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# taz.de -- Silvesternacht in Köln: Deutschland postcolognial
> Die Übergriffe haben in Teilen der Bevölkerung für Verunsicherung gesorgt
> – und alte Debatten neu angestoßen. Vier Beispiele.
Bild: Der Kölner Dom im Abendland, Morgenland, Deutschland?!
Die deutsche Frau
Nach der Silvesternacht erscheinen Focus und Süddeutsche Zeitung mit
[1][eindeutigen] Titelseiten: Schwarze Hände, die nach weißen Frauen
greifen. Wenige Tage nach Köln hat das Thema sexualisierte Gewalt eine
neues diskursives Gewand – bisher als „Identitätspolitik“ linker
akademischer Milieus kaum beachtet, lässt es sich nun auch für Kräfte
rechts der Mitte verpacken: in Rassismus, oder, codiert, als Debatte über
„patriarchale Kulturen“.
Die Schablone: Der schutzlosen weißen Frau steht der aggressive
„[2][Nordafrikaner]“ gegenüber – ein Begriff, der als vermeintlicher
Phänotypus in Köln seinen Anfang nimmt. Exfamilienministerin Kristina
Schröder (CDU) [3][twittert] wenige Tage nach den Ereignissen, es sei Zeit,
sich mit „gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen in der muslimischen
Kultur“ auseinanderzusetzen. Die Antifeministin Birgit Kelle [4][fragt], wo
denn der „#Aufschrei“ bleibe.
Einige Feministinnen und Migrantenaktivistinnen versuchen, dem Verquicken
von Sexismus und „Kultur“ unter dem Hashtag #ausnahmslos entgegenzusetzen:
Sexualisierte Gewalt gegen Frauen sei ein Problem jeder Gesellschaft und
dürfte nicht nur dann thematisiert werden, [5][„wenn die Täter die
vermeintlich ‚anderen‘ sind“]. Aber die Hinweise auf Männermobs beim
[6][Oktoberfest] und anderen Volksfesten fallen nicht auf fruchtbaren
Boden. Im Gegenteil, wer sie vorbringt, muss sich Relativierung vorwerfen
lassen.
Indes wird mit der Bedrohung „von außen“ sexuelle Gewalt zum dringlichen
Problem. Keine Woche nach Köln haben sich in der Regierung sämtliche
Blockaden gegen ein schärferes Sexualstrafrecht [7][aufgelöst]. Im Juli
beschließt der Bundestag die Reform [8][im Paket] mit
Abschiebeerleichterungen für straffällige Ausländer. Spätestens hier ist
klar: Im Diskurs der Mitte sind die Themen sexuelle Gewalt und Einwanderung
kaum noch zu trennen.
Ein Revival der „Leitkultur“
Mit dem Reizwort „Leitkultur“ hatte sich im Jahr 2000 CDU-Politiker
[9][Friedrich Merz] ins Abseits begeben, danach war es lange still um die
Parole, mit der meist ein einfacher, greifbarer Wertekonsens unter weißen
Deutschen gemeint ist. Nach den Kölner Ereignissen aber zogen plötzlich
nicht nur die CSU, sondern auch [10][Feuilletonisten] den Begriff wieder
hervor.
Während man in Bayern gleich eine Charta schreiben will, wünscht sich die
FAZ erst einmal eine Verständigung über [11][„unsere eigenen Werte“]. Im
Laufe des Jahres 2016 wird diese Idee, wenn schon nicht in Form einer
Verpflichtung, so wenigstens in der Variante des „Leitfadens“ vielfach
umgesetzt. [12][Leitkultur-Comis] und [13][Gebrauchsanweisungen] sollen mit
einfachen Worten oder Bebilderungen erklären, wie man in Deutschland
zusammenlebt. Als es wärmer wird, kommen vielerorts die
[14][Hallenbadregeln] dazu. Deutschland gibt sich damit en passant einen
neuen Gesellschaftsvertrag, das ist erstaunlich. Leider richten sich die
Anweisungen nur an „die Anderen“. Von der Mehrheitsgesellschaft wird
angenommen, dass sie die Regeln („Grüßen, nicht Grapschen“) bereits
verinnerlicht hat. Und noch etwas: Das Erstarken des Leitkultur-Begriffs
markiert die Niederlage der Multikulturalismusidee, die Bundeskanzlerin
Merkel ja bereits seit 2010 als [15][gescheitert] betrachtet.
