Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 10 Jahre „Istanbul-Konvention“: Deutschland weiter mangelhaft
> Seit 2011 gibt es die Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.
> Hierzulande ist sie längst nicht umgesetzt.
Bild: Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, 25. November…
Ende April wird die Polizei in eine Wohnung in Hamburg-Horn gerufen, dort
finden sie eine durch Messerstiche im Hals getötete 40-jährige Frau.
Dringend tatverdächtig ist ihr Ehemann, er wurde in Polizeigewahrsam
genommen, die Mordkommission ermittelt. Es ist eine von vielen Frauen in
Deutschland, die dieses Jahr mutmaßlich Opfer eines [1][Femizids] geworden
ist. Also getötet wurde, weil sie eine Frau ist – oder, besser gesagt:
getötet wurde, weil der Täter frauenfeindlich ist.
[2][Laut Bundeskriminalamt] wird allein jeden dritten Tag eine Frau von
ihrem (Ex-)Partner getötet. 117 weibliche Opfer von tödlicher
Partnerschaftsgewalt nennt das BKA für 2019 – mehr als dreimal so viele wie
männliche Opfer. Hinzu kommen Tötungsdelikte, bei denen die Täter nicht aus
dem Nahverhältnis stammen. Verlässliche Zahlen zu Opfern aus sexistischen
Tatmotiven gibt es nicht, was auch daran liegt, dass Femizide kein eigener
Straftatbestand in Deutschland sind.
Femizide folgen meistens auf eine längere Eskalation von Gewalt. In den
meisten Fällen ist es zuvor zu häuslicher oder sexualisierter Gewalt
gekommen. Und die nimmt in Deutschland zu. Laut aktueller [3][Recherchen
der Welt am Sonntag] sind im vergangenen Jahr 158.477 Opfer von häuslicher
Gewalt durch den (Ex)-Partner polizeilich erfasst worden, gut zwei Drittel
der Betroffenen sind Frauen. Das entspricht einem Anstieg von 6 Prozent im
Vergleich zum Vorjahr. Doch das Dunkelfeld bei häuslicher und
sexualisierter Gewalt ist enorm – die Fälle bleiben höchstwahrscheinlich
größtenteils unsichtbar.
Dass Frauen in Deutschland nicht mehr gefährlich leben, das sollte die
sogenannte [4][Istanbul-Konvention] erreichen. Ein völkerrechtlicher
Vertrag, der vor genau zehn Jahren, am 11. Mai 2011, ausgearbeitet wurde.
Ein Meilenstein im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, der vier Dinge
garantieren soll: besseren Schutz, Prävention, Bekämpfung und Verurteilung
von Gewalt gegen Frauen und andere Menschen, die von patriarchaler Gewalt
betroffen sind. [5][46 Staaten haben die Konvention bislang unterzeichnet],
in 34 Ländern wurde sie ratifiziert.
## Erdoğan: schlimm – Deutschland: lange nicht gut
Als die Türkei im März dieses Jahres aus der Konvention ausstieg, war das
Entsetzen auch hierzulande groß. Politiker:innen empörten sich.
Erdoğans Dekret, aus der Konvention auszusteigen, ist ein misogyner und
menschenfeindlicher Akt. Das klar zu benennen ist wichtig, sich mit Frauen
und Queers in der Türkei solidarisch zu zeigen ein Muss. Ebenso wie mit
denen in Polen, wo die Konvention von vielen Seiten angegriffen wird. Denn
ein Aus für die Istanbul-Konvention bedeutet konkret eine größere Gefahr
für die Gesundheit und das Leben von Frauen und anderen Menschen, die von
patriarchaler Gewalt betroffen sind.
Doch dabei darf der Blick ins eigene Land nicht vergessen werden.
Deutschland hat zwar die Istanbul-Konvention 2017 ratifiziert, im Februar
2018 ist sie gesetzlich in Kraft getreten. Doch umgesetzt ist sie auch
jetzt, drei Jahre später, noch nicht vollständig.
