# taz.de -- Koalitionsverhandlungen in Berlin: Ist es Liebe? | |
> Nicht nur im Bund muss sich eine Koalition finden, sondern auch in | |
> Berlin. Da setzt man bei der Partnerwahl wieder mal auf Rot-Grün-Rot. | |
Bild: Müssen zueinander kommen: Bettina Jarasch (Die Grünen), Franziska Giffe… | |
Die beiden werden wohl keine Freundinnen mehr. „[1][Bekommt Berlin bald ein | |
'Schönes-Kostümchen-Gesetz?]‘“, twitterte Monika Herrmann, scheidende | |
Bezirksbürgermeisterin aus dem widerspenstigen Friedrichshain-Kreuzberg, | |
Anfang November. Es war der zweite Tweet, in dem sich die streitbare Grüne | |
über das Outfit der Berliner SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey lustig | |
machte. Schon im August hatte Herrmann Giffey eine „Gouvernante“ genannt. | |
Freundinnen müssen die beiden allerdings auch nicht werden. Während sich | |
Giffey am 21. Dezember zur ersten Regierenden Bürgermeisterin in Berlin | |
wählen lassen will, schließt Herrmann bislang aus, einen Posten im Berliner | |
Senat zu übernehmen. Giftige Blicke und spitze Wortwechsel der beiden | |
Alphafrauen in der geplanten rot-grün-roten Senatskoalition fallen also | |
aus. | |
Doch Herrmann war nicht die Einzige, die über Giffeys Äußeres spottete. | |
„Politik, die sich in kein Kostüm zwingen lässt“, lautete der Claim eines | |
im Wahlkampf in den sozialen Medien verbreiteten Fotos der grünen | |
Spitzenkandidatin Bettina Jarasch. Jarasch und Giffey werden nun sehr wohl | |
am Senatstisch im Berliner Roten Rathaus sitzen, sollten SPD, Grüne und | |
Linke ihre Koalitionsverhandlungen erfolgreich abschließen. Kann das gut | |
gehen? | |
Schon vor mehr als zehn Jahren hat der Politikwissenschaftler Oskar | |
Niedermayer von der Freien Universität Berlin betont, dass die wichtigsten | |
Akteure eines Regierungsbündnisses nicht nur politisch zueinander passen | |
müssen. „Es wird bei Koalitionen immer unterschätzt, ob das Spitzenpersonal | |
miteinander kann“, sagte Niedermayer vor dem Hintergrund des Scheiterns der | |
Großen Koalition in Schleswig-Holstein 2009. Damals hatte | |
CDU-Ministerpräsident Peter Harry Carstensen seinen Vize Ralf Stegner (SPD) | |
unter anderem einen „notorischen Störenfried“ genannt. Zwar habe es in Kiel | |
auch „riesige Sachprobleme“ gegeben, sagte Niedermayer damals dem Berliner | |
Tagesspiegel. „Doch die gibt es immer, und die Koalition in | |
Schleswig-Holstein ist vor allem daran gescheitert, dass sich die | |
Spitzenleute nicht respektieren.“ | |
Ganz anders war es ab 2017 bei der Jamaika-Koalition im Norden. CDU, Grüne | |
und FDP respektierten einander, es gab so gut wie keine Fouls. Konflikte, | |
hieß es immer, würden intern debattiert. „Handys bleiben draußen und | |
Interna drinnen“, lautete das Rezept. Nicht Liebe also, aber eine faire | |
Partnerschaft. | |
Es ist also kein Boulevard, nicht nur über die politischen Sollbruchstellen | |
der geplanten Dreierkoalition in Berlin zu sprechen, sondern auch über die | |
Chemie zwischen Giffey und Jarasch, die sich in den Sondierungsgesprächen | |
und Koalitionsverhandlungen erst kennenlernen mussten. Dass zu diesem | |
Kennenlernen auch das Fremdeln gehört, war zu beobachten, als die Spitzen | |
der drei Parteien nach der ersten Koalitionsrunde vor die Presse getreten | |
waren. Teilnahmslos hatte SPD-Frau Giffey da in die Luft geschaut, als | |
Jarasch sprach, hatte sich ihr weder zugewandt noch genickt oder gelacht. | |
Ganz anders war die Körpersprache Giffeys gegenüber Linken-Kultursenator | |
Klaus Lederer. Ihm lächelte sie zu, beide duzten sich sogar. Das war umso | |
erstaunlicher, als Giffey nachgesagt wird, dass sie eine Koalition mit der | |
Linken unbedingt vermeiden wollte. | |
