| # taz.de -- Internationale Wirtschaftsverflechtungen: Neue europäische Handels… | |
| > Die Handelsbeziehungen waren von Profit getrieben. Die Globalisierung | |
| > muss fairer und nachhaltiger werden. | |
| Bild: Der bisherige Glaubenssatz der Globalisierung erweist sich als blind und … | |
| Es herrscht Krieg in Europa. Die [1][Coronapandemie] ist nicht vorbei, die | |
| [2][Klimakrise] spitzt sich zu. Auch die Welt des internationalen Handels | |
| ist ins Stocken geraten, was die deutsche Wirtschaft zu spüren bekommt. Die | |
| Auswirkungen von gerissenen Lieferketten machen sich bemerkbar. Hohe | |
| Energie- und Lebensmittelpreise sind eine Last. Und wie sich Erderhitzung | |
| und Krieg verbinden, sehen wir gerade in Indien. | |
| Die indische Regierung, die die Versorgungslücke schließen wollte, die | |
| [3][der russische Angriffskrieg auf die Ukraine] gerissen hat, | |
| [4][verbietet die Ausfuhr von Weizen], weil eine extreme Hitzewelle die | |
| Ernteerträge des Landes bedroht. Die verschiedenen Krisen türmen sich auf | |
| ungute Weise aufeinander, teilweise verschränken sie sich. Wir leben in | |
| Erwartung weiterer Disruptionen und sehnen uns umso mehr nach der | |
| Normalität zurück. | |
| Doch eine Rückkehr zu dem, was uns als solche galt, wird es nicht geben. | |
| Wir sind gefordert, uns politisch zu überlegen, welche Normalität wir | |
| schaffen wollen. Es war keine intakte, sichere Welt, in die Pandemie und | |
| Krieg einbrachen. Wir haben uns nur eingeredet, dass wir in einer Zeit | |
| leben, in der alle Probleme gelöst sind. Und dass wir die, die kommen, mit | |
| Technik und Geld, über Märkte und Warenströme lösen können. Dass Politik da | |
| nur stört. | |
| Das war der Glaubenssatz der Globalisierung der letzten Jahrzehnte. Er | |
| erweist sich nun, da Pandemie und Krieg die Probleme ins grelle | |
| Scheinwerferlicht gestellt haben, als blind und bequem. Wir sind verletzbar | |
| und abhängig. Unsere politische Handlungsfreiheit ist eingeschränkt. Weil | |
| uns strukturelle Fehler der Vergangenheit zu abhängig von Gasimporten aus | |
| Russland gemacht haben, können wir noch kein vollständiges Gasembargo | |
| umsetzen. | |
| ## Es war nicht alles gut vor dem Krieg | |
| Beim Export sind wir stark auf einzelne Absatzmärkte angewiesen. Und die | |
| Just-in-time-Produktion, die die Lagerungskosten zu vermeiden sucht, | |
| funktioniert nicht, wenn es in der Logistik hakt. Der Grund für | |
| Verletzlichkeit und Abhängigkeit ist strukturell. Wie bei den meisten | |
| großen Problemen hat dies einen mindestens nachvollziehbaren Grund – | |
| Kostensenkung. Die Expansion des Außenhandels der letzten Jahrzehnte war | |
| stark preisgetrieben. | |
| Es galt die von der Politik durch zahlreiche Deregulierungen unterstützte | |
| Devise: Je billiger, desto besser. Davon hat Deutschland als Exportland | |
| profitiert. Vergessen hat man bei dieser preis- und wachstumsorientierten | |
| Hyperglobalisierung aber die Versorgungssicherheit und das altehrwürdige | |
| kaufmännische Prinzip der Diversifizierung, der Risikovorsorge und | |
| Vorsicht. | |
| Vielmehr hat man gehofft, eine ökonomische Verflechtung mit autoritären | |
| Regimen wie Russland oder China werde dort einen Wandel zu mehr Demokratie, | |
| mehr Bürgerrechten, mehr Freiheit auslösen. Spätestens seit der russischen | |
| Invasion in die Ukraine wissen wir: Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. | |
| Auch die Entwicklung Chinas zeigt, dass allein mehr Handel nicht | |
| zwangsläufig zu mehr Demokratie führt. So weit die deutsche Perspektive. | |
| ## Vielerorts entstand neuer Wohlstand | |
| Aber das Prinzip der Kostensenkung hat in anderen Regionen der Welt weitaus | |
| größere Schäden angerichtet. [5][Abholzung von Wäldern], [6][Ausbeutung von | |
| seltenen Rohstoffen, unsägliche Arbeitsbedingungen], Finanzkrisen und | |
