# taz.de -- Neubau-Knatsch am Rande Berlins: Die Platte am Moor | |
> Im kleinen, aber komplexen Berliner Ortsteil Buch ist ein Streit zwischen | |
> Naturschützern und Senat entbrannt. Ein großes Quartier soll entstehen. | |
Bild: Kämpft für die Natur und eine sozialere Stadt: die Initiative „Buch A… | |
BERLIN taz | Gisela Neunhöffer, Marcus Bahr und Martyn Sorge von der | |
[1][Initiative Buch Am Sandhaus] stehen am Rande des Abenteuerspielplatzes | |
Moorwiese und blicken in die naturbelassene Landschaft. Auch wenn auf den | |
ersten Blick nicht viel zu sehen scheint: Der Ausblick ist spektakulär. | |
Denn hier, [2][in einem der beiden nördlichsten Ortsteile Berlins], kurz | |
vor der Stadtgrenze, findet man nicht das, was man sich „in der Stadt“ | |
darüber erzählen mag. Weder ist etwas von Plattenbautristesse zu sehen, | |
noch vom sozialen Brennpunkt zu spüren. | |
An diesem Ort ist vor allem viel Grün. Und viel Stille. Hin und wieder | |
raschelt es in den letzten Blättern, die noch an den Bäumen hängen. Und | |
plötzlich fliegt tatsächlich ein paar Kraniche über den Abenteuerspielplatz | |
Richtung Moorlinse, dem natürlichen See gleich dahinter. „Wer weiß, ob die | |
noch hier landen würden, wenn da gleich Häuser stünden“, sagt Martyn Sorge | |
und zuckt mit den Schultern. | |
Rund um den Abenteuerspielplatz in Buch soll gebaut werden, nach aktuellen | |
Plänen 2.580 Wohnungen für 6.000 bis 9.000 Menschen, Baubeginn 2024. Es | |
wird Wohnungen in Gebäuden mit fünf, acht, zehn und zwölf Geschossen geben. | |
Auf einer Gesamtfläche von etwa 80 Fußballfeldern soll hier ein | |
„lebendiges, städtebaulich attraktives und autoreduziertes Quartier“ | |
entwickelt werden, so zumindest beschreibt es die für die zuständige | |
Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen auf ihrer | |
Website. Ergänzt wird das Ganze durch Kindertagesstätten und eine neue | |
Grundschule – inklusive der Berliner Verpflichtung für Investoren, bei | |
Bauvorhaben mindestens 30 Prozent als Sozialwohnungen zu vermieten. Deren | |
Kaltmiete liegt meist bei 6,50 pro Quadratmeter. | |
## Dichte Bebauung statt Flächenfraß | |
Auf den ersten Blick scheinen sie bei diesem Quartier alles richtig gemacht | |
zu haben: dichte Bebauung statt Flächenfraß durch Einfamilienhäuser. Eine | |
direkte S-Bahnanbindung gibt es, die allerdings wegen chronischer | |
Überfüllung zu den Stoßzeiten noch häufiger getaktet werden müsste, ein | |
neuer Kiez inklusive Angerplatz und „Promenade“, die sich zur | |
Einkaufspassage auf der anderen Seite der S-Bahn öffnen und diese stärken | |
sollen. Selbst der Abenteuerspielplatz darf bleiben, dank lauter Proteste | |
bei einer Bürgerbeteiligung. | |
Martyn Sorge zuckt allerdings wieder mit den Schultern. „Die | |
Bürgerbeteiligung war Fake“, sagt er. Und: „Wir fühlen uns gemobbt.“ Die | |
Bebauung werde die Moorwiese regelrecht umzingeln. Auch zur schönen Natur | |
außen rum, die vom Abenteuerspielplatz genutzt wird, halte sie zu wenig | |
Abstand. Und es sollen über 7 Hektar Wald gerodet werden. | |
Sind das Luxusprobleme in einer Stadt, wo sich die Mieter*innen auf die | |
Füße treten? Gisela Neunhöffer von der Bürgerinitiative Am Sandhaus | |
schüttelt den Kopf. „Sie haben sich für den Entwurf entschieden, der die | |
meisten Wohnungen vorsieht. Leider ist das auch der Entwurf, der den | |
größten ökologischen Fußabdruck hätte.“ Und die Landschaft hier ist | |
wirklich einzigartig. Die Moorlinse hat sich nach der Stilllegung der | |
hiesigen Rieselfelder gebildet und gehört zum sogenannten Niedermoor. Die | |
Artenvielfalt, die sich angesiedelt hat, ist von Teichmolch zu | |
Rothalstaucher bis Blessralle imposant. | |
Das Wohnviertel Am Sandhaus in Buch ist eines von insgesamt 16 neuen | |
Quartieren, die nach den Beschlüssen der letzten Regierung Berlins unter | |
SPD, Linken und Grünen in den nächsten Jahren entstehen – zwei von ihnen | |
befinden sich innerhalb, der Rest außerhalb des S-Bahn-Rings. Ein gutes | |
