| # taz.de -- Koloniale Vergangenheit der Niederlande: Ringen um Entschuldigung | |
| > Die niederländische Regierung will sich für die Sklaverei entschuldigen. | |
| > Doch um diesen überfälligen Schritt ist eine heftige Kontroverse | |
| > entstanden. | |
| Bild: Halten die Art der Entschuldigung für falsch: Surinamische Vertreter von… | |
| Amsterdam taz | Der 19. Dezember wird in die Geschichte der Niederlande | |
| eingehen: Erstmals will sich die Regierung für die Rolle der Niederlande | |
| während der transatlantischen Sklaverei entschuldigen. Ein entsprechender | |
| Plan wurde im November bekanntgemacht. Premier Mark Rutte wollte diesen bis | |
| zum Wochenende nicht bestätigen. Sicher ist jedoch, dass er am Nachmittag | |
| im Nationalarchiv in Den Haag offiziell auf einen Untersuchungsbericht zur | |
| niederländischen Rolle im Sklav*innenhandel reagieren wird. In diesem | |
| Rahmen wird die Entschuldigung erwartet. | |
| Rutte ist nicht das einzige Kabinettsmitglied, das in dieser Mission | |
| unterwegs ist. Franc Weerwind, Minister für Rechtsschutz, wird in | |
| Paramaribo erwartet, der Hauptstadt der einstigen Kolonie Surinam, | |
| Sozialministerin Karien van Gennip auf der Antilleninsel Bonaire, | |
| Gesundheitsminister Ernst Kuipers auf Sint Maarten. Zudem reisen vier | |
| Staatssekretär*innen nach Aruba, Curaçao, Saba und Sint Eustatius. | |
| Auf niederländischen Schiffen wurden etwa 550.000 versklavte Menschen aus | |
| Westafrika nach Amerika gebracht. Die ehemalige Kolonie Indonesien, wo die | |
| Niederlande ebenfalls Sklav*innenhandel betrieben, ist nicht Teil der | |
| Planung. | |
| Hintergrund ist, dass im kommenden Jahr in großem Stil der Abschaffung der | |
| Sklaverei gedacht werden soll. Als eine der letzten europäischen | |
| Kolonialmächte beschlossen die Niederlande dies 1863. Effektiv frei aber | |
| wurden die vormaligen Sklav*innen erst im Jahr 1873 – vor 150 Jahren. | |
| Beginnen soll das [1][Erinnerungsjahr am 1. Juli], dem Gedenktag [2][Keti | |
| Koti (Zerbrochene Ketten)]. „Die Sklavereivergangenheit ist ein sehr | |
| schmerzhafter, wichtiger und bis vor Kurzem unterbelichteter Teil unserer | |
| Geschichte“, erklärt das Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft. | |
| Das Gedenkjahr soll „langfristig das Wissen und die Verbindung in der | |
| Gesellschaft vergrößern“. | |
| ## Das goldene 17. Jahrhundert | |
| Tatsächlich war die eigene Rolle in Kolonialismus und Sklaverei in den | |
| Niederlanden lange kein Thema. In dem verzerrten Bild einer vermeintlich | |
| progressiven Vorzeigegesellschaft, das zumal in Deutschland lange | |
| existierte, spielte dieser Aspekt nie eine Rolle. Dass man sich hierzulande | |
| ohne jeden Gedanken an Sklaverei und koloniale Ausbeutung auf das „goldene“ | |
| 17. Jahrhundert bezog, verblasste aus internationaler Perspektive hinter | |
| dem Klischee des multikulturellen liberalen Musterlands. | |
| In den letzten Jahren kam jedoch Bewegung in die Sache. Die jährliche | |
| Keti-Koti-Gedenkfeier wird live im TV ausgestrahlt und nimmt deutlich mehr | |
| Raum im öffentlichen Diskurs ein. Die Frage nach einer Entschuldigung | |
| taucht in diesem Rahmen regelmäßig auf. Die vier größten Städte – | |
| Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht – gingen diesen Schritt in den | |
| letzten anderthalb Jahren. | |
| Entscheidender Faktor war der Bericht „Ketten der Vergangenheit“, den eine | |
| Expertenkommission in Auftrag der Regierung 2021 präsentierte. Dieser | |
| empfiehlt unter anderem, dass die Niederlande sich für ihre Rolle während | |
| der Sklaverei entschuldigen sollten. Die konservativen Regierungsparteien | |
| VVD und CDA waren bis dato gegen diesen Schritt, die liberalen D66 sowie | |
| die sozialcalvinistische ChristenUnie dafür. Die für Montagnachmittag in | |
| Den Haag erwartete Rede von Premier Rutte gilt offiziell als Reaktion des | |
| Kabinetts auf diesen Report. | |
| ## Für den 1. Juli | |
| Seit Bekanntwerden der Pläne ist deutlich geworden, auf welch heiklem | |
| gesellschaftlichen Terrain der Diskurs stattfindet. Mehrere surinamische | |
| und antillische Organisationen kritisieren, sie seien bei der Planung nicht | |
| miteinbezogen worden, die Regierung habe überstürzt und monolateral ihre | |
| Agenda vorangetrieben, ohne sich um die Interessen von Nachkommen der | |
| Sklav*innen zu kümmern. Zudem halten sie den 1. Juli für den geeigneteren | |
| Tag. Auch das Nationale Sklaverei-Gedenkkomitee von Surinam fordert das. | |
| Im Spätherbst fanden darum mehrere Treffen zwischen Verteter*innen | |
| dieser Organisationen mit der Regierung statt. Der Graben allerdings wurde | |
| nicht kleiner. Sechs Stiftungen, darunter „Eer en Herstel“, versuchten | |
| Anfang Dezember, per einstweiliger Verfügung einen Aufschub der | |
| Entschuldigungen zu erreichen. Vor einem vollen Gerichtssaal in Den Haag | |
| wurde die Klage verworfen – Begründung: Es handele sich um eine ethische | |
| Fragestellung und nicht um eine juristische. Die beteiligten Stiftungen | |
| wollen nun die Entschuldigungen nicht annehmen. Auch die Premierministerin | |
| von Sint Maarten, Silveria Jacobs, kündigte dies am Wochenende an. | |
| In der niederländischen Gesellschaft nahm die Unterstützung für eine | |
| Entschuldigung in den letzten beiden Jahren zu. Laut dem | |
| Meinungsforschungsinstitut I&O waren Anfang 2021 31 Prozent der Befragten | |
| dafür und 55 Prozent dagegen. Im November 2022 waren es 38:49 Prozent. Der | |
| Unterschied wird durch einen Bewusstseinswandel der nichtmigrantischen | |
| Bevölkerung erklärt. | |
| Genau auf diesen wiederum spielt Premier Rutte an, der am Fahrplan einer | |
| schnellen Entschuldigung festhalten will: Man habe nun eine | |
| gesellschaftliche „Tragfläche“ und müsse handeln, bevor diese wieder | |
| verschwinde. Damit zielt er auf die Agitation etwa der rechtspopulistischen | |
| Partij voor de Vrijheid gegen die Entschuldigung an. In den sozialen Medien | |
| beschwören identitäre User zudem ein Szenario von Reparationsbezahlungen | |
| herauf, während die Bevölkerung unter Energiekosten und Inflation ächzt. | |
| Dass von Reparationen keine Rede ist, hat Rutte dagegen mehrfach deutlich | |
| gemacht. | |
| 18 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Müller | |
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