# taz.de -- 5 Jahre Kölner Silvesternacht: Eine Nacht mit Folgen | |
> Die Medien hätten aus falscher politischer Korrektheit nicht | |
> wahrheitsgemäß über die Belästigungen berichtet, hieß es nach dem | |
> Vorfall. Stimmt das? | |
Bild: Die Türme des Kölner Doms, der direkt neben dem Hauptbahnhof steht | |
Bedrängt, begrapscht, bestohlen: Es waren verstörende Berichte, die Frauen | |
Anfang Januar 2016 in den sozialen Medien veröffentlichten. Sie beschrieben | |
[1][die Nacht vom 31. Dezember 2015 auf den 1. Januar 2016 in und vor dem | |
Kölner Hauptbahnhof]. Ab dem Silvesternachmittag hatten sich dort rund | |
tausend junge Männer versammelt, „dem äußeren Erscheinungsbild nach […] | |
weit überwiegend dem nordafrikanischen/arabischen Raum zuzuordnen“, wie ein | |
parlamentarischer Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen | |
Landtags später feststellte. Viele Männer standen unter Alkohol- oder | |
Drogeneinfluss, waren krawallbereit und enthemmt. | |
Sie beklauten und schikanierten, meist in Kleingruppen, Passanten und | |
Feiernde. Und sie belästigten, ebenfalls in Gruppen, Hunderte Frauen | |
sexuell – auf einem zentralen Platz inmitten einer deutschen Großstadt, | |
unter den Augen einer personell unterbesetzten und heillos desorganisierten | |
Polizei, die ihre Bürgerinnen nicht schützen konnte. | |
„Staatsversagen“ war nicht der einzige Aufschrei, der diesem Jahreswechsel | |
folgte. Die Silvesternacht hat eine Debatte über das Zusammenleben in | |
pluralistischen Gesellschaften ausgelöst. Sie hat zu einer Änderung des | |
Sexualstrafrechts geführt und zur Einschränkung des Asylrechts. Sie ist | |
eine Zäsur, die die deutsche Migrationspolitik bis heute prägt. | |
In den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten auch Journalisten. Wo waren sie in | |
und nach der Kölner Silvesternacht? Informierten sie die Öffentlichkeit | |
zeitnah und wahrheitsgetreu? | |
Zwei Vorwürfe halten sich hartnäckig: Journalisten hätten [2][aus falsch | |
verstandener Political Correctness] die Herkunft der mutmaßlichen Täter | |
verschwiegen und damit ihre Informationspflicht verletzt. Der ehemalige | |
Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sagte, es gebe ein | |
„Schweigekartell“ und „Nachrichtensperren“, sobald es um Delikte von | |
Migranten und Flüchtlingen gehe. Andere warfen den Journalisten dagegen | |
gerade dies vor: über die Herkunft berichtet zu haben und damit zu | |
Diskriminierung beigetragen und gegen den Pressekodex verstoßen zu haben. | |
## Empirisch sind Vorwürfe nicht haltbar | |
Für meine medienwissenschaftliche Studie „Nafris, Normen, Nachrichten“, mit | |
der ich 2020 an der Ruhr-Universität Bochum promoviert wurde, habe ich mit | |
einer quantitativen Inhaltsanalyse 1.075 Zeitungsartikel über die Kölner | |
Silvesternacht ausgewertet. Die Texte sind zwischen Anfang Januar 2016 und | |
Ende März 2016 erschienen, in sechs überregionalen Tageszeitungen (Neues | |
Deutschland, taz, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die | |
Welt, Bild) und in fünf regionalen (Kölner Stadtanzeiger, Kölnische | |
Rundschau, Express, Rheinische Post, Westdeutsche Allgemeine Zeitung). | |
Empirisch sind die Vorwürfe nicht haltbar. Die Öffentlichkeit wurde früh | |
informiert. Die beiden Kölner Zeitungen Kölnische Rundschau und Express | |
etwa nannten die ethnische Herkunft der mutmaßlichen Täter am 2. Januar | |
2016, am ersten Erscheinungstag von Printmedien nach der Silvesternacht. | |
Online berichtete der Kölner Stadtanzeiger bereits am 1. Januar. | |
Die übrigen Zeitungen berichteten etwas verzögert, was einerseits an der | |
anfänglich unsachgemäßen Pressearbeit der Kölner Polizei lag. Diese hatte | |
die Übergriffe zunächst nicht bestätigt. Die Verzögerung lag außerdem an | |
der personellen Unterbesetzung der Redaktionen am Neujahrstag. | |
Dem Publikum wurden keine Informationen vorenthalten, auch nicht über die | |
