# taz.de -- Sexualisierte Gewalt: „Kein Land ohne Femizide“ | |
> Die Journalistinnen Laura Backes und Margherita Bettoni haben ein Buch | |
> über Femizide geschrieben. Ein Gespräch über Ursachen und Prävention. | |
Bild: Protest gegen Femizide in Berlin im Sommer 2020 am Brandenburger Tor | |
taz: Wenn eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet wird, ist in der | |
Berichterstattung häufig von „Beziehungstragödien“ oder „Eifersuchtsdra… | |
die Rede. Was ist falsch an diesen Formulierungen, Frau Bettoni und Frau | |
Backes? | |
Margherita Bettoni: Die Ausdrücke sind in erster Linie eine Verharmlosung | |
einer schrecklichen Tat. Sie lassen sie wie ein plötzliches | |
Schicksalsereignis klingen. Damit nimmt man den Täter aus der | |
Verantwortung. Und das trägt dazu bei, [1][dass Femizide als Einzelfälle | |
gesehen werden, verschleiert also die strukturelle Dimension]. Dabei gehen | |
die aus ungleichen Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern hervor, | |
also auch aus dem Irrglauben eines Mannes, er würde eine Frau besitzen, wie | |
er ein Haus oder ein Auto besitzt. | |
Nicht nur Frauen werden aufgrund ihrer Geschlechtsidentität getötet, auch | |
trans Menschen und nicht-binäre Menschen erfahren patriarchale Gewalt. Wäre | |
es nicht besser, von Patriarchatsmorden zu sprechen? | |
Laura Backes: Theoretisch würde das Sinn machen. Der Begriff „Femizid“ ist | |
in den 70ern entstanden, als es darum, ging ein Gegenteil zum Wort | |
„Homicide“ zu schaffen. Der Begriff legt zumindest mal die strukturelle | |
Dimension offen, aber perfekt ist er sicher noch nicht. | |
In der Berichterstattung schwingen häufig rassistische Untertöne mit. Wenn | |
der Täter Migrationsgeschichte hat, werden Femizide schnell zu einem | |
Problem der vermeintlich „anderen“ gemacht. Was wissen wir denn über die | |
Täter? | |
LB: Mehr Täter sind Deutsche ohne Einwanderungsgeschichte, aber im | |
Verhältnis zum Anteil der in Deutschland Lebenden sind Menschen mit | |
Einwanderungsgeschichte überrepräsentiert. Konkreter lässt sich das nicht | |
sagen, da das BKA solche Daten nicht sammelt. Doch ob ein Mann einen | |
Femizid begeht, liegt nicht an seiner Herkunft, sondern an sogenannten | |
Risikofaktoren. Dazu gehören ein patriarchales Menschenbild oder dass | |
Menschen auf Stressfaktoren wie Flucht, Vertreibung oder Gewalt mit Gewalt | |
reagieren. | |
MB: Auch der familiäre Hintergrund spielt eine Rolle: Komme ich aus einer | |
Familie, in der der Vater alle Entscheidungen getroffen hat und der Mutter | |
alle abgesprochen wurden? Ein patriarchal geprägtes Elternhaus kann dazu | |
führen, dass auch Kinder patriarchale Muster übernehmen. Doch solche | |
Elternhäuser gibt es überall und deswegen gibt es auch kein Land auf der | |
Welt, in der keine Femizide stattfinden. | |
Gibt es Muster, mit denen Femizid-Täter auffallen? | |
MB: Nicht alle, aber die Mehrheit der Täter war schon vor dem Femizid | |
psychisch oder physisch gewalttätig in der Beziehung. Die britische | |
Kriminologin Jane Monckton Smith hat ein Stufenmodell entwickelt, aus dem | |
hervorgeht, dass die meisten Täter schon früh begonnen haben, | |
kontrollierendes Verhalten auszuüben. Das kann mit Sätzen, wie „Wir werden | |
für immer zusammen sein“ oder „Du bist mein“ beginnen. In dem Moment, in | |
dem die Frau sich dann von ihrem Partner trennt, ist die Tötung der Frau | |
der ultimative Versuch die Kontrolle wiederherzustellen. | |
Eine ausweglose Situation: Frauen sollten nicht in gewaltvollen Beziehungen | |
bleiben, aber die Trennung kann ein schlimmer Trigger sein. Sind sie also | |
vollkommen machtlos? | |