Viertel der knapp 200.000 Wohnungen, die die wachsende Stadt nach | |
Berechnungen des Zuzugs vor Corona braucht, sollten seitdem gebaut werden – | |
allerdings streiten dieselben Parteien in den aktuellen | |
Koalitionsverhandlungen nun wieder über diese Zahl. Und auch die Bezirke | |
stellen sich wieder neu auf. Entschieden wurde über die Quartiere eben 2018 | |
– und damals war der Klimawandel noch nicht in aller Munde. | |
## Gelebtes Miteinander auf Stelzen | |
Wir sind inzwischen im Zentrum des Abenteuerspielplatzes gelandet und | |
werden von neugierigen Kindern umringt. Ein Mädchen läuft auf Stelzen, ein | |
anderes kommt kurz aus einem der gelben Bauwagen, wo gerade gekocht wird. | |
Wir setzen uns auf eine Art Dorfplatz. In der Moorwiese spielen sie | |
thematisch mit Erkenntnissen aus mehreren Ausgrabungen der Eisenzeit, die | |
hier in der Gegend vorgenommen wurden. Marcus Bahr bringt ein paar | |
Schaffelle, auf denen man bei dieser Kälte gut noch draußen sitzen kann. | |
Seine Kolleg*innen und er haben hier mit den Kindern Lehmhäuser und | |
einen Brunnen gebaut, üben mit ihnen alte Techniken wie Bogenschießen, | |
Zinngießen, Filzen. Überflüssig zu erwähnen, dass hier Kinder aus allen | |
sozialen Schichten zusammenkommen – die unter Status bekanntlich oft | |
etwas ganz anderes verstehen als ihre Eltern. | |
Gisela Neunhöffer erzählt, wie die [3][Initiative Am Sandhaus] entstanden | |
und wie sie zu gemeinsamen Zielen gekommen ist. „Ökologisch gesehen wäre es | |
das Sinnvollste, gar nicht zu bauen“, sagt sie. Aber da die Mieten in | |
Berlin nun mal wieder bezahlbarer werden müssen, haben sie sich das Gebiet | |
genau angesehen, haben hin und her gerechnet und sind bei etwa 1.000 | |
Wohnungen herausgekommen. „Das wäre aus unserer Sicht ökologisch und sozial | |
gerade noch verträglich“, sagt sie. „Und das, ohne Wald zu fällen, ohne d… | |
Moorlinse zu nahe zu kommen oder den Abenteuerspielplatz einzukreisen.“ | |
Naturschützer versus Baulöwen, Flora und Fauna versus Beton: Von Konflikten | |
wie diesen hat man schon oft gelesen. Das Besondere daran ist: Die | |
Initiative am Stadtrand erhält nicht nur viel Zustimmung von | |
Naturschützern, Klimaaktivisten und Stadtplanern. Hier wird es auch | |
grundsätzlich und wimmelt nur so vor kreativen Ideen: Man könnte | |
Zweckentfremdung, Spekulation und Leerstand verbieten, Wohnraum in | |
gemeinwohlorientierten Besitz rückführen, Wohnflächenbudgets einführen und | |
Ausgleichszahlungen bei Überschreitung, Wohnungstauschbörsen einrichten, | |
die auch funktionieren. Besonders seit Corona wird auch wieder lauter | |
gefordert, Büroflächen umzuwidmen. | |
Was aber auch neu ist an dieser Geschichte von einer kleinen Initiative | |
gegen die mächtige Senatsverwaltung: Hier in Buch arbeiten Alteingesessene | |
und Zugezogene in der Initiative zusammen. Hier sind die Alteingesessenen | |
nicht immer alteingesessen, und die zukünftigen Zuzügler sind auch nicht | |
unbedingt die, die als Ruhestörer angesehen werden. Neunhöffer etwa wohnt | |
selbst noch nicht lange in Buch in einem neugegründeten Wohnprojekt. Sie | |
ist froh, dass alte und neue Bucher hier gemeinsame Ziele verfolgen. Und | |
das ist in Buch mit seinen komplizierten Konfliktlinien nicht | |
selbstverständlich. | |
## Mit der Wende kam alles anders | |
Denn Buch ist ein kleiner, aber komplexer Ortsteil. Auf der einen Seite ist | |
er schon lange ein hoffnungsvoller Gesundheits- und Forschungsstandort: Die | |
ersten Kliniken entstanden hier bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, später | |
siedelten sich auch Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR an. | |
Man erzählt sich, dass hier sogar Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer | |
forschten. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden zahlreiche | |
Plattenbauten in Buch, wo, wie in der DDR üblich, auch die gebildete | |
Mittelschicht gern in die sogenannten Vollkomfortwohnungen zog. | |