Grimmige Blicke hier, Lächeln dort. Nicht immer sind persönliche und | |
politische Sympathien deckungsgleich. Oft sind es auch Emotionen, die | |
politisches Handeln motivieren, weiß der Kulturwissenschaftler Timm | |
Beichelt von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). | |
„Sympathien und Antipathien gehören zur Politik“, sagt Beichelt, von dem | |
gerade das Buch „Homo emotionalis. Zur Systematisierung von Gefühlen in der | |
Politik“ erschienen ist. Das Gleiche gelte für den Hass und die Wut, die | |
sich gegen Politikerinnen und Politiker richteten. | |
Beichelt prophezeit, dass die Konflikte zwischen den Parteien in Berlin | |
zunehmen werden, weil SPD, Grüne und Linke, anders als etwa die ÖVP oder | |
die Grünen in Österreich, keine Milieuparteien mehr seien. „Keine der drei | |
Parteien kann mehr die verschiedenen Milieus derer, die sie wählen, | |
abdecken“, sagt Beichelt der taz. „Das ist auch der Grund, warum Personen | |
immer wichtiger werden.“ | |
Wenn aber keine der in einer Koalition vertretenen Parteien mehr mit dem | |
einen zentralen Politikfeld in Verbindung gebracht werden kann, ist die | |
bisherige Ausbalancierung von Dreierbündnissen – jeder lässt den anderen | |
auf seinem Feld machen – nicht mehr tragfähig für ein stabiles Verhältnis | |
über eine fünf Jahre lange Legislatur. | |
Egal ob Liebe oder faire Partnerschaft: Wichtig ist der Umgang miteinander. | |
Die Koalitionäre in spe haben das offenbar erkannt. Als sie nach der | |
zweiten Runde der Koalitionsverhandlungen erneut vor die Presse traten, war | |
zwar auch von einem „Gönnen können“ die Rede, etwa wenn Linken-Frontmann | |
Lederer sagt: „[2][Ich sehe bei den Zukunftsfragen bei den drei Parteien | |
spezifische Stärken.] Das zusammenzutragen, dafür sehe ich gute Chancen.“ | |
Gleichwohl haben SPD, Grüne und Linke noch ein Sicherheitsnetz gezogen und | |
einen „Kodex für gute Zusammenarbeit“ in der Präambel des | |
Koalitionsvertrags verabredet. Wie dieser aussehen könnte, schilderte Klaus | |
Lederer so: „Wenn Konflikte auftreten, wollen wir sie nicht laufen lassen | |
und dann die Scherben zusammenkehren, sondern uns frühzeitig | |
zusammensetzen“, sagte er. Das könne auch in „lockerer Atmosphäre sein“, | |
ergänzte Giffey. Soll heißen: Erfolge können nur gemeinsam erzielt werden, | |
und bei Rückschlägen soll man nicht mit dem Finger auf den anderen zeigen. | |
Regeln, die in jeder Wohngemeinschaft gelten, gelten nun, da die | |
Dreierbündnisse die Zweierkoalitionen ablösen, auch in der Politik. Auch | |
wenn es natürlich besser wäre, dass alles von alleine läuft und nicht immer | |
auf den Putzplan verwiesen werden muss. Linken-Vertreter Klaus Lederer | |
formuliert das so: „Wenn die Senatsmitglieder alle gemeinsam an einem | |
Strang ziehen, sind die politischen Effekte besser.“ Er sehe dafür eine | |
gute Grundlage. | |
Für Kulturwissenschaftler Timm Beichelt ist der „Kodex für gute | |
Zusammenarbeit“ in der Berliner Präambel ein Hinweis auf die | |
Professionalität der drei Partner. „Dass im Koalitionsvertrag | |
Frühwarnsysteme für Konflikte implementiert werden, ist ein Hinweis darauf, | |
dass die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse von Konfliktmanagement auch | |
in die Politik Einzug halten“, sagt er der taz. „Man schämt sich nicht mehr | |
dafür, das zu befolgen.“ | |
Auf einem andern Blatt steht freilich, ob dieses Konfliktmanagement auch | |
erfolgreich sein wird. Eine der großen Unbekannten dabei ist ausgerechnet | |
die designierte Regierende Bürgermeisterin. Franziska Giffey ist für viele | |
noch immer eine, zumindest landespolitisch, Unbekannte. Als eine „Blackbox“ | |
beschreiben Grüne und Linke Giffey, eine, von der man noch immer nicht | |