Was also heißt es, wenn jetzt der [16][Innenminister] dazu aufruft, „unsere
Werte und Traditionen“ selbstbewusster zu vertreten, wenn eine
[17][Ministerpräsidentin] die Leitkultur-Debatte wieder zum Markenkern der
CDU machen will? Was sind deutsche Grundwerte und wer bestimmt das? Wer
fällt am Ende hintüber? Denn „Leitkultur“ heißt normiertes Deutschtum, an
dem sich alle messen müssen, Selbstoptimierung und Leistungsethos inklusive
– und das wird nicht nur MigrantInnen schwerfallen.
„Ende der Willkommenskultur“
Als „Super-GAU für eine engagierte Flüchtlingspolitik“ in jedem Fall,
vielleicht sogar als „[18][Ende der Willkommenskultur]“ sieht
NDR-Kommentatorin Kristine Jansen schon am 9. Januar die Kölner
Silvesternacht. Die Zeit spricht vom „Kipppunkt“, nach dem die
Flüchtlingspolitik nur noch mit einem starken Rechtsstaat zu vermitteln
sei. Welt-Autor Ulli Kulke vergleicht Köln gar mit [19][Fukushima].
Die Kanzlerin, gewohnt uneindeutig, spricht bei der CDU-Jahresklausur im
Januar immerhin von einem „[20][Paukenschlag]“. Rückblickend verwendet
Innenminister Thomas de Maizière noch im Oktober das Wort „Wendepunkt“.
Aber „Willkommenskultur“, was war das noch mal?
Nach einer [21][Studie] der Hamburg Media School vom August dieses Jahres
war „Willkommenskultur“ ein von der Politik seit 2009 eingeführtes und
medial stark aufgegriffenes Narrativ, das die als bedrohlich wahrgenommene
Zuwanderung positiv umdeutet.
In der Zeit nach der Aussetzung der Dublin-Regelung im Spätsommer 2015
wurde das Wort vor allem mit ehrenamtlichen HelferInnen verbunden. Laut
Studie ist der Begriff „Willkommenskultur“ aber schon nach seinem Höhepunkt
im Herbst 2015 zu einem „Begriff des Dissenses“ geworden. War Köln der
entscheidende Wendepunkt? Nicht ganz.
Schon im Oktober 2015 wurde ein Gesetz über beschleunigte Asylverfahren
[22][beschlossen], Entwürfe für das Asylpaket II gab es da auch schon. Kurz
darauf wurde das Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge [23][wieder
angewendet]. Auch Pläne für ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gab es
bereits vor Köln. Alle politischen Prozesse, die die „Flüchtlingskrise“
heute geringer erscheinen lassen, sind schon 2015 angestoßen worden.
Wenn Köln also in Bezug auf Willkommenskultur etwas geändert hat, dann auf
der Ebene des Diskurses: als Bezugsgröße für Rechte und ZweiflerInnen und
als Legitimation für politische Maßnahmen.
Politisch korrekte Medien
Gab es Absprachen zwischen Medien, Polizei und Politik, Informationen über
die Ereignisse an der Domplatte zugunsten von Flüchtlingen zurückzuhalten?
In den Tagen nach Köln ist die Verunsicherung groß.
Die ZDF-Sendung „heute+“ [24][twittert]: „Wie sollte @heuteplus über die
Übergriffe in der Silvesternacht in Köln berichten?“ – und erntet Häme. …
öffentlich-rechtlicher Sender, der im Ernstfall nicht weiß, wie sein Job
geht? In den ersten Tagen von 2016 wird der „Lügenpresse“-Vorwurf – bis
dahin Parole einer marginalisierten rechten Bewegung – in abgeschwächter
Form zum Allgemeinplatz der Mitte. Die [25][FAZ] wirft am 6. Januar ARD und
ZDF vor, sie fegten Zeugenaussagen beiseite, nach denen die Täter
„nordafrikanischer“ Herkunft seien, und thematisierten „lieber ihr
Misstrauen gegenüber den eigenen Zuschauern“. Exinnenminister Hans-Peter
Friedrich spricht sogar von einem „[26][Schweigekartell]“. In der
[27][Zeit] heißt es am 14. Januar, Linke wollten „den Deutschen möglichst
wenige verstörende Tatsachen über Flüchtlinge zumuten“.
