# taz.de -- Gewalt gegen Frauen in den Medien: Gefährliche Lücke | |
> Eine empirische Studie analysiert Berichterstattung über Gewalt gegen | |
> Frauen. Sie zeigt: Es dominieren Einzelfälle statt struktureller | |
> Probleme. | |
Bild: Installation des Künstlers Dennis Josef Meseg, Dezember 2020 in Essen | |
Die Silvesternacht 2015/2016 stellt eine Zäsur für Deutschland dar. | |
Gewaltbereite und meist betrunkene Männer beschimpften, beklauten und | |
belästigten sexuell in dieser Nacht Hunderte Frauen auf dem Platz vor dem | |
Kölner Hauptbahnhof. [1][Es folgte eine wochenlange Debatte], die letztlich | |
dazu führte, dass das Sexualstrafrecht verändert und das Asylrecht | |
eingeschränkt wurde. Und auch für die deutsche Medienlandschaft hatte das | |
Ereignis Auswirkungen. | |
Denn nach den Vorfällen wurde Kritik laut, Medien hätten wegen „politischer | |
Korrektheit“ die Herkünfte der mutmaßlichen Täter zu lange geheim gehalten. | |
[2][Diese Wahrnehmung entspricht jedoch nicht der Wahrheit]. Trotz allem | |
formulierte der Presserat im März 2017 seine Richtlinie zur | |
Herkunftsnennung um. Diese ist seitdem immer dann vorgesehen, wenn ein | |
„begründetes öffentliches Interesse“ besteht. | |
Dieses öffentliche Interesse ist zwar nicht näher definiert, doch auch | |
schon vor der Neuformulierung durch den Presserat nahm die Herkunftsnennung | |
mutmaßlicher Täter in der deutschen Medienlandschaft zu. Und nicht nur das. | |
In direkter Folge der Kölner Silvesternacht wurde oftmals das Framing | |
genutzt, sexualisierte Gewalt sei ein Problem, das von außen in die | |
deutsche Gesellschaft getragen wurde. | |
Dies ist ein Ergebnis der [3][Studie „Tragische Einzelfälle? Wie Medien | |
über Gewalt an Frauen berichten“], die am Montag von der | |
Otto-Brenner-Stiftung veröffentlicht wurde. Ob Medien zur „Verhütung“ | |
dieser Gewalttaten beitragen und die „Achtung der Würde der Opfer“ erhöhe… | |
[4][wie die Istanbul-Konvention vorschreibt], wollte die | |
Kommunikationswissenschaftlerin Christine Meltzer der Uni Mainz durch eine | |
quantitative Inhaltsanalyse herausfinden. Dafür hat sie knapp 3.500 Texte | |
aus dem Zeitraum Januar 2015 bis Juni 2019 aus deutschen Tageszeitungen | |
untersucht. Zum Untersuchungsobjekt gehörten drei Boulevardmedien, fünf | |
Lokalzeitungen aus Ost- und fünf aus Westdeutschland sowie vier | |
überregionale Zeitungen, wie die Süddeutsche Zeitung, die Welt und auch die | |
taz. | |
## Kaum Berichterstattung über marginalisierte Gruppen | |
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass je extremer die Straftat ist, desto | |
mehr darüber berichtet wird: Über Morde an Frauen wird demnach am | |
häufigsten geschrieben, Themen wie Stalking oder Nötigung finden jedoch | |
kaum Platz in den Medien. Die Häufigkeit der Gewalttaten ist laut | |
polizeilicher Kriminalstatistik aber genau anders herum. Schwierig ist das | |
deswegen, weil Gewaltformen in Beziehungen, [5][die in der Regel vor einem | |
Femizid passieren], kaum Beachtung finden. | |
Und auch ansonsten geht es selten um die Strukturen, Hilfsangebote oder | |
politische Forderungen. Stattdessen steht das Berichten vor allem von | |
Boulevard- und Lokalmedien über einzelne Fälle im Vordergrund. | |
Überregionale Medien informieren seltener über Einzelfälle, und wenn, dann | |
handelt es sich um besonders bekannte Fälle. Strukturell wird meist | |
anlassbezogen berichtet, also beispielsweise, wenn feministischer Kampftag | |
