige und Bedrohungen in den sozialen Medien einbrachte. | |
| Noch heftiger in der Schusslinie geriet Jerry Afriyie, ein bekanntester | |
| Aktivist der Gruppe Kick Out Zwarte Piet. Mitte Juni erhielt er einen Brief | |
| voller rassistischer Beleidigungen, unterzeichnet mit „Pegida Abteilung | |
| Nord“. “Rund um Sinterklaas, und nicht nur dann, werden wir dich überall | |
| bekämpfen“, steht dort. Auch Afriyies Mitstreiter, Frau und Kind seien | |
| fortan „nicht mehr sicher“. Am Ende des Schreibens, in Großbuchstaben am | |
| Computer erstellt, droht man Afriyie ihn und seine Familie mit Genuss | |
| „abzuschlachten“. Die Patrioten distanzierten sich umgehend, die Polizei | |
| jedoch riet dazu, das Ganze sehr ernst zu nehmen. | |
| Angesichts dessen ist es wenig überraschend, dass viele verschiedene | |
| Gruppierungen am 1. Juli gegen Rassismus protestieren wollen. In ihrem | |
| Aufruf heißt es: „Hunderte Jahre kolonialer Geschichte haben unverkennbare | |
| Spuren hinterlassen. Darum stellen wir am 1. Juli die Frage, inwiefern die | |
| Ketten eigentlich gebrochen sind, wenn wir im öffentlichen Raum mit | |
| Monumenten für koloniale Verbrecher konfrontiert werden, in den Schulbänken | |
| mit Diskriminierung und eurozentrischem Lehrstoff, auf der Straße mit | |
| ethnischem Profiling und Polizeigewalt.“ | |
| ## Anton de Kom zählt jetzt zum niederländischen Kanon | |
| Immerhin: Eine Woche vor dem Gedenktag kommt ein frischer Impuls in die | |
| Debatte. Er stammt von der Kommission, welche die 50 Themen des offiziellen | |
| historischen „Kanon der Niederlande“ zusammenstellt, der für alle Schulen | |
| verbindlich ist. In dessen Neuauflage hat es nun mit Anton de Kom erstmals | |
| ein Surinamer geschafft: ein Kommunist, Widerstandskämpfer und Autor, | |
| dessen 1934 erschienenes Werk „Wir Sklaven von Surinam“ ein Klassiker der | |
| antikolonialen Literatur ist. | |
| Eines warmen Frühsommerabends machen die Zuschauer des Senders KRO die | |
| Bekanntschaft mit einer über 90-jährigen Frau. Sie hat ein sanftes Gesicht | |
| und spricht klare Worte: Judith Allard-de Kom, die Tochter des Pioniers | |
| gegen den Rassismus. „Das Unrecht, das ihm angetan wurde, trage ich | |
| eigentlich das ganze Leben bei mir“, sagt sie. 1933 verwies das koloniale | |
| Regime Surinams de Kom des Landes und schiffte ihn mit seiner Familie in | |
| die Niederlande aus, wo er ohne reguläre Arbeit in Armut lebte. Später | |
| schloss er sich dem Widerstand gegen die Nazis an, wurde verhaftet und | |
| starb 1945 in Sandbostel, einem Außenlager des KZ Neuengamme. | |
| In Amsterdam-Zuidoost, wo viele Bewohner surinamische Wurzeln haben, steht | |
| ein Denkmal de Koms. Hoch oben auf den Treppenstufen errichtet, scheint es, | |
| als wache es über den Markt, der sich zu seinen Füßen ausbreitet. Obst und | |
| Gemüse wird hier verkauft und afrikanische Kleider. Frauen mit rollbaren | |
| Einkaufstaschen ziehen am Standbild vorbei. „Freiheitskämpfer, | |
| Widerstandsheld, Schreiber, Gewerkschafter, Aktivist, Verbannter“ ist in | |
| den Sockel graviert. „Kämpfen werde ich. Erst nach dem Sieg komme ich | |
| zurück.“ Das Denkmal, der Platz – sind das Anzeichen, dass Anton de Kom | |
| spät, aber doch noch gewinnen wird? | |
| Erica Moens, die gerade ihre Einkäufe beendet hat, ist eine der wenigen | |
| weißen Kundinnen des Markts. Die Berufsschullehrerin, die in der Nähe | |
| wohnt, hat de Koms Bücher gelesen. Auch bei keti koti-Gedenkfeiern war sie | |
| schon. Sie begrüßt es, dass man de Kom ein Denkmal errichtet hat, gerade | |
| hier“, wo viele Leute eine Geschichte mit Sklaverei haben. Wobei: Das haben | |
| wir ja eigentlich alle.“ Woran es fehlt im Land, findet Erica Moens, sei | |
| mehr Bewusstsein dafür, dass es überhaupt eine gemeinsame und doch geteilte | |
| Geschichte gebe. Eine Entschuldigung der niederländischen Regierung, das | |
| wäre zumindest ein guter Anfang. | |
| Für einen anderen Marktbesucher wiederum ist dieser Schritt weniger | |
| zentral. „Meine Vorfahren hätten davon mehr gehabt. Mir ist es wichtiger, | |
| dass die Niederländer durch ihr Handeln zeigen, dass sie bereuen, was sie | |
| uns angetan haben.“ Kevin Burney, an diesem drückend warmen Vormittag in | |
| Unterhemd, Shorts und Badeschlappen unterwegs, trägt seine langen | |
| Dreadlocks nicht umsonst. Vor 20 Jahren, als er zwölf war, lernte er die | |
| Eternity Percussion Band kennen, die aus dem Stadtteil stammt und sich | |
| längst einen Namen weit darüber hinaus gemacht hat. „Durch sie kam ich mit | |
| Black Empowerment in Kontakt.“ Gleich darauf begrüßt Burney einen Mann in | |
| buntem Anzug. „Und er war mein Lehrer.“ | |
| Kevin Burney wurde in Surinam geboren und war noch ein Baby, als seine | |
| Familie nach Amsterdam kam. Von Diskriminierungserfahrungen will er gar | |
| nicht beginnen. Weil es ihm zu stereotyp klingt. „Na klar haben sie mich | |
| Zwarte Piet gerufen, nicht nur einmal.“ Was er in seiner Percussion Band | |
| gelernt hat, ist, nach vorne zu schauen. | |
| Sein Fazit zu keti koti? „Wir haben uns nicht dafür entschieden | |
| hierherzukommen“, sagt Burney mit Blick auf die Geschichte. „Und wenn ich | |
| mir die sozialen Medien angucke, denke ich, die Rassisten sind immer noch | |
| in der Mehrheit. Aber langsam stellt sie sich ein, die Anerkennung. Ich | |
| sehe in meiner Umgebung, dass Menschen sich der Situation bewusst werden.“ | |
| Als Beispiel nennt Burney den Premier, dessen Sinneswandel in Sachen | |
| populäres Brauchtum neulich weithin für Überraschung sorgte. „Ich hätte n… | |
| gedacht, dass Mark Rutte einmal sagt, dass Zwarte Piet rassistisch sei. | |
| Natürlich, der Groschen fällt spät. Aber immerhin fällt er.“ | |
| 30 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Müller | |
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