# taz.de -- Gewalt gegen Frauen in Berlin: Femizide klar benennen | |
> June Tomiak (Grüne) fordert ein Umdenken in der Sicherheitspolitik. Dazu | |
> gehöre, Morde an Frauen als Femizide polizeilich zu erfassen. | |
Bild: Gewalt in Familien und gegen Frauen findet oft im Verborgenen statt | |
BERLIN taz | Vom 1. Januar bis zum 24. Februar 2021 erfasste die Polizei in | |
Berlin 2.243 Gewalttaten im Bereich „partnerschaftliche/innerfamiliäre | |
Gewalt“. Das ergibt sich aus einer schriftlichen Anfrage an den Senat von | |
June Tomiak, Sprecherin für Jugend, Verfassungsschutz und Strategien gegen | |
Rechtsextremismus in der Grünenfraktion. Die Anfrage ist noch | |
unveröffentlicht, liegt der taz jedoch vor. | |
Im gesamten Jahr 2020 listet die Polizeistatistik rund 15.900 Gewalttaten | |
in dem Bereich – die Tendenz ist seit Jahren steigend. Die Zahlen gehen auf | |
die polizeilichen Meldedaten zurück. Die reellen Zahlen dürften noch | |
deutlich höher sein, da nicht jede Gewalttat der Polizei gemeldet wird. | |
Tomiak sieht darin ein Problem: „Mit den Kontakten zu Frauenhäusern und | |
Beratungsstellen hätte die Senatsverwaltung noch andere Möglichkeiten | |
gehabt, um zu verdeutlichen, wie hoch [1][die Gewalt gegen Frauen ist]“, | |
sagte Tomiak der taz. Sie schätzt die Senatsverwaltung für ihre bisherige | |
Arbeit in diesem Bereich, sieht aber gleichwohl Verbesserungsbedarf. | |
Darunter fällt nach Ansicht feministischer Initiativen auch die Frage nach | |
der Zuständigkeit: Für Gewalt gegen Frauen ist die Senatsverwaltung für | |
Soziales zuständig, während Gewaltdelikte normalerweise in die | |
Zuständigkeit der Innenpolitik fallen. | |
Für June Tomiak würde außerdem eine deutliche Benennung weiterhelfen. So | |
fragt sie: „Wie steht der Senat einer Einführung des Begriffes ‚Femizid‘… | |
die polizeilichen Kriminalstatistiken gegenüber, um im Kontext von | |
Hassverbrechen gegen Frauen eine gesicherte Datenlage zu schaffen und dem | |
gesamtgesellschaftlichen, strukturellen Problem zu begegnen?“ Bislang wird | |
Gewalt gegen Frauen nicht gesondert in einer solchen Kategorie erfasst. | |
Tomiak sagte der taz: „Ich halte den Begriff Femizid für sehr, sehr | |
hilfreich.“ Wenn von partnerschaftlicher Gewalt die Rede sei, wirke es so, | |
als sei die Gewalt den persönlichen Umständen geschuldet. „Es gibt immer | |
individuelle Kontexte, das ist klar“, sagt Tomiak. „Aber der Begriff | |
‚Femizid‘ kann auch zu einer Versachlichung der Diskussion führen.“ | |
Die Senatsverwaltung verweist in ihrer Antwort auf einen bereits | |
stattfindenden Prozess: „Bundesweit gibt es Bestrebungen, eine einheitliche | |
Definition als Grundlage für die polizeiliche Erfassung und Auswertung von | |
Straftaten in Partnerschaften und Familien zu entwickeln.“ Das Land Berlin | |
beteilige sich in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Gewalt im familiären | |
Umfeld“ aktiv an diesem Prozess. Ob die Senatsverwaltung den Begriff für | |
passend hält, lässt sie offen. | |
## Polizisten als „Multifunktionstool“ | |
Perspektivisch kann sich Tomiak auch andere Maßnahmen vorstellen, um Gewalt | |
gegen Frauen systematisch zu bekämpfen: „Im Fall von Gewalt kann die | |
Polizei gerufen werden. Es stellt sich aber die Frage, ob das der alleinig | |
richtige Ansprechpartner ist.“ So müsse man darüber nachdenken, ob das | |
nicht eher Aufgabe für multiprofessionelle Teams sei, dass also | |
Sozialarbeiter:innen oder Psycholog:innen gemeinsam mit der | |
Polizei gerufen werden können. „Polizist:innen werden oft als | |
Multifunktionstool eingesetzt. Aber sie sind nicht immer die richtige | |
Antwort, wenn es gilt, den Täter vom Opfer zu trennen und Lösungen darüber | |
hinaus zu finden“, sagt Tomiak. | |
Um eine angemessene Strategie zu erdenken, bräuchte es laut Tomiak auch | |
mehr Frauen im Bereich der Innenpolitik, die sich für ein derartiges | |
Vorgehen starkmachen. „Die Bedürfnisse von Frauen werden dort nicht | |
beachtet, weil sie in der Sicherheitspolitik kaum vertreten sind“, sagt | |
Tomiak. „Dabei ist Gewalt gegen Frauen eine Riesenproblematik, die fast | |
alle Frauen persönlich betrifft.“ | |
22 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Nicole Opitz | |
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