LB: Das Problem ist, dass die meisten Frauen sich der Gefahr nicht bewusst | |
sind. Auch nach einer Trennung lassen sie Ex-Partner für ein klärendes | |
Gespräch oder Ähnliches in ihre Wohnung. Es ist wichtig, dass wir mehr | |
aufklären, damit Frauen besser einschätzen können, was potenziell | |
gefährliche Situationen für sie sind. Außerdem gibt es Studien, die zeigen, | |
dass Männer, die in der Regel keinen Kontakt zur Polizei haben, sich von | |
Gewaltschutzverfahren abschrecken lassen. Wenn also die Polizei vor der Tür | |
steht und sagt: Hey, wir haben Sie im Auge. Dann kann das helfen. | |
In Ihrem Buch kommen auch Frauen zu Wort, die einen Femizidversuch überlebt | |
haben. In manchen Fällen wurden dem Täter zuvor zweiwöchige Platzverweise | |
von der Polizei auferlegt. | |
MB: Man muss das Problem allumfassender angehen. Beispielsweise, dass | |
gewalttätige Männer in vielen Fällen noch das Recht haben, ihre Kinder zu | |
sehen und von zu Hause abzuholen. Das setzt Frauen einem unnötigen Risiko | |
aus. Die Polizei alleine kann Femizide auf jeden Fall nicht verhindern, | |
dafür braucht es ein gesellschaftliches Umdenken. | |
Vor einem Umdenken bräuchte es erst einmal ein Bewusstsein dafür, wie | |
allgegenwärtig Femizide in Deutschland sind, wie es das in | |
lateinamerikanischen Ländern gibt. Warum fehlt das hierzulande? | |
MB: Das liegt auch an Entscheidungsträgern. An Journalist:innen, die noch | |
immer von Familientragödien sprechen und damit den Eindruck vermitteln, es | |
würde sich um Einzelfälle handeln. Und auch die Politik benennt das Problem | |
noch nicht klar genug. Doch wie soll sich dann der Bürger eine fundierte | |
Meinung bilden? | |
LB: Das lässt sich am Beispiel Frankreichs gut erklären. Dort haben sich | |
vor einigen Jahren Angehörige zusammengetan, haben einen offenen Brief | |
geschrieben und eine Demo organisiert. Das hat bewirkt, dass Präsident | |
Macron am Abend gesagt hat: Meine Damen, wir haben es nicht geschafft, sie | |
zu schützen. Damit hat er klar gemacht, dass er verstanden hat, dass es ein | |
strukturelles Problem ist. Daraufhin musste die Politik reagieren. Was | |
würde wohl in Deutschland passieren, wenn Angela Merkel so etwas sagen | |
würde? Leider ist das unvorstellbar. | |
In Mexiko spricht man nicht von Femiziden, sondern von Feminiziden. Das | |
Wort soll aufzeigen, dass es nicht nur einen Mörder gibt, der hinter der | |
Tat steht, sondern auch einen Staat und Behörden, die diese Struktur | |
mittragen. Demnach sind Femizide Staatsverbrechen. Trifft das auch in | |
Deutschland zu? | |
MB: Die Situation dort ist eine andere als in Deutschland. Es gibt Fälle | |
wie in Juárez, wo Behörden bei Femiziden in der Vergangenheit nur schlampig | |
ermittelt haben oder die Schuld auf die Opfer geschoben haben. Dieses | |
Versagen wurde sogar vor den Interamerikanischen Gerichtshof für | |
Menschenrechte gebracht. Natürlich glaube ich auch, dass Deutschland mehr | |
Möglichkeiten hätte. Es [2][wäre etwa wichtig, ein Instrument zur Erfassung | |
von Femiziden zu schaffen], da die polizeiliche Kriminalstatistik nicht | |
ausreicht. Doch von einem Staatsverbrechen kann man nicht sprechen. | |
In Deutschland kann die Trennung des Opfers vom Täter strafmildernd wirken | |
und der Femizid als Totschlag gewertet werden. Ist das nicht juristisches | |
Versagen? | |
LB: Prinzipiell ist es ja richtig, dass man sich bei einer Tötung die | |
Vorgeschichte anguckt, wie etwaige psychische Erkrankungen. Und klar, | |
Richter sind auch nur Menschen und entwickeln vielleicht Verständnis für | |
den Täter, deswegen gibt es dieses wegweisende Urteil vom BGH von 2008. Das | |