mutmaßlichen Täter. Deren Herkunft, die von Augenzeuginnen und Augenzeugen | |
oft nur dem Aussehen nach beschrieben werden konnte, wurde in den Berichten | |
regelhaft erwähnt: In 84,4 Prozent der untersuchten Artikel wurde sie | |
genannt, und zwar weitgehend unabhängig von der Verbreitung und der | |
Ausrichtung der jeweiligen Zeitung. Am häufigsten genannt wurde die | |
tatsächliche oder vermutete ethnische Herkunft (61,8 Prozent), also zum | |
Beispiel „nordafrikanisch“ oder „arabisch“, gefolgt von der Herkunft ge… | |
dem Aufenthaltsstatus (52,5 Prozent), etwa „Flüchtling“, und der nationalen | |
Herkunft (26,8 Prozent). Der religiöse Hintergrund, etwa „muslimisch“, | |
spielte selten eine Rolle (9,7 Prozent). | |
Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Zeitungen mag es | |
überraschen, dass die Herkunft der mutmaßlichen Täter so einheitlich | |
benannt wurde. Betrachtet man aber die Handlungslogik der Journalisten, | |
überrascht das weniger. | |
## Kriterien für Informationen | |
Ich habe elf Journalistinnen und Journalisten der genannten Zeitungen | |
interviewt, die als Polizei-, Politik- und Lokalredakteure oder als | |
NRW-Korrespondenten intensiv über die Silvesternacht berichtet hatten. Nach | |
welchen Kriterien haben Sie Ihre Informationen ausgewählt? Welche | |
Überlegungen waren ausschlaggebend bei Ihrer Entscheidung, ob Sie die | |
Herkunft der mutmaßlichen Täter nannten oder nicht? | |
Übereinstimmend gaben die Befragten an, dass diese Abwägung jeweils im | |
Einzelfall und auf Grundlage journalistischer Standards erfolgt sei. Ihre | |
Rolle sahen die Journalisten vor allem darin, sorgfältig zu recherchieren, | |
sachlich zu informieren und Informationen vor ihrer Veröffentlichung auf | |
Richtigkeit und Wahrhaftigkeit zu prüfen. | |
Ebenso entscheidend seien journalistische Nachrichtenfaktoren gewesen: Im | |
Fall der Silvesternacht waren es vor allem die Dimension und die politische | |
Relevanz, die die Berichterstattung auslösten. Sowohl die Dimension als | |
auch die Relevanz leiteten die Befragten aus der Homogenität des Alters, | |
des Geschlechts und der Herkunft der mutmaßlichen Täter ab. Allein deswegen | |
sei die Nennung der Herkunft unverzichtbar gewesen. | |
Als dritten Standard ihrer Berichterstattung nannten die Journalisten | |
berufsethische Normen wie die Wahrung von Persönlichkeitsrechten, Fairness | |
und den Anspruch, niemanden vorzuverurteilen. Diese Normen stünden weder in | |
Konkurrenz noch im Widerspruch zu den anderen professionseigenen Regeln der | |
Berichterstattung. So sei etwa der Qualitätsanspruch nach Richtigkeit und | |
Wahrhaftigkeit in der Kriminalitätsberichterstattung nur dann erfüllt, wenn | |
sichergestellt sei, dass niemand, über den berichtet werde, vorverurteilt | |
oder diskriminiert werde, weil er einer Minderheit angehöre. Werde die | |
Unschuldsvermutung missachtet, verstoße das sowohl gegen moralische Normen | |
als auch gegen Qualitätsansprüche. Allein das Nennen der Herkunft einer | |
Person stelle aber keine Diskriminierung dar. | |
Gerade weil die Journalisten sich diesen Regeln vorbehaltlos verpflichtet | |
fühlten, richteten sie ihr Handeln an ihrer Professionslogik aus und nicht | |
an (tatsächlichen oder vermeintlichen) positiven oder negativen Folgen | |
ihres Handelns. | |
Die medienethische Debatte nach der Silvesternacht hatte Auswirkungen auf | |
die Branche. Der Presserat hat seine Leitlinien zur Herkunftsnennung von | |
Tätern geändert. Vorher hieß es im Pressekodex, Journalisten sollten – | |
ungeachtet der Richtigkeit der Information – regelhaft auf die Nennung der | |
Herkunft von Straftätern verzichten. Mittlerweile gilt, „wenn ein | |
begründetes öffentliches Interesse vorliegt“, dürfe die Herkunft | |
ausdrücklich genannt werden. | |
14 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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