| soziale Ungleichheit sind Kosten, mit denen unser Wachstum von anderen | |
| bezahlt wurde. Man kann dabei nicht verschweigen, dass andernorts auch | |
| neuer Wohlstand entstanden ist. Weniger Menschen als früher leben in Armut | |
| und Hunger, mehr Menschen haben Zugang zu Bildung und medizinischer | |
| Versorgung. Auch mehr Mädchen. | |
| Einige der früher so genannten Entwicklungsländer sind zu ökonomischen | |
| Großmächten geworden, haben eine eigene Mittelschicht. Sie definieren ihre | |
| geopolitischen Interessen. Und hinterfragen, warum sie ihre Märkte nicht | |
| vor einer Politik schützen sollen, die sie eher benachteiligt. Diese | |
| einander bedingenden Entwicklungen – die nationale wie die globale – | |
| zeigen, dass die Globalisierung, wie wir sie kannten, an ihr Ende gekommen | |
| ist. | |
| Aber es wäre falsch, jetzt der De-Globalisierung das Wort zu reden. Das | |
| hieße [7][Brexit], [8][Donald Trump] und Rückzug, Abschottung, | |
| Nationalismen und Zollkriege. Der Traum von Autarkie wäre ein Albtraum. | |
| Autarkie wäre für Deutschland auch gar nicht erreichbar. Gerade bei der | |
| sozialökologischen Transformation werden wir weiterhin auf internationalen | |
| Handel und Arbeitsteilung angewiesen sein. | |
| Die politische Aufgabe besteht darin, an der Idee einer gemeinsam geteilten | |
| Welt festzuhalten, aber ihre wirtschaftlichen Beziehungen | |
| gleichberechtigter zu organisieren. Wir müssen die Globalisierung besser, | |
| fairer und nachhaltiger machen. Dazu brauchen wir eine neue europäische | |
| Handelsagenda. | |
| ## Autarkie ist Illusion | |
| Es gilt, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich der | |
| deutsche und europäische Außenhandel breiter aufstellen kann: raus aus der | |
| Abhängigkeit von einem Land und hin zu mehr und besserer Zusammenarbeit mit | |
| anderen Ländern. Folgende Punkte sollten die Handelsagenda leiten: | |
| 1. Der strukturell beste Rahmen für Handelspolitik ist ein multilateraler | |
| nach gemeinsamen Welthandelsregeln. Diese werden durch die | |
| Welthandelsorganisation WTO gesetzt, und der größte Teil des deutschen | |
| Außenhandels findet im Rahmen der WTO-Regeln statt. Aber die WTO-Regeln | |
| müssen reformiert werden. Ob das gelingt, steht jedoch in den Sternen – | |
| China und andere verweigern sich jeder Reform. Dennoch gilt: Wir | |
| Multilateralisten wollen weiter an der Reform arbeiten. | |
| 2. Ob und wann eine WTO-Reform gelingt, ist nicht absehbar. Deshalb sind | |
| faire bilaterale Handelsabkommen nötig. Das gilt umso mehr, als wir in der | |
| neuen geopolitischen Lage gehalten sind, Bündnisse einzugehen. Wir brauchen | |
| Abkommen, um unsere Handelsbeziehungen auf mehrere Schultern zu stellen und | |
| unsere Nachhaltigkeitsstrategien effektiv zu verfolgen. Absatzmärkte müssen | |
| sich diversifizieren, Importe – Energie, Wasserstoff – ebenso. | |
| Mit US-Präsident Joe Biden etwa gibt es die Chance auf eine neue | |
| transatlantische Partnerschaft für faire Handelsbeziehungen und | |
| Klimaschutz. Die Zeit drängt: Wir stehen in Europa in systemischer | |
| Konkurrenz zu China, und China schafft Fakten. Mit dem multilateralen | |
| Freihandelsabkommen RCEP wurde Anfang des Jahres die größte Freihandelszone | |
| der Welt gegründet – aber ohne dass Klimaschutz, Sozialstandards oder | |
| Menschenrechte eine Rolle spielen. | |
| ## WTO-Regeln reformieren | |
| 3. Grundlage für ein Modell von fairen Partnerschaften, ist, dass | |
| internationale Verträge und Abkommen, etwa das Pariser Klimaschutzabkommen, | |
| das Übereinkommen zur biologischen Vielfalt oder die Kernprinzipien der | |
| Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in den Abkommen gewahrt und | |
| effektiv durchgesetzt werden müssen. | |
| Nachhaltigkeitsstandards dürfen nicht als Standards zweiter Klasse gelten – | |
| sie sind die Essenz von fairem Handel. Wir wollen ein level playing field. | |
