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# taz.de -- Rot-grün-rote Koalitionsverhandlungen: Braucht Berlins Politik Vis…
> Zwischen SPD, Grünen und Linkspartei wird über viele Details verhandelt.
> Fehlt angesichts der Probleme der Stadt der große Wurf? Ein Pro und
> Contra.
Bild: Eine Erleuchtung von oben?
Ja.
Es gilt in Berlin als besonderes Ereignis, wenn etwa wie zuletzt auf der
Hermannstraße ein paar Meter Fahrbahn grün bepinselt werden. Es hat ja auch
[1][nur acht Jahre gedauert], nachdem erstmals mittels einer Petition
Fahrradstreifen auf den Neuköllner Hauptverkehrsachsen eingefordert wurden.
Das ist eine Politik der Trippelschritte. Zum Vergleich: In Paris ist
[2][Bürgermeisterin Anne Hildago dabei], in nur einer Legislaturperiode den
Individualverkehr aus der Innenstadt zu verbannen, die Hälfte der
Parkplätze in Lebensraum umzuwandeln und jede Straße mit einem Fahrradweg
auszustatten.
Der Unterschied: Anders als die handelnden politischen Akteure in Berlin
hat die Sozialdemokratin Hildago eine Vision – nämlich die „ökologische
Umwandlung der Stadt“, die sie mit aller Konsequenz und mit Mut verfolgt.
Schaut man dagegen auf die Pläne, die SPD, Grüne und Linke nun für ihre
zweiten fünf Jahre verfolgen, sieht man zwar viele kleine Vorhaben, aber
kein politisches Projekt mit Strahlkraft. Eine Ausnahme bildet der Plan,
Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden.
Doch die umfassende stadtpolitische Revolution aus dem Rathaus wird wieder
einmal ausfallen. Die Stadt wird weiter verwaltet werden; ängstlich und
stets drei Schritte hinter der Wirklichkeit und dem Notwendigen. Das,
selbstverständlich, ist kein Spezifikum Berlins oder einer
Mitte-links-Regierung, sondern landauf, landab dasselbe.
Um die Verhältnisse auch mal auf den Kopf zu stellen, fehlt den Regierenden
nicht nur die Erkenntnis, sondern auch die Courage. Man müsste Gegenwind
aushalten können, würde man etwa Autos aus dem Inneren des S-Bahn-Rings
verdrängen oder die Stadtautobahn zurückbauen wollen. Schließlich hatten
viele schon ein autobefreites Teilstück der Friedrichstraße für den
Untergang der Zivilisation gehalten. Der Mut fehlt leider schon für
flächendeckendes Tempo 30, für eine finanziell und personell untermauerte
echte Fahrrad-Offensive und für einen kostenlosen öffentlichen
Personennahverkehr oder auch nur dessen weniger mutige Variante, die 365
Euro im Jahr kosten würde.
Selbst da, wo so ein Systemwandel von den Bürger*innen erzwungen wird,
bleibt es wohl beim Klein-Klein. Dabei hätte ein Bekenntnis zu einem
Vergesellschaftungsgesetz einen großen Vorteil: Man könnte es auf die
Bürger:innen schieben. Oder noch besser: Man würde es einbetten in die
politische Vision einer Stadt, in der die Mehrzahl der Wohnungen in den
Händen gemeinwohlorientierter Akteure ist – und die gesamte
Stadtentwicklungspolitik danach ausrichten.
Rot-Grün-Rot könnte auch das segregierte Bildungssystem zugunsten von
Gemeinschaftsschulen überwinden oder eine Solidarity City sein, in der
niemand illegalisiert oder abgeschoben wird. Die Möglichkeiten echten
politischen Gestaltungswillens sind immens. Der tatsächliche Output dagegen
ist frustrierend. Erik Peter
Nein.
Visionen? In Berlin? Der Stadt, die Wahlen nicht auf die Reihe bekommt? In
der es Monate dauern kann, bis Eltern eine Geburtsurkunde für ihre
Neugeborenen erhalten? In der es eine grüne Regierungspartei im von ihr
geführten Verkehrsressort binnen fünf Jahren nicht schafft, a[3][uch nur
einen Radschnellweg fertig zu planen], geschweige denn zu bauen? Und
grundsätzlich mit mehr [4][Schutz für Radfahrer] nicht vorankommt? In der
Menschen sich an Orten, die seit Jahrzehnten ihr Wohnumfeld sind, nicht
mehr sicher fühlen? Eine Stadt, in der die Regierung [5][einen sehr
überschaubaren Neubau ihrer Zentralbibliothek plant] und dann ankündigt,
Baubeginn – nicht etwa Eröffnung – sei sieben Jahre später.
Einer solchen Stadt kann man nur sagen, was säumige Kinder zu hören
bekommen: Mach erst mal deine Hausgaben, danach kannst du spielen gehen.
Sprich: Erst mal muss Berlin funktionieren, bevor es sich Visionen leisten
kann – wobei ein wirklich funktionierendes Berlin inzwischen so wenig in
Reichweite scheint, dass es selbst schon eine Vision ist.
Leider ist zu befürchten, dass das nicht alles nur an Verwaltungsstrukturen
liegt, die zu überholen sind – etwa durch Richtlinienkompetenz für die
Bezirksbürgermeister und endlich, endlich mal einer Klärung, welche Ebene
was in Berlin macht. Der Quasiföderalismus mit den zwölf Bezirken darf
nicht länger dazu führen, dass in einzelnen Stadtgebieten dringend nötige
Neubauprojekte stagnieren – Wohnungen sind von landesweiter Bedeutung und
keine Bezirksangelegenheit.
Aber das ist es eben nicht allein. Es ist symptomatisch, wenn kurz nach den
Wahlpannen vom 26. September gleich zwei Regierungsmitglieder die Blamage
dadurch zu relativieren versuchten, indem sie darauf verwiesen, dass es in
der [6][Mehrzahl der Wahllokale doch gut gelaufen] sei. Der Anspruch auf
Perfektion und Bestleistung, er ist jenseits des Status von Freier und
Humbodlt-Universität als Exzellenz-Unis nicht sonderlich verbreitet.
Hochleistung und ihre Förderung gilt weithin als elitär und damit natürlich
als unsozial abzulehnen.
Da ist es kein Wunder, das es dann irgendwann hier ein bisschen hakt und
dort ein bisschen klemmt – was dann in Kommentaren damit schöngeredet wird,
Berlin sei „so herrlich unfertig“. Auf dieser Basis sind Visionen reine
Selbstbespaßung von Menschen, die entweder keine schulpflichtigen Kinder
oder kein anzumeldendes Auto haben, keine größere Wohnung brauchen, nicht
Rad fahren, von Natur aus nie Angst haben und denen es egal ist, dass ihre
Stadt in Restdeutschland zur Lachnummer mutiert.
Mehr denn je gilt hier der viel zitierte Satz des damaligen Bundeskanzler
Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Zum Augen- und
Ohrenarzt, wäre hinzuzufüpgen, um endlich mal besser zu sehen und zu hören,
was alles an Pflicht noch ansteht, bevor an jegliche Kür zu denken ist.
Stefan Alberti
17 Nov 2021
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## AUTOREN
Stefan Alberti
Erik Peter
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