wisse, wofür sie stehe. | |
Auch Giffey selbst hat da in den vergangenen Monaten keine Klarheit | |
schaffen können. Schon vor einem Jahr hatte die SPD-Rechte angekündigt, | |
ihren Wahlkampf auf die Außenbezirke der Stadt konzentrieren zu wollen. Die | |
Innenstadt falle ohnehin an die Grünen, lautete die dahinterstehende | |
Analyse. In Spandau oder Marzahn-Hellersdorf könne man dagegen Wählerinnen | |
und Wähler für die SPD zurückgewinnen oder auch Nichtwähler mobilisieren. | |
Die Themen, mit denen Giffey Punkte sammeln wollte, lauteten entsprechend | |
innere Sicherheit, die Ablehnung der Vergesellschaftung privater | |
Wohnungsbestände sowie die Warnung vor einer Verkehrswende, die das Auto | |
verteufele. So sehr fischte Giffey im Lager von CDU und FDP, dass es dem | |
CDU-Spitzenkandidaten Kai Wegner mitunter zu bunt wurde. „Frau Giffey hat | |
in der Tat irgendwie gefühlt jeden Punkt übernommen“, sagte er nach der | |
Wahl bei einer CDU-Basiskonferenz. Viele, auch in der eigenen Partei, | |
unterstellten Giffey deshalb, auf eine Deutschland-Koalition mit CDU und | |
FDP hinzusteuern. | |
Aber selbst als sich herauskristallisierte, dass SPD und Grüne entweder mit | |
der FDP oder mit der Linkspartei koalieren würden, [3][kämpfte Giffey auf | |
eigene Faust]. Am Tag, an dem der Landesvorstand der SPD einstimmig | |
ergebnisoffene parallele Sondierungen mit FDP und Linkspartei beschlossen | |
hatte, twitterte sie: „Die Präferenz liegt auf dem Ampelbündnis“. | |
Es war Giffeys erster Fehler auf landespolitischer Bühne. Weil sich immer | |
mehr SPD-Kreisverbände für eine Fortsetzung der Koalition mit der Linken | |
ausgesprochen hatten, musste Giffey ihre Ampelpläne begraben. Sechs Stimmen | |
Mehrheit wären für dieses Experiment auch nicht komfortabel gewesen. Denn | |
selbst wenn sich die Spitzenleute in der Regierung näherkommen, können die | |
Animositäten in den Regierungsfraktionen bestehen bleiben. | |
Hinzu kommt, dass Franziska Giffey auch der eigenen Partei nicht ganz | |
geheuer ist. Als sie 2018 vom Bürgermeisterinnenposten in Neukölln in die | |
Bundesregierung wechselte, übersprang sie die Landesebene der Partei, auf | |
die sie nun als Landesvorsitzende und Regierende Bürgermeisterin angewiesen | |
ist. „Sie ist immer nur nach oben gefallen und musste nie moderieren“, sagt | |
ein Sozialdemokrat. Dabei habe sie auch einen autoritären Führungsstil | |
entwickelt. Nicht nur die Grünen fremdeln mit Giffey, sie ist auch der | |
eigenen Partei fremd. | |
Nun muss Giffey also mit Jarasch und Lederer können. Die inhaltlichen | |
Knackpunkte sind die aus dem Wahlkampf. Wie viele Parkplätze darf die | |
Mobilitätswende kosten? Wie umgehen mit dem erfolgreichen Volksentscheid | |
Deutsche Wohnen & Co enteignen? Um mit den Streitpunkten anders umzugehen | |
als CDU und SPD 2009 in Schleswig-Holstein, müssen sich die drei Partner | |
nicht lieben, sondern vertrauen. Ob sie das schaffen? Ungewiss. | |
Die Aufregung über den Tweet der grünen Bezirksbürgermeisterin Monika | |
Herrmann hat sich zumindest gelegt. Er sei eine ironische Reaktion auf | |
einen Auftritt Franziska Giffeys in der RBB-Talkshow „Riverboat“ gewesen, | |
erklärte Herrmann später. In der Talkshow hatte Giffey erklärt, dass ein | |
politisches Amt für sie auch bedeute, „entsprechend adäquat“ daherzukomme… | |
„Und nicht wie frisch vom Campingplatz.“ | |
14 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/MonikaHerrmann1/status/1455424045172801537?ref_src=twsr… | |
[2] /Koalitionsverhandlungen-in-Berlin/!5811837 | |
[3] /Die-Berliner-SPD-und-ihre-Wahlgewinnerin/!5802703 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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