# taz.de -- Queere Forderungen an den nächsten Senat: Weit hinterm Regenbogen | |
> Die Erwartungen queerer Träger und Clubs an den nächsten Senat sind hoch. | |
> Unklar ist, welche Rolle Queerpolitik in den Koalitionsverhandlungen | |
> spielt. | |
Bild: Feiern und fordern, so wie beim CSD im Juli 2021 in Berlin | |
BERLIN taz | Dass es in Berlin [1][kein einfaches „Weiter so“] geben dürfe, | |
hat man Franziska Giffey (SPD) im Wahlkampf oft sagen hören: etwa wenn es | |
um die Verkehrswende, die Themen innere Sicherheit oder Wohnungspolitik | |
ging. Was das aber für die Queerpolitik bedeutet, ließ die künftige | |
Regierende der Stadt, die wegen ihrer großen queeren Community und des | |
hedonistischen Nachtlebens als Regenbogenhauptstadt gilt, bisher offen. | |
Und auch das Sondierungspapier von SPD, Grünen und Linken ließ Trägerinnen | |
queerer Projekte eher verwundert zurück: In keinem der 19 Themenbereiche | |
nimmt es Bezug auf das Thema Queerpolitik. Die Arbeitsgruppe „Offene | |
Gesellschaft“ werde bei den Koalitionsverhandlungen auch queerpolitische | |
Belange besprechen, verrät auf taz-Nachfrage immerhin ein Grünen-Sprecher: | |
Genaueres könne man dazu aber noch nicht sagen. | |
Dabei könnte der neue Senat an alte Erfolge anknüpfen – wie etwa die | |
Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz | |
geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“, kurz IGSV. Hinter dem sperrigen | |
Namen verbirgt sich ein 92 Punkte umfassender Maßnahmenkatalog, [2][den R2G | |
2019 beschlossen hat]. Ziele sind unter anderem Teilhabegerechtigkeit und | |
die Auseinandersetzung mit LSBTI-Feindlichkeit. Der grüne Justizsenator | |
Dirk Behrendt, auch für Antidiskriminierung zuständig, hatte allerdings | |
bereits im Juli verkündet, die meisten Maßnahmen seien abgeschlossen oder | |
befänden sich in der Umsetzung – Berlin, so Behrendt, werde damit seinem | |
Ruf als Regenbogenhauptstadt gerecht. | |
Ist die Sache für den neuen Senat damit also erledigt? Für Träger queerer | |
Projekte oder Clubs ist sie das jedenfalls nicht. „Es gibt Unmengen zu | |
tun“, sagt etwa Ina Rosenthal, Leiterin des Rad und Tat Zentrums und des | |
Lesbenrings sowie Geschäftsführerin von Pinkdot, das queeren | |
Kreativprojekten eine Bühne bieten möchte. Sie verweist etwa auf das in der | |
IGSV vorgesehene Ziel eines queeren Kulturhauses in Berlin. „Auch der | |
Ausbau der Familienzentren für Regenbogenfamilien und die Realisierung des | |
lesbischen Wohnprojektes sind wichtige Forderungen“, so Rosenthal. | |
## Dialog erwünscht | |
Der Berlin-Brandenburger Landesverband des Lesben- und Schwulenverbands | |
(LSVD) hat sich bereits Ende September mit einem ganzen Katalog an | |
Forderungen an den künftigen Senat gewandt. Unter dem Titel „[3][Berlin | |
muss queere Hauptstadt bleiben]“ sind sieben Punkte gelistet, etwa die | |
Aufforderung zu einem klaren Bekenntnis zur IGSV, eine breite Vertretung | |
der queeren Community in Gremien, Ausschüssen und Beiräten oder das | |
Verankern queerer Inhalte als ein Bestandteil von Städtepartnerschaften. | |
Letzteres richtet sich vor allem an den Bezirk Steglitz-Zehlendorf, der | |
seit 1993 eine Partnerschaft mit der polnischen Stadt Poniatowa führt, die | |
sich jüngst zu einer sogenannten LGBT-Ideologie-freien Zone erklärt hat. | |
„Was wir gar nicht wollen, ist, dass die Partnerschaft abgebrochen wird. | |
Vielmehr soll ein Dialog stattfinden“, sagt Christopher Schreiber, Sprecher | |
des LSVD Berlin-Brandenburg. Grundsätzlich sei der LSVD aber positiv | |
gestimmt, wenn er auf die kommenden fünf Jahre blicke: „Was den Umfang der | |