Aber dann kam die Wende, und alles wurde anders. Weil die Mieten im Osten | |
noch günstiger waren, siedelten die städtischen Wohnungsbaugesellschaften | |
finanzschwache Familien aus dem Westen der Stadt in Buch an, um die Kassen | |
zu entlasten. Viele dieser Familien wohnen bis heute dort. Auch mehrere | |
Kliniken gibt es noch in Buch, auf einem Campus befindet sich unter anderem | |
ein Zentrum für Molekulare Medizin. | |
Doch die Akademiker, die hier Jobs haben, wohnen inzwischen wieder in der | |
Innenstadt, pendeln zum Arbeiten nach Buch oder ziehen in eine der neueren | |
Einfamilienhaussiedlungen in der Nähe – oder gleich in eines der drei | |
schicken Wohnquartiere, die in ehemaligen Klinikkomplexen entstanden sind. | |
Diese wirken, auch wenn sie keine sind, manchmal ein bisschen wie Gated | |
Communities. Die schicken Altbauwohnungen kosten dort inzwischen so viel | |
wie in der Innenstadt. Das ist die eine Seite von Buch, wie es heute ist. | |
Die andere Seite ist, dass die 16.000 Einwohner des Ortsteils im Vergleich | |
zum Rest Berlins relativ alt sind. Nur etwa 18 Prozent von ihnen haben | |
Migrationshintergrund – also nur halb so viele wie im berlinweiten | |
Durchschnitt. | |
## Lange Hochburg der Nazis | |
Lange galt Buch als Hochburg der Nazis im Norden. Noch 2015 demonstrierte | |
die NPD hier gegen ein Flüchtlingsheim, 2016 brannte es sogar. In der | |
Schlossparkpassage, der einzigen Einkaufsstraße Buchs, kann man müde | |
Menschen in Arbeitskleidung sehen, die sich nach Schicht die billigste | |
Nudelbox für 2,50 Euro holen, während sich am Biomarkt gegenüber die | |
parkenden Lastenräder aufreihen. | |
Nur 15 Gehminuten von zwei Privatschulen im [4][Ludwig-Hoffmann-Quartier] | |
entfernt befindet sich die Hufeland-Schule. „Das ist eine von drei Schulen | |
in Berlin“, weiß Martyn Sorge, „wo fast alle Schüler per Los hingekommen | |
sind.“ Wer in Berlin nach der Grundschule keinen Platz auf der Wunschschule | |
bekommt, muss mitunter zwangsweise durch die halbe Stadt und in | |
Problemkieze pendeln. Aufgrund sozialer Verwerfungen wie dieser erhält Buch | |
Sondermittel von der Stadt, um beispielsweise eine Volkshochschule zu | |
bauen. | |
Es knirscht und knackt also gewaltig in Buch, Entmischung auf kleinstem | |
Raum ist das Stichwort. Ob das sowohl Senat als auch Architekten bedacht | |
haben, als sie entschieden, den Ortsteil ab 2026 auf einen Schlag um 50 | |
Prozent zu vergrößern? Wie werden sich die Neuen auf ihren gespaltenen Kiez | |
einlassen? Wie wollen Architekt*innen und Senat verhindern, dass | |
zwischen zwei Ghettos nicht einfach ein neues Ghetto entsteht? | |
Viele Menschen in Buch sagen: Wer hier zu dicht baut und zu hoch, wer wenig | |
Luft und Licht dazwischen lässt, wer außerdem auch noch die Autos | |
raushalten will, der baut auch nicht für die Mittelschicht, die Buch | |
dringend braucht. Auch, wenn Gisela Neunhöffer sonst ein eher skeptischer | |
Mensch zu sein scheint: Sie ist davon überzeugt, dass es Buch auch guttun | |
würde, wenn neue Leute kämen und Wohnungen entstünden – wenn es nicht so | |
viele sind und wenn die Planung sich gut einpasst in das, was ist. Überall | |
hat die Initiative Unterschriften von Anwohner*innen gesammelt, auch | |
vor den Discountern, in allen sozialen Schichten, wie Neunhöffer sagt. „Die | |
Kritik an der Bebauungsplanung, wie sie jetzt ist, fand viel Zuspruch“, | |
sagt sie. Aber die Leute machten sich eben auch Sorgen um die knappen | |
Wohnungen und hohen Mieten. | |
Am Donnerstag haben Gisela Neunhöffer und ihre Mitstreiter*innen dem | |
Berliner Abgeordnetenhaus 4.581 Unterschriften gegen zu dichte Bebauung | |
überreicht. | |
21 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.initiative-buch-am-sandhaus.de/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Buch | |
[3] https://www.initiative-buch-am-sandhaus.de/ | |
[4] https://www.l-h-q.de/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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