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# taz.de -- Flüchtlinge aus Nordafrika: Niemand will sie haben
> Seit den Übergriffen in Köln sind Abschiebungen nach Nordafrika ein
> Lieblingsthema von Politikern. Der Fall Amri entfacht die Debatte neu.
Bild: In diesem Haus in Tunesien lebte der mutmaßliche Täter des Berliner Ter…
Die Argumentationskette geht so: In den Maghreb-Staaten herrsche weder
Krieg noch seien die Regime Diktaturen, deshalb bestehe kein Recht auf
Asyl. Und: Vor allem allein reisende junge Männer aus Nordafrika fielen
häufig durch Straftaten auf. Dies sagte etwa Nordrhein-Westfalens
Innenminister Ralf Jäger (SPD) im August. „Wer Willkommenskultur
missbraucht und hier sogar Straftaten begeht, muss schneller zurückgeführt
werden.“ [1][Doch die Heimatländer blockierten die Rückführung].
Stimmt das alles so?
Die offiziellen Zahlen zeichnen das Bild eines überschaubaren Problems: In
den ersten neun Monaten dieses Jahres stellten 3.139 Marokkaner, 2.699
Algerier und 698 Tunesier einen Asylantrag. Fast nie haben Schutzsuchende
aus dem Maghreb mit ihrem Asylbegehren Erfolg: Die Anerkennungsquote lag
zuletzt zwischen 0,9 Prozent für Menschen aus Tunesien und 3,3 Prozent für
Asylbeantragende aus Marokko.
Zwischen Januar 2010 und Oktober 2016 schob die Bundesrepublik insgesamt
339 Tunesier, 668 Marokkaner und 785 Algerier in ihr jeweiliges
Herkunftsland ab.
Am 31. Dezember des vergangenen Jahres lebten rund 72.000 Marokkaner in
Deutschland, davon 6.239 ohne Aufenthaltstitel – sie hätten also
abgeschoben werden sollen. Zum selben Stichtag lebten 30.696 Tunesier in
Deutschland, davon 2.053 ohne Aufenthaltstitel. Im Vergleich zu anderen
Herkunftsstaaten, vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten, sind das
geringe Größenordnungen. Dennoch sind die Maghreb-Staaten seit Köln ein
Politikum ersten Ranges.
## Die politische Symbolkraft
Vor allem die Union will Marokko, Algerien und Tunesien unbedingt auf die
Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ setzen. Zu mehr Abschiebungen würde
ein solcher Schritt allerdings nicht führen – auch ohne diesen Status
werden Anträge aus diesen Ländern fast immer abgelehnt. Es geht wohl eher
um politische Symbolkraft. Tatsächliche Folge wären allerdings
verschlechterte Lebensbedingungen für Menschen aus diesen drei Ländern: Wer
aus einem „sicheren Herkunftsland“ stammt, bekommt geringere
Sozialleistungen, muss in zentralen Aufnahmezentren bleiben, darf in der
Regel nicht arbeiten.
Das Vorhaben scheiterte bislang: Die Grünen wollten nicht mitmachen. Im
September wurde zudem bekannt, dass auch das Bundesamt für Asyl und
Migration (BAMF) die drei Staaten nicht für „sicher“ hält. In den
Herkunftsländerleitlinien des Amtes wird für Algerien „Verfolgung nicht
ausgeschlossen“; bei Marokko ist von „Berichten über Folter“ die Rede. In
Tunesien kommt das Bamf zu dem Schluss, dass zwar politische und religiöse
Verfolgung nicht stattfinde, Homosexuellen aber „schutzrelevante Verfolgung
durch die Behörden drohen“ könnte.
Die Klagen der Innenpolitiker stehen in Gegensatz dazu, dass Deutschland
mit Marokko schon seit 1998 und mit Algerien seit 2006 ein
Rückübernahmeabkommen unterhält. Die Bundesregierung allerdings ist mit
deren Umsetzung unzufrieden. Es dauere zu lange, Passersatzpapiere für
Ausreisepflichtige zu bekommen, sagte etwa Nordrhein-Westfalens
Innenminister Ralf Jäger (SPD). „Die Länder müssen verstehen: Die
Zusammenarbeit in Migrations- und Rückführungsfragen ist aus unserer Sicht
ein zentraler Faktor des bilateralen Verhältnisses. Unsere Bereitschaft zur
Zusammenarbeit in anderen Feldern hängt davon ab“, sagte
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im Januar 2016.