Die Bundesregierung sieht das zwar anders – im September 2020
veröffentlichte sie [6][einen Bericht], in dem sie zu dem Schluss kommt,
die Konvention sei in Deutschland gesetzlich umgesetzt. Aber das
zivilgesellschaftliche Bündnis „Istanbul-Konvention“, das aus gut 20
Organisationen besteht, [7][entgegnet], dass die bisherigen
Schutzvorkehrungen noch lange nicht ausreichen. Besonders für geflüchtete,
wohnungslose und behinderte Frauen sowie LGBTIQ sei der Zugang zu
Prävention, Schutz, Beratung und Recht noch mangelhaft.
In Deutschland fehlt beispielsweise noch immer eine Koordinierungsstelle,
wie sie der Vertrag vorschreibt. Ebenso fehlen Tausende Frauenhausplätze,
wirksamere Maßnahmen gegen digitale Gewalt, sensiblere Ermittlungsmethoden
bei geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Forschung und belastbare Daten zu
Gewalt gegen Frauen, Kinder und Queers.
## Es spitzt sich zu
Wie schwerwiegend die fehlende Umsetzung der Konvention ist, hat in den
vergangenen Monaten die Covidpandemie gezeigt, in der die Situation von
Frauen und LGBTIQ sich noch einmal verschlechtert hat. Nicht nur finanziell
und psychisch, auch hinsichtlich Gewalt hat sich die Lage deutlich
zugespitzt, das lassen Berichte von Frauenhäusern, Notruftelefonen und
[8][Untersuchungsstellen] erahnen, wie auch die um 6 Prozent gestiegene
Zahl von angezeigten Fällen häuslicher Gewalt.
Gerade jetzt also müsste dies höchste Priorität haben. Im Jahr der
Bundestagswahl sollten Politiker:innen zeigen, dass das Bekämpfen von
Gewalt gegen Frauen nicht nur eine Floskel ist. Dazu gehört die Umsetzung
der notwendigsten Maßnahmen, die aus der Konvention hervorgehen. Doch wer
ausreichenden Schutz vor Gewalt gewährleisten möchte, muss darüber
hinausgehen. Es geht grundsätzlich um eine Politik, die Frauen und Queers
schützt und von der übrigens auch hetero cis Männer profitieren würden.
Feminist:innen fordern seit Langem, dass mit gesetzlichen Änderungen
ein gesellschaftliches Umdenken einhergehen muss. Ein Abbau von Stereotypen
und patriarchalen Denkmustern, denen folgend viele Männer Frauen als ihr
Eigentum ansehen. Das passiert nicht von alleine. Bei jeder politischen
Entscheidung muss der Schutz von Frauen und Queers mitgedacht werden. Auch
bei Themen, bei denen der geschlechtsspezifische Aspekt nicht auf den
ersten Blick sichtbar wird.
## Wohin, wenn sie ihn verlassen will?
Nur ein Beispiel: Das eigene Zuhause ist für Frauen noch immer der
gefährlichste Ort, da die Täter meist aus dem Nahbereich stammen, also
(Ex-)Partner, Väter oder andere Verwandte sind. Grundlegend für ein
gewaltfreies Leben ist damit also ein sicheres eigenes Zuhause.
„Wenn dein Mann dich schlägt, dann verlass ihn doch einfach“ ist ein
Argument, das einem in dieser Problematik immer wieder unterkommt. Doch
neben dem emotionalen Aspekt vergessen hier diese Menschen vor allem den
finanziellen. Damit eine Frau ihren gewalttätigen Mann verlassen kann,
braucht sie das nötige Kapital.
