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# taz.de -- Kanzlerwahl von Friedrich Merz: Wer hat ihn verraten?
> Erstmals in der Geschichte verfehlt der Kanzlerkandidat die Mehrheit.
> Erst im zweiten Wahlgang wird Friedrich Merz gewählt. Doch auch nicht von
> allen.
Bild: Allem Anfang wohnt ein Zaudern inne: Friedrich Merz nach dem gescheiterte…
Um kurz vor 10 Uhr ist Julia Klöckner anzusehen, dass etwas nicht stimmt.
Bevor die neue Bundestagspräsidentin von der CDU am Dienstagvormittag das
Ergebnis der Kanzlerwahl verkündet, rutscht sie auf ihrem Stuhl hin und
her. Wenig später schart sie die Geschäftsführer*innen der
Parlamentsfraktionen um sich. Dann spricht sie aus, was kaum jemand
erwartet hatte: Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang als Bundeskanzler
durchgefallen.
Das gesamte Plenum schweigt betreten, nicht einmal die AfD jubelt. Dass ein
designierter Kanzler nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen im
Parlament scheitert, ist in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie
vorgekommen. [1][Merz hätte 316 Stimmen gebraucht, erhielt im ersten
Wahlgang aber nur 310 Stimmen] – also 18 weniger, als die schwarz-rote
Koalition mit ihren 328 Abgeordneten im Bundestag hat.
Der CDU-Chef blickt wie versteinert. Eigentlich sollte dies sein großer Tag
werden. Doch der Weg zur Kanzlerschaft gleicht für den 69-Jährigen einer
Achterbahnfahrt: Erst nach 16 Uhr wird er im zweiten Wahlgang mit 325
Stimmen zum Kanzler gewählt. Auch das sind 3 weniger, als Union und SPD
Sitze haben.
## Merz muss Pläne ändern
Anders als geplant fährt er erst am Nachmittag ins Schloss Bellevue, um
seine Ernennungsurkunde vom Bundespräsidenten in Empfang zu nehmen.
Vorangegangen waren lange Stunden der Unsicherheit und Verhandlungen im
dritten Stock des Reichstagsgebäudes: Krisenbesprechungen der engsten
Führung der Union mit SPD-Chef Lars Klingbeil.
Der enge Flur vor Merz’ Büro war voller Journalist*innen, die
Bundestagspolizei hält mühsam einen kleinen Gang frei. Um halb elf geht die
Tür auf. Merz, Klöckner und der designierte Kanzleramtsminister Thorsten
Frei marschieren starr geradeaus, in die Sondersitzung der Fraktion. Fragen
beantworten sie keine.
Es beginnt das große Rätselraten, wer Merz auf den letzten Metern die
Gefolgschaft verweigerte. Dabei sind SPD und Union, die gemeinsam die neue
Regierungskoalition formen wollen, sehr schnell dabei, sich gegenseitig die
Schuld zuzuschieben.
In der Unionsfraktion, erzählen später Teilnehmer*innen, habe Merz gefasst
gewirkt und sei mit stehendem Applaus beklatscht worden. Die designierte
Bildungsministerin Karin Prien (CDU) sagte im Anschluss, Merz genieße die
volle Unterstützung seiner Fraktion. Sie sei von dem Abstimmungsergebnis
wirklich überrascht worden. „Wer so was macht, hat nicht verstanden, worum
es geht.“
## 120 SPDler waren da
Ähnliches hört man auch aus der SPD. Ihr Fraktionsvorsitzender Lars
Klingbeil hatte die Latte vor der Wahl hoch gelegt. Er gehe davon aus, dass
alle Abgeordneten anwesend sein und mit Ja stimmen würden, hatte er am
Montag gesagt. Der Zählappell am Dienstagmorgen ergab zumindest: Alle 120
sozialdemokratischen Parlamentarier*innen waren da.
Für den SPD-Linken Ralf Stegner ist klar: „Unsere Leute waren sich ihrer
Verantwortung sehr bewusst.“ Es gebe keine demokratische Alternative zu der
Wahl von Merz. Vorwürfe, wonach die SPD dem Regierungsprojekt und Merz die
Gefolgschaft verweigerte, weist er zurück – wie alle anderen SPDler, die
sich hier äußern.
„Die, die sich da verwählt haben, sollten sich das gut überlegen beim
zweiten Mal“, sagt Stegner. Auch die bayerische Bundestagsabgeordnete Heike
Heubach sagt: „Von uns war das niemand. In der SPD waren wir uns einig,
dass wir Verantwortung übernehmen wollen.“
Union und SPD trifft der gescheiterte erste Wahlgang unvorbereitet. Über
Stunden ist völlig unklar, wann es binnen einer Zweiwochenfrist zu einer
nächsten Kanzlerwahl kommen soll. Auch aus dem Bundestagspräsidium um
Klöckner kommen kaum Informationen über das weitere Verfahren, das im
Grundgesetz und der Geschäftsordnung des Hauses geregelt ist.
