| # taz.de -- Begleitung im Prozess: Bei den Opfern kommt sie nicht an | |
| > Psychosoziale Beratung bei Gerichtsverfahren wird bislang noch kaum in | |
| > Anspruch genommen. Rot-Grün-Rot in Bremen will das ändern. | |
| Bild: Schicksal im Aktenstapel: Ein Prozess ist häufig eine große Belastung f… | |
| Bremen taz | 1.100 Euro Honorar für einen anspruchsvollen Job, der auch mal | |
| über vier Jahre hinweg Arbeit machen kann – und bestenfalls eben nur so | |
| drei Wochen lang? Klingt unattraktiv. Schließlich muss ja auch studiert | |
| haben, wer psychosoziale Prozessbegleiter:in werden will, außerdem | |
| über zwei Jahre Berufserfahrung verfügen und zudem in eine neunmonatige | |
| Zusatzausbildung investieren. „Ich fühle mich wie eine Reinigungskraft | |
| bezahlt“, sagt Sandra Koschel, die diesen Job trotzdem schon seit 2017 | |
| macht. | |
| Damals wurde er hierzulande per Gesetz ganz neu geschaffen – doch noch | |
| immer ist er weithin unbekannt. Die [1][psychosoziale Prozessbegleitung] | |
| soll Opfern schwerer Straftaten, die nicht selten traumatisiert sind, durch | |
| den Gerichtsprozess helfen. Es geht dabei nicht um Rechtsberatung, nicht um | |
| Therapie und auch nicht um die Aufarbeitung des Erlebten – sondern darum, | |
| den Opfer während des oft jahrelang dauernden Gerichtsverfahrens etwas | |
| Sicherheit und Orientierung zu geben. | |
| „Ich soll und kann nicht über die Tat reden, aber das tut auch nichts zur | |
| Sache“, sagt Koschel. „Die meisten sind glücklich, nicht mehr darüber | |
| sprechen zu müssen.“ Es gehe mehr um die Sorgen und Nöte im Rahmen des | |
| Prozesses, um das Drumherum, also etwa die Auswirkungen auf die Arbeit, die | |
| eigene Beziehung oder das Privatleben. „Da bin ich eine Art Bodyguard“, | |
| sagt Koschel – und eine professionelle Beraterin. | |
| Die Kosten dafür zahlt der Staat – sofern die Prozessbegleiter:innen | |
| „beigeordnet“ werden, wie Juristen das nennen. Das wiederum passiert nur | |
| bei „schwerwiegenden“ Gewalttaten, wie Koschel erklärt – meist geht es d… | |
| um sexualisierte Gewalt, aber auch mal um versuchten Totschlag. Stalking | |
| oder ein Raubüberfall reichen in der Regel als Grund nicht aus, auch | |
| häusliche Gewalt nicht, selbst wenn es um lang andauernde Taten geht, um | |
| Knochenbrüche und Platzwunden. | |
| ## Akzeptanz und Bekanntheit sollen steigen | |
| Die 37-jährige Koschel, eine gelernte Sozialarbeiterin, ist eine von | |
| insgesamt sechs meist freiberuflichen Prozessbegleiterinnen in Bremen – von | |
| denen de facto aber nur drei Arbeit haben. Und das auch nur gelegentlich: | |
| 2018 gab es im Land Bremen 22 Beiordnungen, 2019 waren es nur noch 14, im | |
| vergangenen Jahr 15. | |
| Zum Vergleich: 2020 listet die [2][polizeiliche Kriminalstatistik] allein | |
| für Bremen 110 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung auf, dazu | |
| weitere 122 von sexuellen Missbrauch an Kindern und 35 Mord- und | |
| Totschlagsversuche. | |
| „Ich könnte von der Arbeit nicht leben“, sagt Koschel – und dass sie | |
| derzeit „ganz wenig“ Aufträge habe. Auch ihre Kollegin Jana Rump berichtet | |
| nur von etwa fünf bis sechs Anfragen im Jahr. „Wir brauchen mehr | |
| Bekanntheit, etwa bei Anwälten, Gerichten oder der Polizei“, sagt die | |
| Psychologin, die sich nur um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene | |
| kümmert. In ihren Fällen ging es bisher ausschließlich um Sexualdelikte. | |
| Die 35-Jährige ist beim [3][Bremer Kinderschutzbund] angestellt – nur so | |
| kann sie diese Arbeit überhaupt leisten. | |
| SPD, Grüne und Linke in Bremen wollen die psychosoziale Prozessbegleitung | |
| nun „vereinfachen, ausbauen und institutionalisieren“, wie es in einem | |
| Antrag der drei Parlamentsfraktionen an den eignen Senat heißt. „Es ist | |
| dringend notwendig, die Bekanntheit und Akzeptanz dieses wertvollen | |
| Instruments weiter zu steigern und um weitere Angebote und Maßnahmen zu | |
| ergänzen“, heißt es darin, und dass die Unterstützung von Opfern ein | |
| „zentraler Bestandteil der Landespolitik“ sei. | |
| ## Bedarf muss nachgewiesen werden | |
| Zunächst einmal müssen die Opfer dem Staat aber beweisen, dass sie auch | |
| wirklich richtig unter der Tat leiden: „Das Problem ist: Die erwachsenen | |
| Opfer müssen den Bedarf einer psychosozialen Prozessbegleitung erst | |
| nachweisen“, sagt Rump. Denn nur Kinder und Jugendliche bekommen auf Antrag | |
| immer eine Prozessbegleitung zugestanden. Für Besuche zu Hause oder am | |
| Arbeitsplatz des Opfers ist ohnehin kein Geld da; wer begleitet werden | |
| will, muss schon selbst in Koschels Praxis oder in die Beratungsstelle des | |
| Kinderschutzbundes kommen. | |
| Für eine Supervision kommt der Staat nicht auf. Auch Fortbildungen für die | |
| Prozessbegleiter:innen sind im Budget nicht vorgesehen. Das sieht 520 | |
| Euro Honorar für das Ermittlungsverfahren vor, 370 Euro für den | |
| erstinstanzlichen Prozess, weitere 210 Euro für die Zeit nach dessen | |
| Abschluss – ganz egal, wie lange die Verfahren am Ende dauern. | |
| In Bremen beginnt gerade eine neue Ausbildung an der Hochschule für | |
| öffentliche Verwaltung, 17 Plätze kosten dort je 1.700 Euro. Ob da nicht | |
| vollkommen über Bedarf hinaus ausgebildet wird? „Wir brauchen mehr | |
| psychosoziale Prozessbegleiter:innen“, sagt Rump – vor allem solche, die | |
| bei freien Trägern wirtschaftlich abgesichert und dort auch vernetzt sind. | |
| „Es ist wichtig, dass diejenigen, die das anbieten, möglichst divers sind, | |
| was Herkunft oder Geschlecht angeht.“ Bisher arbeiten in Bremen nur Frauen | |
| in diesem Beruf. | |
| 13 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.justiz.bremen.de/opferschutz/psychosoziale-prozessbegleitung-18… | |
| [2] https://www.inneres.bremen.de/dokumente/pks-2496 | |
| [3] https://www.dksb-bremen.de/startseite/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Zier | |
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