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# taz.de -- Opferschutzbeauftragter über seinen Job: „Viele Opfer erzählen …
> Thomas Pfleiderer ist Opferschutzbeauftragter in Niedersachsen. Ein
> Gespräch über Gewalterfahrungen und empathische Richter*innen.
Bild: Hatte als Staatsanwalt öfter Kontakt zu Opfern: Thomas Pfleiderer
taz: Herr Pfleiderer, waren Sie selbst schon einmal Opfer?
Thomas Pfleiderer: Ja, schon mehrfach. Als junger Mann bin ich mal
verdroschen worden und weiß, wie weh das tut. Einmal wurde bei uns
eingebrochen, das hängt mir und besonders meiner Frau immer noch nach. Vor
einigen Jahren wurde ich von Neonazis gestalkt, das war sehr unangenehm vor
allem für meine Familie. Ich weiß, was so alles passieren kann. Das war
aber nicht ausschlaggebend für meine Entscheidung, Opferschutzbeauftragter
zu werden.
Sondern?
Als Staatsanwalt hatte ich oft Kontakt mit Opfern. Einmal ermittelte ich
gegen zwei Männer, die einen Uhrmacher ermordet und ausgeraubt hatten. Ich
fragte mich: Wer kümmert sich eigentlich um die Witwe? Sie hatte ihn
schließlich am Tatort gefunden, das war sehr grausig.
Es gibt Opferschutz-Organisationen wie den „Weißen Ring“. Warum braucht es
da noch Opferschutzbeauftragte?
Wir sind zentraler Anlaufpunkt bei Straftaten. Meine Kolleginnen sind am
Telefon für die Menschen da und vermitteln sie an Organisationen, die dann
helfen. Wir wollen so bekannt sein, dass man zuerst die Polizei anruft,
wenn man Opfer einer Straftat geworden ist, und danach ruft man uns an.
Was macht ein*e Opferschutzbeauftragte*r?
Wir wurden in den Bundesländern eingesetzt, nachdem die Versorgung der
Opfer nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz nicht gut
gelaufen war. Einer unserer Aufträge ist es, dass bei solchen
Großschadensereignissen schnell psychologische Unterstützung und praktische
Hilfen zur Verfügung stehen. Dafür habe ich Strukturen und einen
Notfallplan erstellt. Außerdem überprüfen wir Hilfsangebote, die in
Gesetzen und Verordnungen stehen. Wenn man nachfragt, gibt es zum Teil
Verbesserungspotenzial. Wir machen uns stark für die Versorgung durch
Trauma-Ambulanzen und für psychosoziale Prozessbegleitung, damit Opfer, die
vor Gericht aussagen, in dieser schwierigen Situation nicht allein sind.
Außerdem vernetzen wir Hilfsorganisationen, oft kennen sie sich nämlich
untereinander gar nicht.
Wann ist jemand ein Opfer?
Vor dem Strafgesetzbuch kennen wir den Opferbegriff nicht. Das
Strafgesetzbuch spricht von „Verletzten“, das wäre der Widerpart einer
Straftat. Opfer ist man also, wenn man durch eine Straftat zu Schaden
kommt. Folglich sind wir beispielsweise bei Naturkatastrophen nicht
zuständig, dann kommt der Katastrophenschutz ins Spiel.
Welche sind die häufigsten Delikte?
Nach dem letzten Jahresbericht der Stiftung Opferhilfe Niedersachsen suchen
die weitaus meisten Menschen Hilfe nach Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung (41 Prozent), und ein Drittel der Hilfesuchenden wurde
körperlich angegriffen beziehungsweise verletzt.
Gibt es eine hohe Dunkelziffer?
Ja, denn viele Opfer verhalten sich nicht logisch. Ihnen wurde Schmerz
zugefügt, aber sie erstatten keine Anzeige. Sie erzählen noch nicht einmal
jemandem, was passiert ist. Sie schämen sich. Dabei sollten sich ja nicht
die Opfer schämen, sondern die Täter.