Maßnahmen der IGSV anbetrifft, ist Berlin herausragend. Daran muss | |
angeknüpft werden“, so Schreiber. | |
Marcel de Groot, Geschäftsführer der Schwulenberatung, sieht den Kampf | |
gegen die Gewalt vor allem gegen trans* Menschen als eine der größten | |
Herausforderungen der nächsten Legislatur. Laut dem Anti-Gewalt-Projekt | |
Maneo gab es 2020 insgesamt 510 homo- und trans*-feindliche Angriffe in | |
Berlin. „Das ist ein Problem, wo wir alle gefragt sind. Da müssen wir uns | |
etwas ausdenken – nicht nur innerhalb des S-Bahn-Rings, sondern auch | |
außerhalb“, so de Groot. | |
Dazu wünscht sich die Schwulenberatung Obdachlosenunterkünfte für | |
lesbische, schwule, trans* und intersexuelle Personen. „Wir brauchen | |
Modellprojekte für LSBTI-Unterkünfte, wo es egal ist, ob man 13 oder 33 | |
Jahre alt ist“, so de Groot. Auch für Pflegeeinrichtungen, die sich an die | |
Bedarfe von LSBTI Menschen richten, sieht die Schwulenberatung Bedarf. De | |
Groot betont, dass er mit vielen Forderungen bisher auf offene Ohren im | |
Senat gestoßen sei: „Die Voraussetzungen sind gut, wir sind positiv | |
gestimmt.“ | |
## Die Hoffnung sei weg | |
Ganz anders ist die Stimmung bei [4][GLADT, einem Verein mit dem | |
Schwerpunkt Mehrfachdiskriminierung] und Intersektionalität, also den | |
Überschneidungen und Wechselwirkungen unterschiedlicher | |
Diskriminierungsformen. „Wir haben die Hoffnung ein bisschen verloren“, | |
sagt Rafia Shahnaz Harzer und erklärt: „Die Fördergelder sind ungleich | |
verteilt. Mit nur sechs Teilzeitstellen und einer Vielzahl an Bedarfen | |
unserer Community sind wir zu klein, um auch noch viel Zeit für Lobbyarbeit | |
einsetzen zu können.“ Die Fördergelder würden dringend benötigt: „Unsere | |
Warteliste ist lang. Wir sind eine der sehr wenigen Organisation von und | |
für queere Schwarze und People of Color, bei der jede:r mit einer | |
Peer-to-Peer-Beratung rechnen kann“, so Shahnaz Harzer. | |
Letztendlich gefördert würden aber eher größere, mehrheitlich Weiße Träge… | |
„Es fehlt uns an Fantasie, dass es in den nächsten fünf Jahre anders sein | |
wird“, sagt Shahnaz Harzer. Ein Wunsch an den neuen Senat habe GLADT | |
trotzdem: eine eigene Fachstelle bei der Landesstelle für Gleichbehandlung | |
und gegen Diskriminierung mit dem Schwerpunkt Antirassismus und | |
Intersektionalismus. | |
Die Dringlichkeit für eine diversere Förderung gelte auch für den | |
Kulturbereich, sagt Marcel Weber, [5][Geschäftsführer des queeren Clubs | |
SchwuZ] und Mitglied der Clubcommission. „Es muss eine breite Streuung | |
geben, damit auch migrantische, postmigrantische oder diasporische Gruppen | |
Zugang zu Geldern haben.“ Weil queere Kulturveranstaltungen grundsätzlich | |
auf Subventionsgelder angewiesen seien, brauche hier es eine gezielte | |
Programmförderung. | |
Während SPD, Grüne und Linkspartei derzeit den nächsten Koalitionsvertrag | |
verhandeln, ist also schon jetzt klar: Mit einem reinen Weiter-so würde | |
Berlin trotz erreichter Erfolge tatsächlich hinter dem zurückbleiben, was | |
sich von einer queeren Hauptstadt erhofft wird. | |
7 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Rot-Gruen-Rotes-Buendnis-in-Berlin/!5808187 | |
[2] /Queere-Politik-des-Landes-Berlin/!5608982 | |
[3] https://www.lsvd.de/de/ct/6019-Berlin-hat-gewaehlt-Berlin-muss-queere-Haupt… | |
[4] /Berliner-Alltagspolitikerin-Sabuha-Salaam/!5637346 | |
[5] /Erstes-Feiern-nach-dem-Lockdown/!5808552 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hartmann | |
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