## Nach Deutschland wollen die wenigsten
Im April besuchte de Maizière deshalb alle drei Maghreb-Staaten – und kam
mit allerlei Zusagen zurück: Die Regierung in Rabat versprach, künftig
innerhalb von 45 Tagen zu antworten, wenn die deutschen Behörden
Fingerabdrücke zur Feststellung der Identität von ausreisepflichtigen
Flüchtlingen übermitteln. Auch Algerien gelobte, sich künftig in solchen
Dingen kooperativer zu zeigen. Mit Tunesien schließlich vereinbarte de
Maizière ein Pilotprojekt: Dabei sollten zunächst 20 Tunesier in ihr
Herkunftsland zurückgeführt werden, danach sollte eine weitere Vereinbarung
über „die regelmäßige Rückführung der Tunesier“ folgen, sagte der
Bundesinnenminister. Der Plan: Bis zu 25 Menschen sollen pro Flug in eigens
bereitgestellten Chartermaschinen zurückgebracht werden. Deutschland stelle
die begleitenden Polizisten und übernehme die Kosten. Tunesien versprach,
Botschaftsmitarbeiter abzustellen, die in den deutschen Asylheimen helfen
sollen, die Identität Abzuschiebender zu prüfen.
Die Route über das Mittelmeer ist Teil vieler Migrationsbiografien von
Marokkanern, Algeriern und Tunesiern. Nach Deutschland wollen die
wenigsten, sondern nach Italien, Frankreich und Spanien. Diese Länder
bemühen sich schon lange, der Einwanderung einen Riegel vorzuschieben:
Italien zahlte um die Jahrtausendwende mehrere hundert Millionen Dollar an
Tunesiens Diktator Ben Ali. Der stellte daraufhin „illegale Ausreise“ unter
Strafe, machte den Weg zur Küste dicht und nahm auch Transitmigranten aus
Italien zurück. Ähnlich lief es zwischen Marokko und Spanien.
Heute haben Marokko und Algerien Rückübernahmeabkommen mit Deutschland,
Spanien, Frankreich, Italien und Großbritannien, Tunesien immerhin mit
Italien und Frankreich. Doch wirklich mitwirken wollen die Länder bei
Abschiebungen oft nicht – zu wichtig ist Migration für ihre Wirtschaft.
Auch die EU ist am Thema dran. Sie will multilaterale Abschiebeabkommen,
die für die gesamte EU gelten sollen. Bei Algerien gibt es momentan dazu
keine Bereitschaft. Mit Marokko und Tunesien ist Brüssel einen Schritt
weiter: Mit beiden Ländern gibt es seit 2013 respektive 2014 eine
Mobilitätspartnerschaft. Diese sieht „Mobililitätserleichterungen“ für
bestimmte Gruppen vor, etwa Hochqualifizierte. Diese sollen Bestandteil
eines noch zu schließenden Visumerleichterungsabkommens sein. Darauf aber
will Brüssel sich nur einlassen, wenn die Länder auch der Abschiebung von
Drittstaatsangehörigen zustimmen. Genau das aber wollen sie nicht. Tunesien
wiederum stimmte nur zu, nachdem man sich auf eine stark verklausulierte
Formulierung geeinigt hatte, damit der wahre Inhalt des Abkommens sich
vielen in der Bevölkerung nicht erschließt. Dennoch ist das Abkommen heute,
fast drei Jahre später, noch nicht in Kraft.
Tunesien befürchtet, dieses Abkommen könnte die EU ermutigen, Flüchtlinge
und Migranten künftig nicht nur dorthin zurückzuführen, sondern
grundsätzlich dort auffangen zu lassen. Vorschläge für sogenannte
Auffanglager, in denen Flüchtlinge in Nordafrika Asyl beantragen und
gegebenenfalls auf ihre Umsiedlung nach Europa warten sollen, gibt es in
Europa immer wieder.
25 Dec 2016
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Christian Jakob
Lea Wagner
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