## Spahn dankt Linken
Es folgen Verhandlungen zwischen den Koalitionspartnern, aber auch mit
Grünen und Linken gehen Union und SPD ins Gespräch. Mittags um kurz nach
zwei Uhr treten dann Klingbeil und der neue Unionsfraktionschef Jens Spahn
hintereinander vor die Presse. „Wir folgen geordneten demokratischen
Verfahren, das Grundgesetz hat eine Antwort“, sagt Spahn. Man habe sich mit
Grünen und Linken verständigt, es werde am Nachmittag einen zweiten
Wahlgang geben. Spahn sagt: „Unsere Fraktion steht geschlossen hinter
Friedrich Merz.“
Es ist ein weiteres Novum, das sich an diesem Tag vollzieht: Die Union
verlässt sich für die Fristverkürzung für den zweiten Wahlgang im Bundestag
auf die Linkspartei. CDU und CSU wollen sich eigentlich per
Unvereinbarkeitsbeschluss von der Linkspartei abgrenzen und unternehmen
sonst jeden Versuch, die Linke aus Prozessen rauszuhalten. Nun bedanken
sich Spahn und der neue CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann bei Grünen
und Linken für deren Kompromissbereitschaft, um den zweiten Wahlgang
bereits am Nachmittag stattfinden zu lassen.
Noch am Nachmittag zuvor hatte Merz vollmundig verkündet, dass bei der Wahl
alle an Bord seien und dass alle zustimmen würden. Nun geht er angesichts
des gescheiterten ersten Wahlgangs zusätzlich geschwächt in seine
Kanzlerschaft.
Es scheint, dass Merz sich einfach zu sicher gewesen ist; er hat zu wenig
persönliche Gespräche geführt, zu wenig um Stimmen geworben, zu wenig
Überzeugungsarbeit geleistet. Dieser Vorwurf schallte Merz jedenfalls auch
in vorangegangenen Gesprächen immer wieder entgegen – sei es bei der
Grundgesetzänderung Anfang März mit der alten Bundestagsmehrheit, sei es
bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD.
## Auch Klingbeil war sich zu sicher
Doch auch bei den Sozialdemokraten ist sich Parteichef Klingbeil seiner
Sache vielleicht zu sicher gewesen. Es ist gut möglich, dass einige der 120
SPD-Abgeordneten Merz die Stimme verweigerten – die Liste der Verletzungen
ist schließlich lang: die Abstimmung mit der AfD im Januar, das Wettern
gegen „grüne und linke Spinner“ im Wahlkampf, der Fragebogen an die Omas
gegen Rechts und andere zivilgesellschaftliche Initiativen.
Am Montag war Merz in der SPD-Fraktionssitzung zu Gast und wurde auch auf
diese Punkte angesprochen. Teilnehmer berichteten im Anschluss, Merz habe
sich glaubhaft von AfD distanziert. „Da hat er eher noch ein paar Leute bei
uns abgeholt“, hieß es.
Auch in Richtung seiner eigenen Leute hatte Merz Vertrauen verspielt: Seine
Kehrtwende bei der Schuldenbremse steckt der Union weiterhin in den
Knochen. Zudem gab es Frust im Sozialflügel und den Ostverbänden darüber,
in dem Personaltableau der geplanten Regierung kaum berücksichtigt worden
zu sein. Und dann gibt es auch noch die, die eine Koalition mit der SPD
ablehnen und mit einer Minderheitsregierung liebäugeln.
Aber deshalb Merz im ersten Wahlgang ans Messer liefern? Intern war Merz
davor gewarnt worden, den Fraktionsvorsitz vor der Wahl abzugeben, da er
so schlechter für seine Wahl habe werben können. [2][Spahn ist am Montag zu
seinem Nachfolger gewählt worden.]
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann schaute fassungslos, als er
versuchte, sich am Vormittag vom Koalitionssaal zum Fahrstuhl durch die
wartenden Journalist*innen zu schieben. „Die Welt ist in Unruhe, Europa
braucht ein starkes Deutschland“, sagt Linnemann.
Schon für Mittwoch hatte Merz Antrittsbesuche in Paris und Warschau
geplant. In den Nachbarländern werden sie den fehlenden Rückhalt für die
geplante Regierung und die Geschehnisse im Bundestag nun mit Interesse
verfolgen – peinlich für Merz, der angekündigt hatte, mit ihm als Kanzler
werde Deutschland in der EU wieder eine zuverlässige und starke Rolle
einnehmen.
6 May 2025
## LINKS
[1] /-Liveticker-zur-Kanzlerwahl-/!6086504
[2] /Jens-Spahn/!6056803
## AUTOREN
Cem-Odos Güler
Anna Lehmann
Sabine am Orde
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