sagt, wenn der Täter aus Verzweiflung gehandelt hat, weil die Frau sich | |
getrennt hatte, dann kann das strafmildernd sein. Wir finden das falsch, | |
Justizministerin Lambrecht findet das falsch und auch [3][die | |
Istanbul-Konvention] findet das falsch. Laut der Konvention, sollten | |
Beziehungstaten eher strafverschärfend gewertet werden. Das sollte | |
umgesetzt werden, doch von Staatsversagen zu sprechen, ist mir zu plump. | |
Wäre die Einführung von Femiziden als eigenen Strafbestand eine Option? | |
LB: Finde ich nicht. Femizide sind entweder Mord oder Totschlag, da gibt es | |
keine Gesetzeslücken. Die Einführung eines eigenen Strafbestandes wäre nur | |
Symbolpolitik. | |
MB: Dann bräuchte es noch mehr eigene Strafbestände, wie beispielsweise | |
einen für rassistisch motivierte Morde. Die aktuelle Rechtsprechung bringt | |
aber noch zu viel Verständnis für patriarchale Denkmuster mit. | |
Eine Debatte braucht Zeit. Was sind konkrete Maßnahmen, die schnell | |
ergriffen werden könnten, um Femizide zu verhindern? | |
LB: In Rheinland-Pfalz gibt es runde Tische für Hochrisikofälle von Gewalt | |
in engen Beziehungen. Dafür füllen Betroffene einen Fragebogen aus. Gab es | |
eine Steigerung der Gewalt? Oder: Hat er Sie schon einmal gewürgt? Je | |
öfters eine Frau „Ja“ ankreuzt, desto höher das Risiko. Dann kommt es zu | |
einer Fallkonferenz mit dem Jugendamt, Frauenhäusern, der | |
Krisenintervention, Polizei und Staatsanwaltschaft, die gemeinsam nach den | |
besten Möglichkeiten suchen, die Frau zu schützen. | |
Bei einer Evaluation des Pilotprojekts kam heraus, dass nach diesen | |
Interventionen nur ein Viertel der Täter wieder gewalttätig wird. Das ist | |
der richtige Weg. Gewalt unterbinden, damit es nicht zur absoluten | |
Eskalation kommt. Das bräuchte es in ganz Deutschland. Das kostet | |
natürlich, doch wir haben auch viel Geld, um gegen potenzielle Terroristen | |
vorzugehen. Das ist richtig, aber es sterben im Jahr mehr Frauen aufgrund | |
ihrer (Ex-)Partner, als es Terroropfer in Deutschland gibt. Deshalb braucht | |
es auch in diesem Bereich mehr Geld für Prävention. | |
Sie plädieren in Ihrem Buch für einen gesellschaftlichen Wandel, damit | |
Männer Frauen nicht mehr als Besitztümer begreifen. Wie kommen wir dahin? | |
MB: Da muss man schon bei Kindern ansetzen. Wie oft hört man Sätze wie: | |
Jetzt sei doch kein Mädchen, jetzt weine nicht. Es ist diese ständige | |
Unterdrückung der Gefühle. Diese Vorstellungen von Weiblichkeit und | |
Männlichkeit müssen wir abbauen, und dafür muss man so früh wie möglich | |
ansetzen. | |
In der aktuellen Debatte werden viele feministische Kämpfe als | |
„Identitätspolitik“ abgetan. Fehlt in der Gesellschaft ein Bewusstsein | |
dafür, dass Unterdrückung der Frauen auf vielen kleinen Ebenen stattfindet? | |
LB: Wenn es Kämpfe für etwas gibt, das von der bestehenden Norm abweicht, | |
gibt es Widerstand. Das ist klar. Und bis dann ein neues Bewusstsein | |
eintritt, das dauert eben. Doch ich sehe einen generellen Fortschritt in | |
der Gleichberechtigungsfrage. Es wird auch immer mehr Thema unter Frauen, | |
dass es in diesem Land keine Gleichberechtigung gibt. | |
Seit dem ersten Lockdown berichten Frauenhäuser und Not-Hotlines von mehr | |
Bedarf. Wird sich das auch auf Femizide auswirken? | |
MB: Es gibt einen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Femiziden, | |
deswegen kann es durchaus sein, dass Femizide durch die Coronakrise | |
zunehmen. Umso drängender, dass das Thema jetzt mehr Aufmerksamkeit | |
bekommt. | |
17 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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