Ökonomische Unabhängigkeit muss also hergestellt werden, bevor es überhaupt
zu Gewalt kommt, dafür sind bessere Sozialhilfen nötig, Rentenpolitik gegen
Altersarmut und Quoten am Arbeitsmarkt. Was patriarchale Rollen hingegen
zementiert, muss weg, etwa das Ehegattensplitting. Und schließlich, aber
nicht abschließend: Wohnraumpolitik ist grundlegend. Wer sich keinen
eigenen leisten kann, bleibt in der Gewaltspirale gefangen – ein sicheres
eigenes Zuhause hingegen ist eines der wirksamsten Mittel, um Frauen zu
schützen. Die Forderung nach einem [9][bundesweiten Mietendeckel] ist also
im Kern auch eine feministische.
11 May 2021
## LINKS
[1] /Femizide-in-Deutschland/!5728408
[2] https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndL…
[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/article230983679/Zahl-der-Opfer-hae…
[4] /Haeusliche-Gewalt/!5760958
[5] https://www.unwomen.de/informieren/internationale-vereinbarungen/die-istanb…
[6] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/160138/6ba3694cae22e5c9af6645f7d743d585…
[7] https://www.buendnis-istanbul-konvention.de/alternativbericht-buendnis-ista…
[8] /Haeusliche-Gewalt-in-Pandemiezeiten/!5750917
[9] /Reaktionen-auf-gekippten-Mietendeckel/!5760661
## AUTOREN
Carolina Schwarz
## TAGS
Istanbul-Konvention
Gender
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
GNS
Gewalt gegen Frauen
häusliche Gewalt
Frauenhäuser
Schwerpunkt Femizide
Schwerpunkt Femizide
Spanien
Schwerpunkt #metoo
Abschiebung
Österreich
Türkei
häusliche Gewalt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Statistik zu Frauenhäusern: Keine Kapazitäten, weiterhin Gewalt
2021 suchten weniger Frauen Schutz in Frauenhäusern. Nicht wegen weniger
Gewalttaten, sondern wegen geringerer Kapazitäten in den
Schutzeinrichtungen.
Beirat gegen sexualisierte Gewalt: Betroffene als Expert*innen
Bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention fragt Bremen auch Opfer von
Partnerschaftsgewalt. Zehn von ihnen engagieren sich im Beirat.
Femizide in Österreich: Tödliches Pflaster für Frauen
17 Femizide wurden 2021 in Österreich verübt. Gleichzeitig werden
Fallkonferenzen seltener und es fehlt Geld für Frauenhäuser und
Initiativen.
Sexualstrafrecht in Spanien: Nur Ja heißt künftig wirklich Ja
Ein neues Gesetz soll Frauen in Spanien vor sexuellen Übergriffen schützen
– und ihre Wehrhaftigkeit vor Gericht. Das Land zählt zu den Vorreitern.
Gewalt gegen Frauen in den Medien: Gefährliche Lücke
Eine empirische Studie analysiert Berichterstattung über Gewalt gegen
Frauen. Sie zeigt: Es dominieren Einzelfälle statt struktureller Probleme.
Abschiebung verfolgter Frauen: Keine Sicherheit, nirgends
Die Hamburger Ausländerbehörde hat eine Frau und ihr Kind aus einer
Schutzunterkunft für Frauen abgeschoben. Der Schutz der Einrichtung ist
dahin.
Femizide in Österreich: Erst pöbeln, dann morden
Der als „Bierwirt“ bekannte Mann hatte einst die Politikerin Sigrid Maurer
sexuell belästigt. Nun hat er mutmaßlich seine Noch-Partnerin getötet.
Austritt aus der Istanbul-Konvention: Des Herrschers Angst vor Frauen
Erdoğans Dekret zum Austritt aus der Istanbul-Konvention zog massive
Proteste von Frauen nach sich. Wovor fürchtet sich der türkische Präsident?
Häusliche Gewalt in Pandemiezeiten: Gewaltiges Ausmaß
Die häusliche Gewalt im Lockdown nimmt zu, die Fälle werden schwerer, sagt
die Gewaltschutzambulanz der Charité.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.