| Produkte dürfen nicht preiswerter und damit wettbewerbsfähiger sein, weil | |
| sie auf Kinderarbeit beruhen oder weil Regeln zum Klimaschutz missachtet | |
| werden. Oder Diktatoren korrupte Taschen füllen. | |
| 4. Wir werden die Europäische Kommission dabei unterstützen, die | |
| Vereinbarungen in den Nachhaltigkeitskapiteln und ihre Durchsetzbarkeit zu | |
| stärken. Wenn Nachhaltigkeitsstandards nicht eingehalten werden, muss das | |
| genauso Konsequenzen haben wie Verstöße gegen den Rest von Handelsabkommen. | |
| Dafür sollen in den Abkommen neben Anreizen auch Schlichtungsmechanismen | |
| genutzt werden sowie die Möglichkeit, Handelsvorteile auszusetzen. | |
| 5. Außerdem braucht es mehr Transparenz und bei der Umsetzung der | |
| Freihandelsabkommen eine bessere Einbindung zivilgesellschaftlicher Gruppen | |
| und des Europaparlaments. Ausschüsse, die Handelsverträge weiterentwickeln | |
| können, müssen demokratisch legitimiert sein. | |
| 6. Investitionsschutzabkommen wurden immer wieder genutzt, um sinnvolle | |
| staatliche Regulierung auszuhebeln, was besonders Länder des globalen | |
| Südens unter Druck gesetzt hat. Aus Klimaschutzperspektive ist auch der | |
| [9][Energiecharta-Vertrag], der Investitionen in Energieprojekte absichert, | |
| einer der schädlichsten. Das Investitionsschutzsystem muss grundlegend | |
| reformiert werden. | |
| In allen Investitionsschutzabkommen sollte das Recht auf | |
| gemeinwohlorientierte Regulierung verstärkt und der Schutz für | |
| Investitionen in fossile Energieträger abgeschafft werden. | |
| Investitionsschutzabkommen müssen sich auf den Schutz vor direkter | |
| Enteignung und Diskriminierung konzentrieren, um so die missbräuchliche | |
| Anwendung des Instruments zu verhindern. | |
| ## Keine Scheu vor unilateralen Maßnahmen | |
| Wenn Klimaschutz, CO2-Bepreisung oder Kohleausstieg aufgrund von | |
| Investitionsschutzverträgen nicht mehr möglich sind, dann hat die | |
| Demokratie verloren. Diese Punkte sollten also angegangen werden. Im | |
| Übrigen sind die beschriebenen Probleme bei den Investitionsschutzklauseln | |
| auch das Kernproblem beim europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen Ceta, | |
| das bislang nur 15 der 27 EU-Staaten ratifiziert haben. | |
| 7. Unilaterale Maßnahmen müssen wir auf EU- und nationaler Ebene verstärkt | |
| in den Blick nehmen, damit wir uns bei Bedarf gegen unfaire | |
| Handelspraktiken oder die Umgehung von Nachhaltigkeitsstandards wehren | |
| können. Ein wichtiger Schritt für faire Handelsbeziehungen ist ein | |
| wirksames [10][europäisches Lieferkettengesetz], basierend auf den | |
| UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte, das kleine und mittlere | |
| Unternehmen nicht überfordert. Von ähnlicher Bedeutung ist das geplante | |
| EU-Importverbot für Produkte, die aus Zwangsarbeit entstanden sind. | |
| 8. Nationale Förderinstrumente wie die Hermesbürgschaften müssen neu | |
| ausgerichtet werden, sodass sie den Nachhaltigkeitszielen dienen und für | |
| die Diversifizierung von Handelsbeziehungen stärker nutzbar sind. | |
| Wenn wir es richtig anstellen, kann Handel zum Motor für Resilienz und | |
| Nachhaltigkeit werden. Resilient zu sein heißt, in seinem Handeln frei zu | |
| sein und schwierige Situationen besser meistern zu können, weil man sich | |
| vorbereitet hat. | |
| Das müssen wir erreichen – um ein ökonomisches Gegengewicht gegen | |
| autoritäre Regime zu schaffen und liberale Demokratien zu stärken, um klare | |
| Regeln für den Handel mit Staaten zu haben, die unsere demokratischen Werte | |
| nicht teilen, um Wohlstand und gute Arbeit in Deutschland und Europa zu | |
| erhalten. Und nicht zuletzt: um die Auswirkungen der Erderhitzung auch | |
| durch einen nachhaltigeren Außenhandel zu bekämpfen. | |
| 21 May 2022 | |
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