Was ist daran problematisch, wenn Opfer keine Anzeige erstatten?
Sie tragen das Geschehene mit sich herum und glauben, keine Hilfe zu
brauchen. Manchmal kommen Menschen nach 20 Jahren und schildern ein
Verbrechen, das sie nie angezeigt haben. Sie haben nach so langer Zeit
psychische Probleme oder sogar eine posttraumatische Belastungsstörung
bekommen. Das Problem: Es ist schwierig, dem noch auf den Grund zu gehen,
ein Prozess nach so langer Zeit hat selten Erfolg. Doch häufig erhalten
Opfer keine Entschädigung, wenn im Strafverfahren nicht die Tat
festgestellt wurde.
Wer entschädigt denn die Opfer?
Nach dem Opferentschädigungsrecht zahlen die Sozialsysteme Opfern von
Gewalttaten oder Hinterbliebenen von Todesopfern medizinische Hilfsmittel,
Entschädigungen und Fürsorgeleistungen. Sie bekommen beispielsweise eine
Soforthilfe in einer Trauma-Ambulanz.
Wie wichtig ist Gerechtigkeit für den Verarbeitungsprozess?
Sie ist wichtig, ganz wichtig. Selbst wenn die Opfer mit dem Urteil unter
Umständen nicht einverstanden sind und es zu mild finden, haben sie die
Gewissheit: „Ich habe mir das nicht gefallen lassen“.
Müssten die Opfer vor Gericht gestärkt werden?
Wie es den Opfern geht, hängt ganz wesentlich vom Verhalten der Richter und
Richterinnen und der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ab. Sie sind dafür
aber nicht ausgebildet, im Jurastudium kommen diese Aspekte nicht vor. Wenn
auf dem Richterstuhl jemand mit wenig Empathie sitzt, ist das viel
schwieriger, als wenn eine Richterin sich fragt: Was muten wir dem Opfer
hier zu? Zum Beispiel wird bei Sexualdelikten im Gerichtssaal über Dinge
gesprochen, die würden Sie noch nicht einmal Ihrem Partner erzählen.
Wie könnte das verbessert werden?
Wir befürworten Fortbildungen und dass es an allen Gerichten spezielle
Vernehmungszimmer für Kinder und Jugendliche gibt, wie sie größere Gerichte
heute schon haben. Diese sind kindgerecht eingerichtet und mit Kameras
ausgestattet. Speziell ausgebildete Richterinnen und Richter vernehmen die
Kinder, und die Aufnahme wird in ein anderes Zimmer übertragen. Sie wird
auch aufgezeichnet, damit das Kind im besten Falle nicht noch einmal
vernommen werden braucht. Ich kenne einen Fall, da wurde ein Kind 19 Mal
vernommen – entsetzlich!
Lassen sich durch Prävention Verbrechen verhindern?
Prävention kann viel bewirken. Der Präventionsrat Hildesheim zum Beispiel
hat dafür gesorgt, dass dunkle Ecken in der Stadt besser ausgeleuchtet
werden. Polizisten klären Rentner auf, wie sie sich vor Betrügern schützen
können, und Sprayer, die erwischt werden, müssen als Teil der
Wiedergutmachung mit einem Malermeister die Graffiti überstreichen. Das hat
dazu geführt, dass deutlich weniger illegal gesprayt wird.
Was kann die Gesellschaft tun, um Betroffenen zu helfen?
Wenn man in seinem Umfeld mitbekommt, dass jemand Opfer einer Straftat
geworden ist, ist es wichtig, auf ihn oder sie aktiv zuzugehen und Hilfe
anzubieten. Opfer einer schweren Straftat zu werden, ist mit das
Schlimmste, was einem im Leben passieren kann. Und es kann jeden treffen.
Deshalb ist der Opferschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
12 Jul 2021
## AUTOREN
Friederike Grabitz
## TAGS
Opferberatung
Opferschutz
Opfer
Niedersachsen
Kommunalpolitik
Gericht
Schwerpunkt #metoo
Stalking
Schwerpunkt Rassismus
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