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# taz.de -- Kindergeldaffäre in den Niederlanden: Fällt Ruttes Regierung?
> In den Niederlanden mussten Tausende Familien fälschlicherweise
> Kindergeld zurückzahlen. Viele stürzte das in den finanziellen Ruin.
Bild: Premierminister Mark Rutte will bis zur Wahl im März am Ruder bleiben
Zwei Monate vor der Parlamentswahl könnten die Niederlande ohne Regierung
dastehen. Am Freitag will Premierminister Mark Rutte nach Beratung mit
seinem Kabinett bekanntgeben, ob die Mitte-Rechts-Koalition in Den Haag im
Amt bleibt. Hintergrund ist die sogenannte Kindergeldaffäre: Zwischen 2014
und 2019 waren etwa 9.000 Familien fälschlicherweise in den Verdacht
geraten, beim Kindergeld betrogen zu haben. Ungerechtfertigterweise mussten
sie Zuschläge zurückzahlen und gerieten teilweise in schwere finanzielle
Schwierigkeiten.
Der nun drohende Rücktritt der Regierung – bestehend aus Ruttes
liberal-rechter VVD, dem christdemokratischen CDA, den liberalen D66 sowie
der calvinistischen CU – käme nicht überraschend. Aus den Reihen der
Opposition kommt heftige Kritik, seit kurz vor Weihnachten der Bericht
einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu der Affäre erschien.
Demnach ist den Opfern „beispielloses Unrecht“ wiederfahren; staatlichen
Institutionen werden zahlreiche schwerwiegende Fehler vorgeworfen, bis hin
zur Verletzung von „Grundprinzipien des Rechtsstaats“.
Welche Sprengkraft der Bericht hat, wurde noch im Dezember deutlich: Das
Finanzministerium kündete an, alle Geschädigten bis Mai mit einem Betrag
von 30.000 Euro zu kompensieren. Mehrere Anwälte bemängelten indes, der
Schaden zahlreicher Betroffener läge deutlich höher. Zudem gebe es
Klienten, die ihr Haus verloren oder sich verschuldet hätten.
Die Coronakrise, Diskussionen über den Impfbeginn [1][sowie der bis Anfang
Februar verlängerte Lockdown] kaschierten die Affäre zum Jahreswechsel.
Doch die Ruhe war nur vorübergehend: Am vergangenen Wochenende nannte
GroenLinks-Chef Jesse Klaver den Rücktritt der Koalition als einzige
mögliche Konsequenz aus dem Bericht. Er drohte ein Misstrauensvotum an für
den Fall, dass die Regierung nicht zurücktrete. Auch die linksgerichtete
SP, die rechtspopulistische PVV sowie mindestens drei kleinere
Oppositionsparteien fordern ein Abtreten der Regierung.
## Der Druck auf die Regierung nimmt weiter zu
Innerhalb der Koalition, die bei der Wahl 2017 nur eine knappe Mehrheit
bekam, ist das Vorgehen umstritten. Die VVD, unter Mark Rutte seit 2010
jeweils Seniorpartnerin in inzwischen drei Kabinetten, betrachtet einen
Rücktritt am wenigsten als zwingend. Nicht zuletzt beruft man sich auf die
Handlungsfähigkeit in der Coronakrise. Rutte hat angekündigt, bis zu der
Wahl am 17. März am Ruder bleiben zu wollen.
Die Koalitionspartner äußern sich weniger deutlich. Die Christdemokraten
wissen, dass sie und Ruttes Partei als Koalitionspartner zueinander
passen. Gleichzeitig wurde die Untersuchungskommission selbst vom
christdemokratischen Abgeordneten Chris van Dam geleitet.
Ruttes Koalitionspartner haben sich bislang weniger deutlich geäußert. Der
Druck auf die Regierung nimmt unterdessen zu. Am Donnerstag erklärte der
sozialdemokratische Fraktionschef Lodewijk Asscher, Sozialminister unter
Rutte zur Zeit der Kindergeld-Affäre, seinen Rückzug aus der Politik. Er
werde als Spitzenkandidat der Partij van de Arbeid zurücktreten. [2][In
einer Rede auf Facebook sagte Asscher], er sei sich als Minister nicht
darüber bewusst gewesen, dass die Steuerbehörde „eine unrechtmäßige Jagd
auf Tausende Familien eröffnet“ habe. Fehler zuzugeben diene der Demokratie
mehr als „taktisches Schweigen“. Seine Funktion als Abgeordneter will
Asscher bis zur Wahl weiter ausüben.
Asscher ist einer von fünf hochrangigen Politikern, gegen die Anfang der
Woche eine Sammelklage im Namen von zwanzig Opfern der Affäre eingereicht
wurde. Neben Asscher richtet sich die Klage auch gegen den aktuellen
Finanzminister Wopke Hoekstra, zugleich Spitzenkandidat der
Christdemokraten, sowie gegen Wirtschaftsminister Eric Wiebes von Ruttes
liberal-rechter VVD. Laut Anwalt Vasco Groeneveld hatten sie ausreichend
Informationen und hätten in die Praktiken der Steuerbehörde eingreifen
müssen.
15 Jan 2021
## LINKS
[1] /Coronamassnahmen-in-den-Niederlanden/!5739460
[2] https://de-de.facebook.com/LodewijkAsscher/?ref=page_internal
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Niederlande
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Kindergeld
Schwerpunkt Rassismus
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Lesestück Recherche und Reportage
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