Aus Verunsicherung wird eine Legitimationskrise der Nachrichtenmedien.
Immer mehr MedienvertreterInnen äußern selbst grundlegende Zweifel an der
Art, wie berichtet wurde. Die WDR-Journalistin Claudia Zimmermann spricht
von einem „[28][Maulkorb]“, den man sich auferlege. Wolfgang Herles,
ehemaliger Leiter des ZDF-Studios in Bonn will etwas von
„[29][Anweisungen]“ wissen. Kurz darauf [30][rudert er zurück] – da ist …
Schlagwort schon im Umlauf. Dabei ist das Zurückhalten von Informationen,
wie die Herkunft von StraftäterInnen zwecks Minderheitenschutz, von jeher
gängige Praxis.
Der [31][Pressekodex] schreibt dies zum Verhindern von Stigmatisierung vor,
was bislang von den meisten JournalistInnen beachtet wurde. Inzwischen
steht das Prinzip jedoch immer wieder zur Debatte. Zuletzt bei der
Vergewaltigung und Ermordung einer Studentin in [32][Freiburg].
30 Dec 2016
## LINKS
[1] http://www.migazin.de/2016/01/12/nach-koeln-kritik-titelseiten-focus/
[2] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-01/koeln-nordafrikaner-k…
[3] https://twitter.com/schroeder_k/status/684113837545623552?lang=de
[4] http://www.focus.de/politik/experten/bkelle/schreckliche-taten-in-koeln-sex…
[5] http://www.spiegel.de/netzwelt/web/ausnahmslos-kampagne-von-feministinnen-n…
[6] https://www.welt.de/politik/deutschland/article150753781/Mob-ruft-zur-Jagd-…
[7] /Archiv-Suche/!5263352&s=sexualstrafrecht/
[8] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/sexualstrafrecht-nein-heisst-nein…
[9] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/leitkultur-merz-geht-in-die-offen…
[10] http://www.berliner-zeitung.de/kommentar-mit-hartem-vorgehen-gegen-die-tae…
[11] http://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/morgenecho/kommentare/csu-leitkult…
[12] http://www.swr.de/landesschau-aktuell/bw/suedbaden/integrationscomic-im-sc…
[13] https://www.welt.de/politik/deutschland/article150851488/Laecheln-bedeutet…
[14] http://www.sueddeutsche.de/leben/schwimmbadverbot-fuer-fluechtlinge-klare-…
[15] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/integration-merkel-erklaert-mult…
[16] http://www.tagesspiegel.de/politik/innenminister-de-maiziere-zu-koeln-silv…
[17] http://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/Kramp-Karrenbauer_…
[18] http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Uebergriffe-an-Silvester-Ende-der-Wi…
[19] http://blogs.faz.net/deus/2016/10/08/feminismus-und-rassismus-neues-ungema…
[20] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-01/koeln-cdu-basis-angela-merk…
[21] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/studie-wie-ueber-fluechtlinge…
[22] /Asylrechtsverschaerfung-im-Bundesrat/!5239482/
[23] /Archiv-Suche/!5247959&s=dublin+syrer/
[24] https://twitter.com/heuteplus/status/684106771816943617?lang=de
[25] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tv-kritik/ard-und-zdf-zu-den-…
[26] https://www.welt.de/politik/deutschland/article150686468/Ex-Minister-Fried…
[27] http://www.zeit.de/2016/03/sexismus-fluechtlinge-islamismus-araber-frauen
[28] http://www.rp-online.de/panorama/fernsehen/claudia-zimmermann-vom-wdr-wir-…
[29] http://uebermedien.de/1433/enthuellt-die-schriftlichen-anweisungen-von-obe…
[30] https://www.freitag.de/autoren/jaugstein/das-diktat-der-quote
[31] /Archiv-Suche/!5326216&s=straft%C3%A4ter+s%C3%A4chsische/
[32] /Archiv-Suche/!5360030&s=anne+fromm/
## AUTOREN
Peter Weissenburger
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