ist oder die neue Kriminalstatistik veröffentlicht wird. | |
Meltzer kritisiert in der Studie, dass die Berichterstattung meist | |
täterzentriert ist und die Betroffene nur selten im Fokus des Textes steht. | |
Sie führt an, dass „die Abwesenheit von personalisierenden Attributen | |
tendenziell zu einem erhöhten Victim Blaming beim Publikum“ führt. Zudem | |
ist es so, dass nicht gleichwertig über Opfer berichtet wird. Der Fokus | |
liegt dabei klar auf jüngeren Betroffenen, je älter die Menschen, desto | |
weniger wird berichtet. Und auch Frauen mit Behinderungen oder mit | |
Fluchterfahrung kommen selten vor – obwohl ihr Risiko, Opfer einer | |
Gewalttat zu werden, deutlich höher liegt. | |
So wird beispielsweise in weniger als ein Prozent der Fälle bei den Opfern | |
auf eine körperliche, psychische oder geistige Behinderung hingewiesen, | |
laut einer repräsentativen Studie gibt allerdings jede dritte bis vierte | |
Frau mit Behinderung an, schon einmal sexualisierte Gewalt erfahren zu | |
haben. Natürlich spielt hier das Dunkelfeld eine Rolle, ebenso wie der | |
Fakt, dass in der Berichterstattung die Behinderung vielleicht einfach | |
nicht erwähnt wird – doch ein Ungleichgewicht von realer und berichteter | |
Gewalt lässt sich trotz allem stark vermuten. | |
Ein Balanceakt für Journalist:innen | |
Insgesamt zeigt die Studie ein recht ernüchterndes Bild darüber, wie Gewalt | |
gegen Frauen in den Medien stattfindet. Statt Strukturen zu benennen und zu | |
problematisieren, werden häufiger einzelne Taten berichtet, und das meist | |
täter- statt opferzentriert. Letzteres lässt sich jedoch auch damit | |
erklären, dass der Schutz von Opfern und deren Angehörigen hohe Priorität | |
bei der Berichterstattung verdient. Zudem sind viele von Gewalt Betroffene | |
aus verständlichen Gründen nicht dazu bereit, mit der Presse zu sprechen. | |
Den Tätern nicht zu viel Raum zu geben und Opfer ins Zentrum des Textes zu | |
stellen, gleichzeitig aber den Opferschutz zu berücksichtigen, ist häufig | |
ein Balanceakt für Journalist:innen. | |
Die Studie hält zwar fest, dass die Dokumentation über Gewalt gegen Frauen | |
leicht gestiegen ist im Zeitraum von 2015 bis 2019, welche Rolle dabei | |
jedoch die 2016 entstandene [6][#MeToo-Bewegung] hat, wird leider nicht | |
berücksichtigt. | |
Eine positive Entwicklung lässt sich dann aber doch aus der Studie ablesen. | |
Wann immer Medien nach der Tötung einer Frau von [7][„Familientragödie“ | |
oder „Ehedrama“ schreiben], kritisieren Feminist:innen im Netz die | |
verharmlosenden Beschreibungen. Denn sie klingen nach einem plötzlichen | |
Schicksalsschlag und nicht nach misogyner struktureller Gewalt. Diese | |
Begriffe konnte Meltzer nur in 3 Prozent der Texte ausmachen – und sie | |
wurden zum Ende des Untersuchungszeitraumes auch immer weniger. Die | |
feministische Kritik scheint also zu wirken. Die Frage, ob das Wort | |
„Femizid“, also die Tötung einer Frau aus sexistischer Motivation, | |
mittlerweile weit verbreitet ist, bleibt leider unbeantwortet. | |
5 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Silvesternacht-in-Koeln/!5369967 | |
[2] /5-Jahre-Koelner-Silvesternacht/!5734263 | |
[3] https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten… | |
[4] /10-Jahre-Istanbul-Konvention/!5766207 | |
[5] /Sexualisierte-Gewalt/!5754805 | |
[6] /Schwerpunkt-metoo/!t5455381 | |
[7] /Mord-an-Frauen/!5628432 | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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